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MieterEcho 399 / November 2018

Vom Neubaugebiet zur Großwohnsiedlung

Komplexer Wohnungsbau in der DDR, nach der Wende und heute

Von Nico Grunze

Die Begriffe Neubaugebiet und Großwohnsiedlung benennen das Spannungsfeld, in dem sich die Gebiete des DDR-Wohnungsbaus seit der politischen Wende 1989 befinden. In der DDR sprach niemand von Großwohnsiedlungen, sondern es handelte sich um neue Wohngebiete oder um Neubaugebiete – und eine Wohnung dort war sehr beliebt. Mit dem Fall der Mauer setzte fast über Nacht ein enormer Imagewandel ein, der dazu führte, dass sich der Blick auf die Wohngebiete in Plattenbauweise ins Gegenteil verkehrte. Seit dieser Zeit wurde auch in den neuen Bundesländern von Großwohnsiedlungen gesprochen und sie galten in der Öffentlichkeit nun als anonyme und monotone Schlafstädte. Insofern steht die Verwendung der beiden Begriffe in einem zeitlichen Bezug: „Neubaugebiet“ verweist auf eine Entwicklung vor der politischen Wende und „Großwohnsiedlung“ auf die Zeit danach.


Die Neubaugebiete in der DDR wurden in enger Verbindung mit der Entwicklung von Industriestandorten geplant und errichtet. Sie entstanden in nahezu jeder Stadt als Wohnstandorte für Arbeiter/innen in der Landwirtschaft und Industrie sowie für Angestellte großer Verwaltungen oder für Angehörige von Streitkräften. Es sind Wohngebiete, in denen bis auf Einzelhandel und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs kein Gewerbe zu finden ist. In zahlreichen Städten der DDR entstanden große oder kleine Neubaugebiete. Insgesamt 171 Neubaugebiete haben eine Größe von mindestens 2.500 Wohnungen, sodass in diesen Fällen von Großwohnsiedlungen gesprochen wird.
Die städtebauliche Struktur der Neubaugebiete basiert auf einer zentralstaatlich organisierten Planung. In der sogenannten Komplexrichtlinie zum Wohnungsbau waren die Struktur und die Ausstattung der Gebiete vorgegeben. Das betraf einerseits die Wohnungen sowie Infrastrukturen und andererseits die Gestaltung der öffentlichen Räume. Dabei lässt sich der sozialistische Wohnkomplex als eine Planungseinheit beschreiben, die Wohnungen für etwa 6.000 Menschen und die entsprechend notwendige Versorgungs- und soziale Infrastruktur wie Kinderkombinationen, Schulen, eine Kaufhalle oder sogenannte Dienstleistungswürfel umfasste. Je nach Gesamtgröße der Neubaugebiete summiert sich entsprechend die Anzahl von Wohnkomplexen. Sowohl die Wohngebäude als auch die Infrastruktureinrichtungen wurden in industrieller Bauweise projektiert und aus vorgefertigten Elementen auf der Baustelle zusammengesetzt.

Wartelisten bei der KWV

Die Gebäudevarianten blieben auf wenige Serien beschränkt, sodass im Wohnungsbau ab Mitte der 70er Jahre in der gesamten DDR vor allem die Serien P2 und WBS 70 zum Einsatz kamen. Auf Bezirksebene hatten die Wohnungsbaukombinate die Möglichkeit, Veränderungen an den Serien vorzunehmen, um die Gebäude im Detail an regionale Besonderheiten anzupassen. Weniger Varianz ist bei den Geschosszahlen festzustellen, denn aus ökonomischen Gründen wurde die wirtschaftlichste Etagenanzahl mit und ohne Aufzug ermittelt. Demzufolge sind von der Ostsee bis ins Erzgebirge Gebäude mit fünf und sechs Etagen ohne Aufzug sowie zehn und elf Etagen mit Aufzug zu finden. Darüber hinaus wurden Punkthochhäuser mit 16 bis 25 Etagen errichtet. Von diesem Schema abweichende Geschosszahlen sind kaum zu finden und sie blieben auf Gebäude in bedeutenden städtebaulichen Situationen wie zentrale Plätze oder besondere topographische Lagen beschränkt.
Für die Politik hatte dieser überwiegend am Stadtrand entstehende Wohnungsneubau Priorität und sämtliche Ressourcen wurden darauf konzentriert. Demgegenüber verfielen die innerstädtischen Quartiere und die Ausstattung von Altbauwohnungen blieb sehr einfach (MieterEcho Nr. 392/ Dezember 2017). Die Neubauwohnungen verfügten dagegen über moderne Einbauküchen, Bäder mit WC, warmes Wasser aus der Wand und soziale Infrastruktureinrichtungen in der unmittelbaren Nachbarschaft. Diese Ausstattung galt für viele Familien als Fortschritt und die Neubauwohnungen waren beliebt. Die Wohnungsvergabe erfolgte auf Antrag durch die Kommunale Wohnungsversorgung (KWV) und ging oft mit mehreren Jahren Wartezeit einher. Gute Aussichten auf die Zuteilung einer Wohnung hatten junge Familien mit Kindern, Werktätige in der Produktion (Schichtarbeit) oder Menschen, die sich in der Parteiarbeit verdient gemacht haben. Die antragstellenden Familien hatten keinen Einfluss auf die Adresse, sondern erfuhren erst durch das Amt, in welchem Gebäude und Geschoss ihre neue Wohnung zu beziehen war.
Mit dieser Form der Wohnungsvergabe bestand die Möglichkeit, den Zuzug in die Neubaugebiete zu steuern. Aus den dafür vorgesehenen Richtlinien der KWV ergaben sich sozialstrukturelle und demographische Besonderheiten. Dadurch, dass der Erstbezug von jungen Familien mit Kindern geprägt war, waren junge Menschen überproportional häufig vertreten. Die demografische Situation in den Neubaugebieten war nach ihrer Fertigstellung einerseits von einem hohen Anteil junger Erwachsener und andererseits von deren Kindern geprägt. Für die sozialstrukturelle Zusammensetzung der Bewohner/innen galt das Leitbild der sozialen Gleichheit, was zu einer starken sozialen Mischung führte. Der symbolische Mietpreis von rund 1 Mark/m² Wohnfläche und die marginalen Einkommensunterschiede zwischen verschiedenen Berufen mündeten in sehr vergleichbare Wohnstandards. Diese soziale Mischung wurde oft mit der unmittelbaren Nachbarschaft einer Ärztin neben dem Heizer illustriert.

Wachsender Leerstand nach der Wende

Mit der politischen Wende 1989 veränderte sich der Blick auf die randstädtischen Siedlungen. In der allgemeinen Wahrnehmung wurde aus dem bevorzugten Neubaugebiet eine unattraktive monotone Plattenbausiedlung. Der Ruf zahlreicher Siedlungen war schlecht und viele Bewohner/innen wollten sie verlassen, weshalb ab Mitte der 90er Jahre eine stetig zunehmende Abwanderung einsetzte. Es lassen sich für den Wegzug drei Gründe benennen: die Arbeitssuche in prosperierenden Regionen, die Fertigstellung von alternativen Wohnangeboten wie Eigenheimen oder Wohnparks sowie die Haushaltsgründungsphase der Kindergeneration. Diese Haushaltsgründungsphase ist demografisch bedingt. Nach 15 bis 20 Jahren hätten diese Fortzüge auch ohne politische Wende eingesetzt, denn ein großer Teil der Kinder und Jugendlichen aus der Erstbezugsgeneration verließen zur Ausbildung die Siedlungen.
Innerhalb weniger Jahre verloren einige Quartiere in den ostdeutschen Großwohnsiedlungen bis zur Hälfte der ursprünglichen Bewohner/innen. Die Abwanderung zeigte sich in Form von erheblichen Wohnungsleerständen und in dramatischen Fällen betraf das jede zweite Wohnung. Insbesondere in monostrukturierten Industrieregionen stieg im Zuge der wirtschaftlichen Transformation die Arbeitslosigkeit und viele Menschen verließen auf der Suche nach einem Arbeitsplatz ihre Heimat. Durch die hohe Abwanderung und die daraus resultierenden Leerstände sahen sich Wohnungsunternehmen von einer möglichen Insolvenz bedroht. Darauf reagierte die Bundesregierung zehn Jahre nach der Wende mit einem Förderprogramm zum Abriss von vermeintlich langfristig nicht mehr benötigten Wohnungen. Im Rahmen der Städtebauförderung konnte mit dem Programm Stadtumbau Ost, auf der Basis von integrierten Stadtentwicklungskonzepten, Rückbaumittel abgerufen und eine Entlastung von Altschulden erreicht werden. Insgesamt wurden auf der Basis dieses Förderprogramms in ostdeutschen Großwohnsiedlungen über 300.000 Wohnungen abgerissen. In strukturschwachen Regionen hält der Rückbau bis heute an.

Marzahn: Neubau, Abriss, Neubau

Mit fast 60.000 Wohnungen ist Berlin-Marzahn die größte Großwohnsiedlung in Deutschland (Seite 10). Insbesondere in den jüngeren Bereichen kam es Ende der 90er Jahre zu Abwanderungen, aus denen sich Wohnungsleerstände von 15 bis 20% ergaben. Die Bevölkerungsprognosen ließen weitere Einwohnerverluste erwarten. Obwohl die Wohnungsleerstände nicht das Maß wie in den ehemals industriell geprägten Städten erreichten, konnte Berlin am Förderprogramm Stadtumbau Ost partizipieren. Bis zum Jahr 2009 kam es zum Abriss von etwa 4.000 Wohnungen. Die Struktur der Großwohnsiedlung Marzahn blieb durch die überwiegend punktuell wirkenden Eingriffe erhalten und mit den Ahrensfelder Terrassen entstand ein einmaliges städtebauliches Projekt. Die aus Fachkreisen und Bevölkerung geäußerten Appelle, alternative Modelle zum Abriss zu überlegen, wurden damals ansonsten kaum erhört.
Zur gleichen Zeit fielen aufgrund der demografischen Entwicklung und der kollektiven Alterung der Kindergeneration soziale Infrastruktureinrichtungen aus der regulären Nutzung. Die Siedlung in Marzahn war Mitte der 90er Jahre etwa 20 Jahre alt und die Kinder der Erstbezugsgeneration erreichten in diesem Zeitraum ein ähnliches Alter. Von etwa 140 Kindergärten und Schulen in Marzahn wurde fast die Hälfte nicht mehr gebraucht. Für einige Einrichtungen ließen sich alternative Nutzungen in Form von Nachbarschaftshäusern realisieren, aber die Nachfrage blieb begrenzt. In der Folge wurden bis Ende der 2000er Jahre etwa 50 Kindergärten und Schulen abgerissen, auf deren Flächen nach und nach Einzelhandelseinrichtungen, Gärten oder Parks entstanden. Sofern sich keine Nachnutzung finden ließ, blieben sie als Brache zurück.
Die Prognosen trafen nicht in der vorausgerechneten Form ein und die Entwicklung verlief in eine völlig unerwartete Richtung. Durch den drastischen Zuzug in die Stadt ist heute der Berliner Wohnungsmarkt stark angespannt. Damit haben sich die Leitbilder und Aufgaben innerhalb von zehn Jahren ins Gegenteil verschoben. Nicht die Wohnraumreduzierung, sondern der Wohnungs- und Infrastrukturneubau steht plötzlich im Vordergrund. In der Schulbauoffensive des Senats wurden Schwerpunktgebiete ausgewiesen, die auch in Marzahn-Hellersdorf liegen. Als Neubaustandorte von Wohnungen und Infrastruktureinrichtungen kommen verblüffenderweise Rückbaubrachen infrage, auf denen noch vor zehn Jahren genau diese Gebäude standen.
Der Abriss oder Neubau ist nur eine finanzielle, aber nicht die entscheidende Frage. Denn wie an den diametralen Planungen der letzten 20 Jahre in Marzahn zu erkennen ist, hängen bauliche Strategien von politischen Entscheidungen ab. Sofern ausreichend politischer Wille und damit finanzielle Mittel vorhanden sind, lässt sich relativ schnell – zumindest innerhalb von einigen Jahren – und flexibel auf neue Situationen reagieren. Einige Gebäude standen kaum 15 Jahre, dann kam der Abriss und nun soll nach zehn weiteren Jahren an genau diesen Standorten neu gebaut werden. Die Planung, Politik und Verwaltung sind gefordert, die strategische Ausrichtung ihrer Arbeit auf der Basis von Prognosen zu hinterfragen. Wichtig wäre dabei, parallele Strategien mitzudenken sowie Spielräume einzubauen und zu nutzen.

Zukunft der Großwohnsiedlungen

Viel schwieriger und bedenklicher ist die soziale Entwicklung in den randstädtischen Großwohnsiedlungen. Mit dem beschriebenen Imagewandel zu Beginn der 90er Jahre setzte eine soziale Entmischung dieser Wohngebiete ein. In vielen Städten Ostdeutschlands, egal ob der gesamtstädtische Wohnungsmarkt schrumpft oder nachgefragt ist, lässt sich der Trend erkennen, dass sich in den Großwohnsiedlungen einkommensarme Menschen konzentrieren. Diese Tendenz hat sich über die letzten knapp 30 Jahre stetig fortgesetzt, woraus für eine Steuerung dieses langandauernden Prozesses eine große Trägheit entsteht, die es schwierig macht zu intervenieren. Allein kurzfristiger politischer Wille, wie bei baulichen Maßnahmen, reicht nicht aus. Vielmehr müssen die Gebiete strategisch im politischen Blick bleiben. Die Akteure in den Gebieten, wie Vermieter, Infrastrukturbetreiber, Schulen und Kindergärten, benötigen finanzielle Unterstützung und Spielräume, um den Trend zur sozialräumlichen Konzentration von benachteiligten Haushalten zu verlangsamen. Es ist eine enorme Integrationsleistung der Gesellschaft notwendig, die nicht allein auf der Quartiersebene erbracht werden kann, um Überforderung der Nachbarschaften in den Großwohnsiedlungen zu vermeiden. Dazu ist ein langfristiges Interesse an diesen Wohngebieten die Grundvoraussetzung, auch wenn sich die Erfolge nicht nach einzelnen Legislaturperioden einstellen.

Dr. Nico Grunze forscht seit über zehn Jahren zu verschiedenen Themen in Großwohnsiedlungen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind serielles Bauen, soziale Stadtentwicklung und Fragen der Stadterneuerung.


Das P in P2 steht für parallel, weil die tragenden Wände parallel zu den Fassaden angeordnet sind. Die 2 steht für zwei Aufgänge im Gebäude. WBS 70 steht für Wohnungsbauserie 70, ein ab den 70er Jahren eingesetzter optimierter Plattenbau-Typ.

Aufgrund des enormen Wohnungsmangels ist in Marzahn auf ehemaligen Rückbauflächen nun wieder Neubau von Wohnungen und Infrastruktureinrichtungen geplant.


MieterEcho 399 / November 2018

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