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MieterEcho 407 / Januar 2020

„Charakter eines digitalen Minijobs“

Interview mit dem Arbeitssoziologen Hans J. Pongratz

Anfang Dezember entschied das Landesarbeitsgericht München, dass Plattformarbeit keine abhängige Beschäftigung ist. Geklagt hatte ein „Mikrojobber“ , der über einen längeren Zeitraum Aufträge über eine Internetplattform eingeworben und damit einen Großteil seines Lebensunterhalts bestritten hatte. Er war der Auffassung, in einem unbefristeten Beschäftigungsverhältnis mit dem Internetunternehmen zu stehen. Das Gericht sah das anders.

                                
MieterEcho: Waren sie überrascht von der Entscheidung?
Hans J.Pongratz: Nicht wirklich. Es ist schwierig zu ermitteln, wie groß die Kontrolle über die Ausübung der Tätigkeit im Einzelfall ist, wenn die Erteilung des Auftrags über eine Internetplattform erfolgt. Es kommt stark auf die Art der Tätigkeit und die Rolle der Plattform an. Bei einem Essenslieferanten, einem so genannten Rider, dessen Arbeitsablauf direkt über die App strukturiert ist, könnte das anders aussehen. In Deutschland gibt es bisher nur wenig Rechtsprechung zu solchen Fällen. Da gibt es in Zukunft sicherlich weiteren Klärungsbedarf.                                   

Was genau ist mit Plattformarbeit gemeint? Es sind ja ganz verschiedene Begriffe in der Diskussion.                                       
Ja, und das ist ein Problem, weil in der öffentlichen Debatte oft Begriffe synonym verwendet werden für Arbeitsformen, die sich im Detail doch erheblich unterscheiden. So ist die Rede von Crowd-, App- oder plattformbasierter Arbeit. Als Oberbegriff ist international inzwischen Gig Economy verbreitet: Es wird der einzelne Gig, also der Auftritt bzw. die einzelne Leistung beauftragt und vergütet, wobei die Vermittlung dieser Tätigkeit über internetgestützte Plattformen bzw. Apps stattfindet, unabhängig davon, ob es sich nun um handwerkliche oder künstlerische Tätigkeiten handelt. Die wichtigste Unterscheidung scheint mir die zwischen ortsgebundener und ortsungebundener Tätigkeit zu sein, gerade auch mit Blick auf die Organisierung und Interessenvertretung der Arbeitskräfte.    

                          
Inwiefern?                                                   
Nun, es gibt Tätigkeiten, die müssen an einem bestimmten Ort erbracht werden, sie sind also ortsgebunden. Das gilt etwa für Handwerker/innen, Essenslieferant/innen oder Fahrdienste. Bei anderen Tätigkeiten ist es egal, wo Auftraggeber und Auftragnehmer sitzen und wo die Leistung erbracht wird. Das fertige Werk wird digital übermittelt, ob Text, Musikstück oder eine Grafik. Manchmal sind das ganz kleine Aufträge, etwa die Verschlagwortung eines Fotos, die nur wenige Sekunden dauert. Es kann aber auch um die Erstellung einer Broschüre für mehrere tausend Euro gehen. Bei der ortsunabhängigen Arbeit handelt es sich um Crowdworking im eigentlichen Sinne: Die Aufträge werden von internationalen Plattformen vermittelt und auch Auftraggeber und Auftragnehmer sitzen über den Globus verteilt. Bei der ortsgebundenen Arbeit ist eher der direkte persönliche Kontakt möglich. Hier laufen sich die Arbeitskräfte in den großen Städten über den Weg, sie können sich treffen und untereinander absprechen, wie etwa die Rider, die mit dem Fahrrad Essen ausliefern.                                       

Auch in Berlin gibt es eine Initiative der Kurierfahrer/innen. Aber wie sieht es im ortsungebundenen Bereich aus?                           
Da fällt mir die Plattform „Amazon Mechanical Turk“ als klassisches Beispiel ein. Die hatte zu Anfang kleine interne Aufträge von Amazon vergeben und sich später anderen Auftraggebern geöffnet. Die dort Tätigen – die sogenannten Turker – waren unzufrieden mit der Vermittlung von Jobs und mit der Zahlungsbereitschaft vieler Auftraggeber. Sie gründeten eine eigene Plattform – Turkopticon – wo sie umgekehrt die Auftraggeber bewertet haben. Dadurch konnten sie die unseriösen Anbieter kenntlich machen und tatsächlich eine gewisse Gegenmacht aufbauen. Diese Initiative hat aber bisher kaum Nachahmung gefunden.                                               

Sie haben vor gut 20 Jahren mit ihrem Kollegen Günter Voß den vieldiskutierten Begriff des „Arbeitskraftunternehmers“ geprägt. Sie beschrieben, wie Arbeitnehmer/innen zunehmend unternehmerisches Handeln verinnerlichen und sahen darin eine „neue Grundform der Ware Arbeitskraft“. Sind Plattformarbeiter/innen die perfekten Arbeitskraftunternehmer/innen oder haben wir es mit einer ganz
neuen „Grundform der Ware Arbeitskraft“ zu tun?                               
Weder noch. Mit dem Arbeitskraftunternehmer bezeichneten wir die Tendenz, dass auf einer gewissen Entwicklungsstufe des Kapitalismus bei hochqualifizierten Beschäftigten die Anforderung wächst, sich und die eigene Arbeit selbst zu managen. Das hat – so war unsere theoretische Annahme – eine verstärkte Selbstkontrolle und Selbstökonomisierung zur Folge und eine Art Verbetrieblichung der Lebensführung. Das alles setzt aber Freiheitsgrade und Gestaltungsmöglichkeiten voraus, die wir bei der Plattformarbeit selten vorfinden. Bei der Akquise der Aufträge haben Plattformarbeiter/innen einen gewissen Entscheidungsspielraum, aber für die Ausführung und Qualität der Arbeit sind meistens enge Grenzen gesetzt. Vor allem die kleineren Aufträge sind klar vorgegeben und bieten wenig Möglichkeit zu selbstbestimmtem Arbeiten. Da ist von einer neuen Grundform der Ware Arbeitskraft, wie wir sie beispielsweise bei Projektarbeit im Team beobachten, wenig zu erkennen. Häufig handelt es sich schlicht um eine Form prekärer Selbständigkeit mit der Gefahr, dass sich hier eine Art neues Tagelöhnertum herausbildet. Crowdworking hat oft den Charakter eines digitalen Minijobs.             

                          
Warum machen die Menschen diese Jobs überhaupt?                               
Die Gruppe der hier Arbeitenden ist sehr heterogen. Das gilt auch für das Qualifikationsniveau. Auf den Plattformen finden sich Studierende oder Rentner/innen ebenso wie, sagen wir, professionelle Designer/innen. In den allermeisten Fällen handelt es sich bei der Plattformarbeit aber um eine Nebentätigkeit. Das ist sehr wichtig: Die meisten Menschen, die solche Aufträge annehmen, wollen etwas hinzuverdienen.      

                         
Mit was für einer Größenordnung haben wir es zu tun?                               

Wir schätzen, dass sich in Deutschland etwa eine Million Menschen bei solchen Plattformen angemeldet haben, um das zumindest mal auszuprobieren. Ein paar Hunderttausend dürften wohl regelmäßig Aufträge annehmen, von denen aber nur ein Bruchteil wirklich davon leben kann. Der Rest macht das wie gesagt als Nebenjob, deshalb ist auch die organisierte Interessenvertretung so schwierig.          

     
Haben die Gewerkschaften hier geschlafen?                                   
Nein, sowohl Ver.di als auch die IG Metall stellen entsprechende Angebote bereit, etwa eine Ombudsstelle, konkrete Ansprechpersonen oder Internetseiten mit Informationen. Ein großer Mobilisierungseffekt ist aber nicht zu erkennen. Das liegt nicht daran, dass die Angebote schlecht wären, sondern dass die Plattformarbeit für die meisten Menschen eben den Charakter einer Nebentätigkeit hat, für die man sich nicht unbedingt organisiert und engagiert, wie man das vielleicht im Hauptberuf macht. Das Phänomen gibt es nicht nur bei der Plattformarbeit, wir kennen es auch aus dem Bereich der analogen Minijobs. Auch hier ist die Bereitschaft gering, sich für bessere Arbeitsbedingungen einzusetzen.

Mitunter ist von der Notwendigkeit eines „digitalen Klassenkampfs“ die Rede.                            Das ist eine sehr hoch gegriffene Kategorie, die ja eine Art Klassenbildung voraussetzt. Angesichts der heterogenen Zusammensetzung der Gig Economy wäre ich da vorsichtig. Allerdings bin ich schon der Meinung, dass wir wieder verstärkt über den Begriff der Ausbeutung nachdenken sollten. Nicht nur über direkte Ausbeutung im abhängigen Beschäftigungsverhältnis, sondern auch indirekt auf selbständiger Basis. Man muss fragen: Wo findet hier Ausbeutung statt? Welche Rolle spielen die Plattformen dabei, welche die Auftraggeber? Gerade ortsunabhängiges Crowdworking kennt auf einem globalen Markt keine Untergrenzen der Vergütung. Das erzeugt viel Druck auf alle, die davon leben wollen, und führt zu einem Unterbietungswettbewerb.

Wird die Plattformarbeit in Zukunft zunehmen?                                   
Sicher gibt es dafür weiteres Potential. Perspektivisch und auf lange Sicht wäre vielleicht eine Größenordnung wie die der Leiharbeit denkbar. Kurz- und mittelfristig sollte man das Phänomen aber nicht überbewerten. Wichtig ist der Blick auf die Arbeitsverhältnisse insgesamt: Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeit nehmen in vielen Bereichen zu, die Plattformarbeit ist da aktuell eher noch ein Randgebiet. Für dieses generelle Problem müssen dringend Lösungen gefunden werden.

Vielen Dank für das Gespräch.   

                                       
Das Interview führte Philipp Mattern.


Hans J. Pongratz ist außerplanmäßiger Professor am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München.


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