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MieterEcho 406 / Dezember 2019

TüBus umsonst

Das Ringen um einen kostenlosen öffentlichen Nahverkehr in Tübingen

Von Siegfried Gack   

Die Tübinger Gruppe ZAK³ (Gruppe gegen Kapitalismus, Krieg und Kohlendioxid) fordert seit 2008 einen Nulltarif im Stadtverkehr. Dass ein kostenloser öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV) positive Effekte für das Stadtklima, die Mobilität der ärmeren Bevölkerungsteile sowie für das Gewerbe hat, zeigen ein Modellversuch sowie Beispiele aus anderen europäischen Städten.

Die Gruppe ZAK³ begründet ihre Kampagne mit den Argumenten: „Ein Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr hätte einen überdurchschnittlichen Nutzen für Arme, für Familien mit Kindern etc. Das würde ein Stückchen Umverteilung von oben nach unten bedeuten (...), gleichzeitig könnte ein Nulltarif dazu beitragen, dass mehr Menschen das private Auto stehen lassen und auf den Stadtbus umsteigen. Diese Form von ‚Verzicht‘ brächte einen Gewinn an Lebensqualität für alle (...), eine wirksame Reduzierung des Autoverkehrs würde sehr viel (...) CO2 einsparen.“ Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr ist so ein „wirksamer Beitrag zum Klimaschutz und gegen soziale Ausgrenzung.“ Dieser Ansatz hat auch nach zehn Jahren keinerlei Bedeutung verloren.
Die Debatten über die Finanzierung (in Tübingen ca. 15 Millionen Euro pro Jahr) verlaufen nach wie vor sehr heftig. Beim Umlagekonzept „Bürgerticket“, zu dem immer noch ein Landesgesetz fehlt, hätten die Nutzer/innen des ÖPNV deutlich geringere Kosten. Allerdings wollten notorische Auto- und Radfahrer/innen nicht solidarisch sein, andere sahen darin eine unsoziale Kopfsteuer. Der Vorschlag: „Wer viel hat, zahlt viel, wer wenig hat, zahlt wenig und wer gar nichts hat, zahlt nichts“ wurde mit bürokratischen Argumenten verworfen. Da es sich abzeichnete, dass die grün-rote sowie die grün-schwarze Landesregierung kein „Bürgerticket-Gesetz“ liefern würde, machte der grüne Oberbürgermeister Boris Palmer den Vorschlag, die Ticketfreiheit über die Erhöhung der Gewerbe- und Grundsteuer zu finanzieren. Jetzt schlugen die Wogen der Empörung aus unterschiedlichen Gründen erst recht hoch. Natürlich würde die Erhöhung der Grundsteuer an die Mieter/innen weitergereicht. Trotzdem wäre diese Lösung sozial gerechter als die „Kopfsteuer“. Mieter/innen, die den ÖPNV nutzen, würden trotzdem Kosten sparen. Eigentümer/innen in den besseren Wohnlagen würden den ÖPNV sponsern. Dass Gewerbetreibende ab zehn Beschäftigten sich an den Kosten des ÖPNV beteiligen, ist in Frankreich normal. Zu einer Deindustrialisierung von Regionen hat das nicht geführt. Die Aufregung in Tübingen war aber sowieso unnötig, da selbst die größte Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen den Vorschlag ablehnte.
                           
Samstags umsonst Bus fahren
Aber die jahrelangen Bemühungen verschiedenster Initiativen zu kostenlosem Nahverkehr in Berlin, Hamburg, Wuppertal, Tübingen, Erfurt und anderen haben anscheinend Wirkung gezeigt. Die Bundesregierung hat im Februar 2018 angesichts einer drohenden Klage der EU-Kommission kostenlosen Nahverkehr ins Spiel gebracht, um Diesel-Fahrverbote zu vermeiden.
Nachdem keine der vom Bund dafür vorgeschlagenen Modellstädte (Bonn, Essen, Mannheim, Reutlingen und Herrenberg) die Effekte eines kostenlosen ÖPNV erproben wollten, baten Tübingen und Erfurt die Bundesregierung um Aufnahme in das Projekt, denn es lägen fertige Konzepte für einen Nulltarif vor. Beide Städte erhielten Absagen.
Daraufhin hat der Tübinger Gemeinderat im April 2018 auf Antrag der SPD-Fraktion fast einstimmig beschlossen (mit einer Enthaltung der CDU), beim Bundesumweltministerium finanzielle Unterstützung für einen Modellversuch „Kostenreduzierter/Kostenfreier Nahverkehr“ zu beantragen. Dabei gab es zwei Varianten: Zum einen einen Nulltariv für alle Fahrgäste, alternativ dazu eine Absenkung aller Tarife um 50%. Außerdem würde ein durchgehender Nulltarif für Inhaber/innen der KreisBonusCard Tübingen (Sozialticket) gelten sowie nach 19 Uhr und am Wochenende ein Nulltarif für alle. Die Stadt bemüht sich für den Modellversuch zudem um eine Co-Förderung durch das Land Baden-Württemberg.
Vor dem Hintergrund, dass der Bund aus Klimaschutzgründen die Mittel für den ÖPNV aufgestockt hat, ist die Verwaltung in Tübingen vorsichtig optimistisch, dass der Antrag für den kostenfreien Nahverkehr positiv beschieden wird - zumal nach zwei Jahren Nulltarif an Samstagen (ca. 400.000 Euro aus dem laufenden Haushalt) in Tübingen (89.000 Einwohner/innen) sich die Daten über die Auswirkungen wie folgt zusammenfassen lassen:
1. Die Zahl der Fahrgäste im Stadtbus Tübingen ist sprunghaft angestiegen. Während im Busverkehr an allen anderen Tagen nur ein minimaler Zuwachs verzeichnet wurde, ist die Zahl der Einsteiger/innen an Samstagen im Winterhalbjahr 2018/19 mit rund 42.000 um ein Drittel höher als zwei Jahre zuvor mit rund 32.000 Einsteiger/innen. Durch den kostenfreien Nahverkehr sind demzufolge jeden Samstag 10.000 zusätzliche Fahrgäste im TüBus unterwegs.
2. Die Zahl der Pkw-Fahrten an Samstagen ging an der innerstädtischen Dauerzählstelle um 8% zurück.
3. Die Zahl der Radfahrten an den beiden innerstädtischen Dauerzählstellen stieg von 2017 auf 2018 um 3% an.
Der Probelauf in Tübingen gibt daher klare Hinweise darauf, dass kostenfreier Nahverkehr nicht dazu führt, dass der Radverkehr deutlich zurückgeht. Nach vorsichtiger Schätzung darf man annehmen, dass von den 10.000 neuen Busfahrgästen etwa 5.000 ihr Auto stehen ließen und stattdessen mit dem Bus gefahren sind, wie die Pressestelle der Stadt Tübingen mitteilte.
Auch der Tübinger Handel- und Gewerbeverein (HGV) zieht ein positives Fazit: „Die Frequenz am Samstag ist größer, viele Menschen kommen in die Stadt, eben weil es unkompliziert, umweltfreundlich und umsonst ist. Der kostenlose Samstagsbus belebt die Stadt und ist eine enorm sinnvolle Maßnahme zur Stärkung von Handel und Gastronomie.“
Dass Menschen mit geringem Einkommen wenigstens samstags nicht aus finanziellen Gründen auf den ÖPNV verzichten müssen, wurde bei der Analyse nicht erwähnt.                                   

Vorreiter Tallinn und Luxemburg           
Dass die oben genannten Effekte kein Zufall sind, wird auch in Tallinn (430.000 Einwohner/innen) deutlich. Die estnische Hauptstadt gilt als europäische Vorreiterin in Sachen kostenloser Nahverkehr. Seit 2013 können gemeldete Einwohner/innen umsonst fahren. Wie das ZDF im Februar 2018 berichtete, seien die Autos dadurch aus den verstopften Straßen der Innenstadt verschwunden und die Mobilität ärmerer Familien erhöht worden. Auch finanziell sei das Ganze tragfähig. Die wegfallenden Einnahmen aus dem Fahrkartenverkauf seien kompensiert worden durch zusätzliche Steuereinnahmen. Wegen des Nulltarifs haben Bürger/innen aus dem Umland ihren Wohnsitz umgemeldet. Oder bisher nicht angemeldete Tallinner/innen haben sich offiziell registriert. Unter dem Strich steht sogar ein Plus, das die Stadt dazu nutzt, den öffentlichen Nahverkehr weiter zu modernisieren.
Im Großherzogtum Luxemburg, einem der kleinsten europäischen Länder (603.000 Einwohner/innen), hat die Regierungskoalition aus der Demokratischen Partei, der Luxemburger Sozialistischen Arbeiterpartei und den Grünen die Einführung des kostenlosen ÖPNV zum 1. März 2020 beschlossen. Profitieren sollen nicht nur luxemburgische Staatsbürger/innen, sondern auch Grenzgänger/innen, zum Beispiel aus Deutschland. Mit dem Angebot sollen die Menschen dazu bewegt werden, ihre Gewohnheiten zu ändern und vom Privatauto auf den öffentlichen Verkehr mit Bahnen und Bussen umzusteigen. Dazu werden in Bahnen, Straßenbahnen und Bussysteme zwischen 2018 und 2023 rund 2,6 Milliarden Euro investiert. Den Bürger/innen soll künftig ein qualitativ hochstehender Service geboten werden mit einem optimierten regionalen (Elektro-) Autobusliniennetz und verbesserten Anschlüssen auch an Sonn- und Feiertagen. Die Einführung des landesweiten ÖPNV zum Nulltarif ist dem zuständigen Minister nach „das soziale Sahnehäubchen auf dem Kuchen der globalen Strategie für eine multimodale Offensive“.
Solche „Sahnehäubchen“ sind in der Bundesrepublik Deutschland, wo 75% der Abgeordneten des Bundestags gegen ein Tempolimit auf den Autobahnen stimmten, noch nicht zu erwarten. Da gilt es hartnäckig kleinere Brötchen zu backen. Was in Tübingen das Ringen um ein Pilotprojekt bedeutet, ist in der nordrhein-westfälischen Stadt Monheim am Rhein (44.000 Einwohner/innen) aktuell im Backofen: Ab April 2020 wird in Monheim der Nahverkehr für seine Bürger/innen kostenfrei sein.      
               

Siegfried Gack ist seit Jahrzehnten ohne Auto mobil und kommt mit dem ÖPNV, mit dem Fahrad oder zu Fuß fast überall hin. Im Februar 2015 berichtete er von den Erfahrungen in Tübingen bei einer Veranstaltung in der Berliner MieterGemeinschaft im Rahmen der Reihe „Was braucht der Mensch? Soziale Infrastruktur jetzt!“

Weitere Informationen:
http://zak-tuebingen.org/wp-content/uploads/2015/09/TueBus_Umsonst.pdf 


MieterEcho 406 / Dezember 2019

Schlüsselbegriffe: Tübingen,Bus,ÖPNV