Kapital trifft Punk
Das Unternehmen Rent24 bietet eine Kombination von Coworking und Coliving an – von Verdrängung bedroht sind die Jugendzentren Drugstore und Potse
Von Christine Scherzinger
Neue Symbole, Schilder und Zeichen an den Gebäudefassaden rund um die Potsdamer Straße in Schöneberg sind Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandels. Der Bezirk wird noch internationaler und digitaler. Neben türkischen Supermärkten, Kosmetikläden und sozialen Trägern eröffnen Design-Läden, Start-ups, Hubs, englischsprachige Cafés und Coworking-Spaces. Letztere mieten Büroetagen oder ganze Gebäude zur zeitlich befristeten Untervermietung von einzelnen Schreibtischen.
Auf den Fenstern der zweiten Etage der Potsdamer Straße 180 steht: „Autonome Jugendzentren bleiben hier“. In diesem Gebäude befinden sich seit 46 Jahren die zwei ältesten selbstverwalteten Jugendzentren Berlins: Potse und Drugstore. Sie sind von Verdrängung bedroht und in Nutzungskonflikten mit den zugezogenen Nachbarn. Denn zwei bis drei Stockwerke darüber hielten ein neuer Unternehmensgeist und neue Wohnformen Einzug. Menschen der Gründerszene, die sich selbst gern als digitale Nomaden oder Freelancer bezeichnen, arbeiten und wohnen dort neuerdings auf Zeit. Das zeitlich befristete Wohnen mit geteilten Gemeinschaftsräumen und zusätzlichen Dienstleistungen wird als Coliving bezeichnet. Rent24 ist der neue Mieter neben den beiden Jugendzentren. Die beiden Welten von Punk und von gelebtem Unternehmertum könnten verschiedener nicht sein. Dennoch besteht das Problem nicht nur darin, dass diese beiden völlig unterschiedlichen Milieus aufeinandertreffen, sondern dass finanzkräftige Unternehmen wie Rent24 auf den Markt drängen, sich die besten Flächen aneignen und diese zulasten der Nachbarschaft verwerten. Die Folge ist die Verdrängung von nicht-profitorientierten Räumen sowie von Mieter/innen.
„Temporalität“ als Geschäftsmodell
Durch die Digitalisierung werden Lebens- und Arbeitswelten durchlässiger, mobiler, flexibler, aber auch prekärer. Im digitalen Zeitalter können zahlreiche Tätigkeiten ortsunabhängig durchgeführt werden. Zahlreiche internationale Tech- und Fin-Firmen lagern ihre Entwicklungsabteilungen aus und übertragen so die Risiken auf einzelne Arbeitnehmer/innen oder Start-ups. Mittlerweile arbeiten weltweit 1,7 Millionen Menschen in 19.000 Coworking-Spaces. Nach einer Prognose von Global Coworking Survey soll die Anzahl bis 2020 auf insgesamt 26.000 Spaces steigen.
Da es in Berlin an günstigem Wohnraum mangelt, Tech-Firmen keine Büroplätze für ausgelagerte Bereiche bereitstellen und zugleich Gewerberäume knapper und teurer werden, liegen Coworking- und Coliving-Angebote auch in der Bundeshauptstadt voll im Trend. WeWork (Coworking) und Medici Living (Coliving) haben das boomende Marktsegment „Temporalität“ entdeckt und nutzen dafür gesetzliche Nischen aus. Beispielsweise finden sie Wege, am Mietrecht vorbei in atypischen Wohnverhältnissen maximale Renditen zu erzielen (MieterEcho Nr. 394/ April 2018). Seit drei Jahren kehrt das deutschsprachige Unternehmen Rent24 die Schattenseiten der neuen digitalen Arbeitswelt in ein positives Lifestyleprodukt einer wachsenden digitalen Gemeinschaft um. Rent24 wirbt auf der Internetseite für seine Angebote: „Arbeite auf der ganzen Welt, wir kümmern uns um den Rest, digital, unabhängig und frei – bei uns sind Nomaden mit leidenschaftlichem Unternehmergeist unter einem Dach vereint. Während du deinen beruflichen Ambitionen folgst, sorgen wir mit unseren Wohnumgebungen für dein Wohlbefinden. Wohne unter Gleichgesinnten mit Innovationspotenzial, arbeite in der Stadt deiner Wahl, so lange du willst, wähle ein Appartement nach deinem Geschmack, treffe bei Networking Events auf Innovationstreiber.“
Robert Bukvic ist Chef des Unternehmens Rent24 und Kenner der Start-up-Szene. Er macht keinen Hehl aus seinen Expansionsbestrebungen. Seit der Gründung vor drei Jahren ist Rent24 mit 50 Standorten in 18 Städten und acht Ländern zu einem der führenden Coworking-Anbieter Europas geworden. Bukvic plant bis Ende 2019 insgesamt 70 weitere Standorte, da der Markt rund um das zeitliche Wohnen und Arbeiten noch nicht gesättigt ist. In Berlin befinden sich in den besten innerstädtischen Lagen derzeit sieben großflächige Coworking-Standorte von Rent24, drei davon in der Potsdamer Straße. Bukvic zufolge erweitert er seine Coworking-Angebote um Coliving überall da, wo er Baugenehmigungen erhält. Sein Ziel ist es, sich langfristig gegenüber seinen Konkurrenten WeWork und Medici Living abzugrenzen und sich in der Kombination beider Angebote Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. „Coworking meets Coliving“ lautet nach Bukvic das Rundum-sorglos-Paket aus Arbeiten, Wohnen und Leben unter Gleichgesinnten. Für die Potsdamer Straße 180 wurden Baugenehmigungen erteilt, sodass seit Februar 2018 auch Wohnen auf Zeit möglich ist.
Räume für Potse und Drugstore
Seit 46 Jahren bieten die beiden Jugendzentren Potse und Drugstore ihre Jugendarbeit an. Obwohl von Drugstore gefordert, wurde Wohnnutzung im Jahr 1973 im Mietvertrag ausgeschlossen. Seit drei Jahren bangen die beiden Zentren um ihre Bleibe. Durch öffentlichen Druck und nach langwierigen Verhandlungen mit dem Eigentümer des Gebäudes konnte der Vertrag durch den Bezirk immer wieder verlängert werden. Eine weitere Verlängerung für 2019 schließt der Eigentümer bislang aus. Mögliche Ausweichstandorte wurden bislang nicht freigegeben oder stehen für einen unmittelbaren Umzug noch nicht bereit. Jetzt stehen die Jugendzentren kurz vor dem Aus. Der Auszugstermin wurde ihnen mittgeteilt. In der Warteschlange um die begehrten innerstädtischen Gewerberäume steht das finanzkräftige Unternehmen Rent24. Seine Expansionsbestrebungen reichen bis in die jetzigen Räumlichkeiten von Potse und Drugstore. Diese sind wohl auch ein Grund dafür, warum der Eigentümer kein Interesse hat, die Räumlichkeiten weiterhin an den Bezirk und somit an Potse und Drugstore zu vermieten. Bandproben und abendliche Punkkonzerte führen seit Februar 2018 zu verschärften Nutzungskonflikten. Ein Höhepunkt des Konflikts zeigte sich im September 2018, als ein Polizeieinsatz aufgrund von Lärmbeschwerden aus dem Coliving-Bereich um drei Uhr nachts nach der Feier des 46-jährigen Bestehens Potse und Drugstore räumte.
Städte sind Seismograph gesellschaftlicher Veränderungen und Verhandlungsorte einer möglichen Zukunft. Seit einigen Jahren gehen die Aushandlungsprozesse zulasten derjenigen, die keine finanzkräftige Lobby im Hintergrund haben. Das Kapital bestimmt derzeit die Aushandlungen und die Zukunft der Städte. Ein besorgniserregender Strukturwandel auf gewerblichen Flächen zeichnet sich ab, der auch von der Verdrängung sozialer Träger, Jugendeinrichtungen und Kitas geprägt ist. Die politischen Einflussmöglichkeiten sind im Gewerbemietrecht sehr gering. Im August 2018 wurde daher in Berlin eine Bundesratsinitiative auf den Weg gebracht, die eine Modernisierung des Gewerbemietrechts zum Ziel hat. Dieses umfasst unter anderem einen gesetzlichen Anspruch für Gewerbemieter/innen auf Verlängerung des Mietverhältnisses zu geltenden Konditionen für eine Dauer von mindestens zehn Jahren. Darüber hinaus gibt es im Berliner Senat Diskussionen, Milieuschutz auch auf gewerbliche Flächen auszuweiten.
Auf der Website vermarktet derweil Rent24 Coliving als neue Wohnform für die digitale Community. Wohnen ist auf gewerblichen Flächen rechtlich nicht erlaubt und wurde dem Drugstore damals untersagt. Die Bereiche Gewerbe und Wohnen sind bei Coliving-Konzepten fließend. Klare Richtlinien oder aktuelle Rechtsprechungen für temporäres Wohnen fehlen. Eine Modernisierung der gesetzlichen Grundlagen wäre nötig. Das Bezirksamt sieht die Voraussetzungen des gewerblichen Handelns erfüllt und erteilte auf dieser Basis die Baugenehmigung. Die Bezirkspolitik muss mutiger werden und darf sich nicht vom Kapital des Investors bei möglichen Rechtsstreits abschrecken lassen. Die Politik muss wieder aktiv die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mitgestalten und sich nicht von ihrer Entwicklung abhängen lassen. Bis dahin gilt es, eine Öffentlichkeit herzustellen, um die Mechanismen im Kampf um die letzten Ressourcen der Stadt sichtbar zu machen und gesellschaftliche Debatten über die Stadt der Zukunft anzustoßen. Dazu muss auch Rent24 in die Pflicht genommen werden. Erfolge wie die Verhinderung des Google Campus sind zu verzeichnen. Ob Rent24 wie Google in seine Expansionsbestrebungen die Bewahrung seines Images integriert und möglicherweise ein soziales Gewissen gegenüber der Nachbarschaft entwickelt, bleibt offen.
Die Stadtgeographin Dr. Christine Scherzinger arbeitet u.a. als Lehrbeauftrage an der FU Berlin. Weitere Arbeitsschwerpunkte sind Auswirkungen der Digitalisierung in Städten, veränderte Arbeitsmärkte, linke Stadtpolitik und kritische Stadtführungen. Ihre Dissertation erschien im Transcript-Verlag Berlin: „Visionen einer zukünftigen Urbanität. Über Kunst, Kreativität und alternative Stadtgestaltung“.
Website: http://c-scherzinger.de
MieterEcho 399 / November 2018