Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 406 / Dezember 2019

Lob der Regenhose!

Trotz neuen Mobilitätsgesetzes fehlt Berlin noch viel zu einer fahrrad- und fußgängerfreundlichen Stadt

Von Ragnhild Sørensen   

Nach jahrelangen Verhandlungen und unendlich vielen Stunden freiwilliger Aktivistenarbeit wurde am 28. Juni 2018 mit den rot-rot-grünen Stimmen der Koalition im Berliner Senat Deutschlands erstes Mobilitätsgesetz verabschiedet. Es war der Beweis, dass „die da unten“ weit mehr als nur krakeelen und gegen „die da oben“ pöbeln können. Die Zivilgesellschaft hatte der Politik gezeigt, dass sie mitgestalten will.

Der inzwischen fast legendäre Volksentscheid Fahrrad und sein Trägerverein Changing Cities sammelten 2016 in nur drei Wochen mehr als 100.000 Unterschriften für eine fahrradfreundlichere Stadt. Ein Votum, das die neu gebildete Koalition in Berlin nicht ignorieren konnte. So wurde der Volksentscheid zum Vorbild für inzwischen 21 Radentscheide bundesweit, die die Verkehrswende von unten 
vorantreiben.                         


Das Mobilitätsgesetz stellt die alten Verkehrsnormen auf den Kopf. In den letzten 70 Jahren ging es in der Verkehrspolitik im Prinzip nur darum, die Auto-Mobilität zu fördern. Die Straßen von Berlin sind ja nicht ursprünglich für Autos angelegt, sie waren viel mehr ein Begegnungsort für alle. Hier wurde gehandelt, gequatscht, gespielt, gewaschen – und natürlich wurde der Raum auch von Menschen benutzt, die von einem Ort zum anderen wollten. Mit dem Aufkommen der Autos wurde die Funktion des öffentlichen Raums radikal umdefiniert: Die Straßen wurden fortan so konzipiert, dass Autos überall pro-
blemlos fahren konnten, indem alle anderen Fortbewegungsformen wie Zufußgehen und Radfahren buchstäblich an den Rand gedrückt wurden. Den Autos wurde zudem kostenloser Lagerplatz im öffentlichen Raum zugeteilt. Hinzu kam eine Palette finanzieller Förderungen des motorisierten Individualverkehrs: Heute zahlt jede/r Deutsche 2.100 Euro pro Jahr für die Subventionierung des Autoverkehrs (Pendlerpauschale, Dieselsubventionen etc.) – Straßenbau nicht inklusive!
Das, was euphorisch als die autogerechte Stadt gefeiert wurde, hat sich aber ins Gegenteil verkehrt: Es herrschen Stau, schlechte Luft, Lärm und notorischer Platzmangel.
Das Mobilitätsgesetz dreht deshalb das Prinzip der autogerechten Stadt um. Es schreibt den Vorrang des Umweltverbundes vor, also des Fuß-, Rad- und öffentlichen Nahverkehrs. Bei allen Planungen und Maßnahmen verliert der Autoverkehr sein Privileg zu Gunsten klimaverträglicher Mobilität. Dies bahnt den Weg für den Ausbau eines berlinweiten Radverkehrsnetzes, das das Radfahren bequemer und vor allem sicherer machen soll. Denn alle Studien weisen auf dieselbe Tatsache hin: Erst wenn die Infrastruktur mehr Sicherheit und gute Verbindungen für Radfahrende herstellt, steigen die Menschen um. Wer autogerecht baut, erzeugt also mehr Autoverkehr, wer sichere und komfortable Infrastruktur für Radfahrende baut, bekommt mehr Radverkehr.
Die zweite entscheidende Leitlinie des Mobilitätsgesetzes betrifft „Vision Zero“, also das Prinzip „Null Tote und Schwerverletzte“. Bei Neuplanungen verliert die bisher vorherrschende Maxime der „Flüssigkeit und Leichtigkeit des motorisierten Individualverkehrs“ ihre Gültigkeit. Wenn Straßen gestaltet werden, muss in erster Linie die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmenden und insbesondere die der ungeschützen berücksichtigt werden. So sollten jährlich etliche Kreuzungen sicherer gemacht werden, denn sie sind die Unfallschwerpunkte des ungeschützten Verkehrs.
Der dritte übergeordnete Grundsatz, mit dem das Mobilitätsgesetz bricht, ist die widersinnige Gleichstellung von fließendem und ruhendem Verkehr. Ab jetzt gilt der Vorrang des fließenden vor dem ruhenden Verkehr. Der ruhende Verkehr, das sind in Berlin vor allem Autos, die bisher durchschnittlich 23 Stunden pro Tag nahezu kostenfrei im öffentlichen Raum gelagert werden dürfen. De facto bedeutet das Prinzip, dass zunächst der Parkraum eingeschränkt werden muss, wenn beispielsweise ein neuer Fahrradweg angelegt werden soll.
Neben diesen Prinzipien beschreibt das Mobilitätsgesetz auch, dass das zu Grunde liegende Verwaltungsverhalten transparent und nachvollziehbar sein muss. Maßnahmen sollen kommunikativ begleitet werden und Verfahrensabläufe müssen offen und unter Beteiligung der Zivilgesellschaft organisiert werden. Ein umfangreiches Monitoring soll öffentlich über den Fortschritt berichten.                                                    
1,5 Jahre mit dem Mobilitätsgesetz
Und genau beim Fortschritt hapert es gewaltig. Niemand hat erwartet, dass das Gesetz der Stadt innerhalb weniger Monate ein komplett neues Gesicht verpasst. Aber die Trägheit der Umgestaltung ist dennoch frappierend. Das Berliner Zuständigkeits-Pingpong zwischen Senat und Bezirken bremst sämtliche Prozesse aus. In einzelnen Bezirken gibt es erhebliche Widerstände und Teile der Verwaltung und der Stadtgesellschaft kämpfen weiterhin um jeden Parkplatz. Radwege werden zu schmal und ohne Protektion angelegt (z.B. Oberbaumbrücke). Geschützte Radwege werden gleich nach Erbauung vom Bezirk wieder abgebaut (Dahlemer Weg). Wie bei den viel zu gefährlichen Fahrradweichen zeigen diese Maßnahmen, dass die Ziele des Mobilitätsgesetz in der Verwaltung nicht angekommen sind. Wie soll es Berlin gelingen, bis 2030 ein dichtes Netz aus Radverkehrsanlagen in der gesamten Stadt zu bauen, mehrere tausend Kilometer Straßen fahrradfreundlicher umzugestalten und elf Radschnellverbindungen zu schaffen? Fest steht: Ohne eine gut funktionierende Verwaltung sind die ehrgeizigen Ziele des Mobilitätsgesetzes nicht zu erreichen. Trotzdem nehmen tagtäglich mehr als 100.000 Berliner/innen das Fahrrad und liefern so ungeachtet einer vollkommen unzureichenden Infrastruktur das beste Argument für die Verkehrswende – Tendenz steigend.
Es scheint nach wie vor so zu sein, dass die Zivilbevölkerung den politisch Verantwortlichen und der Verwaltung voraus ist. Nur 30% der Menschen in Berlin sind noch mit dem Auto unterwegs, und trotzdem gibt es übertrieben große Ängste vor einem Aufstand der „besorgten Autofahrer/innen“. Um so wichtiger wäre es, dass der Senat klar und deutlich kommuniziert, wie sich die Stadt im Zuge der Umsetzung des Mobillitätsgesetzes verändern wird.
                               
Was passiert eigentlich mit den Autos?        
Berlin wird mit dem Mobilitätsgesetz nicht autofrei, schon gar nicht von heute auf morgen. Autoverkehr wird aber mit der Zeit entscheidend weniger werden. Es gibt natürlich Menschen, die auf das Auto „angewiesen sind“, wie etwa mobilitätseingeschränkte Menschen, die Müllabfuhr oder einige Lieferverkehre.
Dann gibt es noch all die Menschen, die seit 70 Jahren von der Politik der autogerechten Städte profitiert haben; die bequem und kostengünstig überall mit dem Pkw hin konnten, weil die Gemeinschaft diese Mobilität mitfinanziert hat. Für sie wird es Veränderungen geben, denn der motorisierte Individualverkehr ist in einer wachsenden Stadt einfach nicht mehr effektiv. Auch der Lagerplatz für Mobilitätsgeräte im öffentlichen Raum kann viel besser genutzt werden. Es ist nicht sinnvoll, Wege unter 10 Kilometern mit dem Auto zurückzulegen - wie es für 70% aller Autofahrten der Fall ist. Die Hälfte aller Wege, die mit dem Auto zurückgelegt werden, sind sogar unter 5 Kilometern – eine Strecke, die die allermeisten Menschen problemlos mit dem Fahrrad zurücklegen können.
Wir wissen alle, was wir mit einer autoärmeren Stadt gewinnen: mehr Platz für alle, gute Luft, Ruhe, mehr Grün, Entschleunigung. Und obendrein trägt die autofreie Stadt entscheidend zur Reduktion der CO2-Emissionen bei. Manche haben trotzdem Angst, dadurch weniger mobil zu sein, weil man als Bürger/in plötzlich mit verspäteten U-Bahnen, schlecht getakteten Bussen und unangenehmen Regenschauern leben muss. Abgesehen vom Wetter lässt sich jedoch alles anders gestalten. Wäre ich heute noch Autofahrer/in, ich würde lautstark auf die Barrikaden gehen und ein gut funktionierendes Mobilitätskonzept für meine Stadt fordern. Ich würde dem Bergmannkiez gratulieren, der durch einen bezirklichen Beschluss Ende Oktober Berlins erster Superblock wird. Das heißt, dass es innerhalb des Blocks keinen motorisierten Durchgangsverkehr geben soll.
Ich würde gegen all die Vorteile einer lebenswerten Stadt liebend gerne mein Stück Blech eintauschen. Aber nur, wenn der Senat glaubhaft machen kann, dass er das Mobilitätsgesetz bis 2030 umsetzt. Im Gegenzug würde ich mir eine Regenhose anschaffen.    


Ragnhild Sørensen ist beim Verein Changing Cities für die Pressearbeit verantwortlich. Der Verein setzt sich für eine Verkehrswende von unten ein. Mehr unter: https://changing-cities.org

Wortlaut des Berliner Mobilitätsgesetzes:
http://gesetze.berlin.de/jportal/?quelle=jlink&query=MobG+BE&psml=bsbeprod.psml&max=true


MieterEcho 406 / Dezember 2019

Schlüsselbegriffe: Mobilitätsgesetz,changing cities

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