Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 414 / Februar 2021

Beheimatung First – Wohnfähigkeit trotz Suchterkrankung

Interview mit Ulrich Davids

Das Wohnprojekt Nostitzstraße hat sich zur Aufgabe gemacht, obdachlosen Männern dauerhaft ein Zuhause zu geben. Die Einrichtung besteht bereits seit 22 Jahren und trotzt nun auch der Corona-Krise.

 

MieterEcho: Was sind die Aufgaben und Besonderheiten der Einrichtung in der Nostitzstraße?

Ulrich Davids: Wir waren bis Juni diesen Jahres bei der evangelischen Kirchengemeinde Heilig Kreuz angesiedelt, die das Haus auch betrieben hat. In einem zweijährigen Austausch mit der Gemeinde und unseren Mitarbeiter/innen wurde sich darauf verständigt, sich einem größeren Träger anzuschließen. Einerseits, um mehr für die Mitarbeiter/innen zu tun, andererseits, um einen größeren Träger im Hintergrund zu haben. Jetzt sind wir bei der „Neuen Chance“, also der Gebewo. Darüber sind wir glücklich und es gibt auch weiterhin eine Kooperation mit der Kirchengemeinde. 

Wir haben 46 Plätze, es gibt drei Doppelzimmer, ansonsten nur Einzelzimmer. Das Haus ist nach Wohngemeinschaften strukturiert und die Sozialarbeiter/innen sind jeweils für eine Etage zuständig. Auch ein Krankenpfleger und eine Pflegehelferin sind bei uns beschäftigt, sowie hauseigenes Reinigungspersonal, die Hausmeisterin, eine Verwaltungsfachkraft und der Bundesfreiwilligendienstler. Da wir 24 Stunden an 365 Tagen geöffnet sind, decken wir auch den Nachtdienst ab und arbeiten dort mit Kolleginnen und Kollegen auf Ehrenamtspauschale, sonst könnten wir diese Arbeit gar nicht leisten. 

 

Welche Personengruppen können im Wohnprojekt Unterkunft finden?

Die Männer kommen oft über andere Einrichtungen oder über die Bezirksämter, wir arbeiten berlinweit. Wir sind ein suchtakzeptierendes Haus und nehmen ausschließlich alkoholkranke Menschen auf. Da schauen manche verdutzt und fragen sich: „Was ist das denn?“ Aber das ist unser Konzept. Zudem hat, wer hier ankommt, neben dem jahrelangen Alkoholmissbrauch oft noch viele andere Krankheiten. 

Wir arbeiten sehr eng zusammen mit einer Hausarztpraxis, niedergelassenen Fachärzten im Bergmannkiez und zwei Krankenhäusern. Wenn jemand neu ist, versuchen wir, Vertrauen aufzubauen, um dann zu erfahren, wie ausgeprägt die Sucht ist, was getrunken wird, und welche anderen Suchtmittel genommen werden. Dann können wir einen gemeinsamen Weg zur Konsumreduktion finden. Bedingung ist, dass der Bewohner das auch möchte und kann. Wir zwingen niemanden, mit dem Alkohol aufzuhören. Unser Ansatz ist, mit dem Alkohol und mit den Bewohnern zu leben. Die Bewohner sind zwischen 30 und 80 Jahren alt. In den letzten zwei Jahren sind auch sehr viel jüngere Männer zu uns gekommen – vorher waren es eher Ältere ab 45 aufwärts. 

 

Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen Bewohnern und dem Team? Welche Besonderheiten gibt es?

Die Mitarbeiteranzahl ist schon sehr eng bemessen und wir könnten noch zusätzliche Kolleg/innen brauchen. Wir sind paritätisch besetzt und das wirkt sich sehr positiv auf die Bewohner aus, die dankbar dafür sind. Wir sind ein gutes Team, was auch die Arbeit mit unseren Bewohnern leichter macht. Dazu gehören die beiden festen Kolleginnen der Diakonie Südstern, die täglich vor Ort sind und die Bewohner mit einem Pflegegrad versorgen. An den Wochenenden gibt es noch Unterstützung von weiteren Mitarbeiter/innen der Diakoniestation.

Generell fühlen wir uns als Gesamtteam, sonst würde das Haus gar nicht zu betreiben sein. Wir kümmern uns um alle Belange der Männer, wenn es möglich ist mit ihnen, oder wir versuchen, es direkt hinzubekommen – sei es Krankenkasse, Jobcenter, Arbeitsamt oder Polizei. Wenn sie ihre feste Meldeadresse bei uns haben, trudeln oftmals Briefe ein, die nicht so angenehm sind. Das versuchen wir dann gemeinsam mit den Männern zu regeln. 

Die Freizeit gestalten wir auch zusammen, feiern Feste – auch kirchliche – aber auch Sommerfeste, führen Skat- und Schachturniere durch oder machen Ausflüge mit dem Schiff und in den Zoo oder Tierpark.

Das Besondere bei uns ist auch, dass es die Möglichkeit gibt, im Haus zu sterben. Es gibt eine Sterbebegleitungs-Gruppe. Es wird mit den Krankenhäusern und Ärzten abgesprochen, dass – wenn aus medizinischer Sicht machbar – die Männer auch bei uns begleitet ihre letzten Lebenstage verbringen können. Wir arbeiten dabei mit Palliativärzten zusammen, die dann ins Haus kommen. 

Wenn die Männer bei uns sterben, bekommen Sie auch einen Trauergottesdienst und werden im Grab der vielen Namen beigesetzt. Wir haben zwei Grabstellen gekauft bei der Kirchengemeinde, dort steht dann auch ihr Name – das ist nicht anonym. 

 

Wie ist der Alltag strukturiert?

Im alltäglichen Leben haben wir einen Rhythmus, den die Männer auch brauchen. Es gibt Frühstück morgens um 8 Uhr, Mittagessen ist 11:30 bis 13 Uhr. Die wichtigste Zeit ist 13 Uhr, da ist Taschengeld-Ausgabe. Davon können die Männer kaufen, was sie möchten. Zigaretten, natürlich Alkohol, oder auch Lebensmittel. Denn für das Abendbrot muss jeder selber sorgen. Die Zimmer sind eingerichtet mit Bett, Schrank, Stühlen, Fernseher und Kühlschrank. In jeder WG gibt es auch je eine kleine Küche. Die Bewohner können sich also eine warme Mahlzeit kochen. Weiterhin teilen sie sich zwei Toiletten und eine Dusche, das funktioniert recht gut. 

Natürlich haben wir auch eine Hausordnung, die klarstellt: Gewalt kann mit einem Rauswurf enden. Auch verbale Gewalt und Sexismus werden nicht geduldet. Ich bin jetzt seit sieben Jahren in dem Haus und wir haben erst vier oder fünf Männer des Hauses verweisen müssen, weil es nicht funktioniert hat. Ansonsten ist es bei uns eigentlich fast gewaltfrei. Ja gut, je nach Alkoholkonsum ist es manchmal etwas lauter und heftiger, aber das kriegen wir ganz gut in den Griff. 

 

Inwieweit beeinflusst die Pandemie das Leben in der Nostitzstraße?

Anfang des Jahres, als die erste Corona-Phase kam, da wollten wir uns für den Fall einer Corona-Infektion vorbereiten. Von Senatsverwaltung, Bezirksamt und Gesundheitsamt kamen nur wenige Informationen. Weil wir Druck gemacht haben, hat sich das ein paar Wochen später geändert. In einem Gespräch mit dem Gesundheitsamt hier im Haus wurde ein Corona-Fahrplan entwickelt.

Es wurde ein Aufruf gestartet, uns nicht nur Masken und Desinfektionsmittel, sondern auch Alkohol zu spenden. Denn wir wussten ja nicht: Schließen die Spätis oder die Geschäfte zu bestimmten Zeiten? Und da die Männer auf Alkohol angewiesen sind, mussten wir wirklich um Schnaps- und Bierspenden bitten. Das hat richtig gut geklappt, es gab dann ein Lager mit Sprit und Bier. Das wurde Gott sei Dank nicht gebraucht, aber so konnten wir für die pflegebedürftigen und bettlägerigen Männer, die sich den Alkohol nicht mehr selber kaufen können, etwas entnehmen und mussten für ein paar Monate weniger einkaufen.

Einige unserer Bewohner müssen wir regelmäßig anhalten, Masken zu tragen, sie leiden unter Korsakow, eine durch Alkoholismus verursachte Krankheit, die bei vielen eine Gedächtnisstörung hervorruft. Die Essenszeiten wurden verändert, auch die Anzahl der Bewohner, die zum Essen kommen. Es wird desinfiziert von oben bis unten jeden Tag, die Bäder und Toiletten werden nun mehrmals täglich gereinigt. 

Es gibt derzeit ein Besuchsverbot. Zuvor konnten die Männer Besuch empfangen und der konnte in Absprache mit uns übernachten. Dies ist jetzt eingeschränkt und darunter leiden viele, das merkt man. 

Außerdem gehen sie auch nicht mehr so oft raus, sie verziehen sich zurzeit oft in ihre Zimmer. Wir gehen öfter auf die Etagen, um miteinander zu sprechen – der Gemeinschaftsraum wird weniger genutzt. Es werden noch alle erreicht, aber wir müssen schauen, welche psychischen Auswirkungen das Andauern der Corona-Krise noch haben kann. 

Jetzt in der zweiten Phase von Corona fühlen wir uns auch wieder allein gelassen: Was ist mit den Tests? Wir haben viele Vorerkrankte bei uns. Für Neuaufnahmen bedarf es eines negativen Tests. Die Wohnhilfe der Bezirksämter wusste aber zunächst nicht, dass sie sich für Tests an die Gesundheitsämter wenden kann. Ich habe immer noch meine Zweifel, ob das jetzt richtig in Fahrt kommt, auch wenn kundgetan wurde, es könnten jetzt Schnelltests gemacht werden. Letztere habe ich zwar beantragt, bis heute aber noch keine Antwort erhalten.

Bisher ist der Kelch an uns vorbeigegangen, wir haben schon einige Tests über die Hausarztpraxis machen lassen, die waren Gott sei Dank negativ. Aber jeden Morgen, wenn ich in die Einrichtung komme und die Kollegen sagen „Alles gut!“, atme ich auf.  

 

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Matthias Coers. 

 

Ulrich Davids ist Sozialpädagoge und leitet das Wohn- und Beheimatungsprojekt Nostitzstraße.


MieterEcho 414 / Februar 2021

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