Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 399 / November 2018

„Immer noch besser als sein Ruf“

Wohnen in Marzahn vor und nach der Wende

Von Wolfgang Schumann

Leben im Neubaugebiet Berlin-Marzahn – das war 1980, 1984 und 1986 die analytische Fragestellung repräsentativer Haushaltsbefragungen des Instituts für Soziologie der Berliner Humboldt-Universität, der Ende 1991 unter den dann gravierend veränderten gesellschaftlichen Bedingungen weiter nachgegangen wurde. Marzahn – das war für die Bewohner/innen eine wesentliche Verbesserung ihrer Wohnsituation, kamen doch die meisten aus beengten Wohnverhältnissen im unsanierten Altbau, mit Ofenheizung und Toilette auf halber Treppe.


Das Neubaugebiet Marzahn war im doppelten Sinne eine junge Stadt. 1986 lag das Durchschnittsalter bei 28 Jahren, zwei Drittel der Bewohner/innen waren 25 bis 45 Jahre alt. Jedes vierte Ostberliner Kind lebte in Marzahn, Jugendliche waren über- und Rentner/innen unterrepräsentiert. Die Einwohnerstruktur wurde von 3- und 4-Personen-Haushalten dominiert. Etwa jede/r zweite Bewohner/in hatte einen Hoch- oder Fachschulabschluss, nur jede/r fünfte war Arbeiter/in. Zwei Drittel arbeiteten in sogenannten nichtproduzierenden Bereichen. Das Haushaltsnettoeinkommen lag leicht über dem Ost-Berliner Durchschnitt. Nur etwa 40% der Bewohner/innen waren in Berlin aufgewachsen, drei Viertel lebten jedoch vor dem Einzug bereits in Berlin. 60% waren zufrieden mit den Wohnverhältnissen, hatten sich eingelebt und fühlten sich wohl.
Unzufrieden waren vor allem 1-Personen-Haushalte in 1-Raum-Wohnungen sowie Haushalte, die nicht über familiengerechten Wohnraum verfügten. Ursache dafür war, dass die Wohnraumvergabe sich vornehmlich an der Formel: Anzahl der Personen gleich Anzahl der Zimmer (n = n) orientierte, oft aber auch ein Zimmer weniger bereitstellte. Nur auf 60% traf die Formel n = n zu. So verfügten etwa 30% der Familien mit einem Kind lediglich über eine 2-Raum-Wohnung. Bei einer durchschnittlichen Wohnungsgröße von 62 m2 standen pro Person 24 m2 zur Verfügung, im Altbau waren es dagegen 35 m2. Junge Familien tendierten trotzdem meist zur „funktionierenden“ Neubauwohnung, denn diese bot den beiden arbeitenden Elternteilen eine familienfreundliche Infrastruktur und stellte letztlich auch das wohnungspolitisch Mögliche und Erreichbare dar. Es war, wie später oft behauptet, keineswegs ein Privileg, in Marzahn zu wohnen. Privilegiert waren junge Ehepaare, die einem Magistratsbeschluss folgend innerhalb eines Jahres mit einer Wohnung zu versorgen waren. Ihnen stand bei einer Bruttowarmmiete von weniger als 2 Mark/m2 eine trockene, warme und sichere Wohnung mit moderner Ausstattung in einem Haus mit mehrheitlich positiv eingeschätzten Nachbarschaftsbeziehungen zur Verfügung.
Hinsichtlich der sozial-kulturellen Infrastruktur mangelte es jedoch an ausreichenden Freizeit-, Versorgungs- und Betreuungseinrichtungen. Die Untersuchungen in den 80er Jahren zeigten zusammenfassend, dass sich die Mehrheit mit ihrer Wohn- und Lebenssituation in Marzahn arrangiert
hatte.

Zwischen Staat und Markt

Mit der „Wende“ zeichnete sich dann vor allem ein verändertes Mobilitätsverhalten ab. Bereits Ende 1989 hatte Marzahn einen negativen Wanderungssaldo von etwa 5.000 Personen. Mit dem gesellschaftlichen Umbruch entstanden völlig neue Fragen zu Lebens- und Wohnverhältnissen, denen die Erhebung im Jahr 1991 nachging. Entgegen dem medial verbreiteten Negativ-image waren noch zwei Drittel der Meinung, dass Marzahn besser als sein Ruf sei und jede/r zweite fühlte sich dort immer noch wohl. Möglicherweise war diese Reaktion teilweise auch eine trotzige „Verteidigung sozialer Besitzstände“ infolge allgemeiner Verunsicherung und medialer Stigmatisierung der „Platte“.
Das Durchschnittsalter lag nunmehr bei 33 Jahren, der Anteil von Kindern und Jugendlichen betrug etwa 25%. Die sozialstrukturellen Besonderheiten der 80er Jahre galten nach wie vor, soziale Lage und Tätigkeitsbereiche hatten sich jedoch stark verändert. Die Erwerbstätigkeit war von 90% auf 70% gesunken, 13% waren arbeitslos, wobei der Anteil von Frauen doppelt so hoch war wie der von Männern. Trotz „Abwicklung“ vieler Arbeitsplätze arbeiteten immer noch 25% in Marzahn. Jede/r Fünfte hatte sich jedoch bereits in West-Berlin oder in den alten Bundesländern Arbeit gesucht. Jede/r Dritte hatte die Erfahrung eines Betriebs- oder Tätigkeitswechsels, von Warteschleife, Kurzarbeit, Umschulung oder Arbeitslosigkeit gemacht. Das Haushaltseinkommen lag noch leicht über dem Ost-Berliner Durchschnitt. Trotz inzwischen höherer Mieten betrafen geäußerte Verunsicherungen weniger den Bereich Wohnen als vielmehr den der Arbeit. Für viele war es aber schwer nachvollziehbar, warum jetzt für dieselben Wohnbedingungen unverhältnismäßig mehr gezahlt werden musste. In diesem Zusammenhang wurden Erwartungen zu schnellerer Verbesserung hinsichtlich Wohnung  und Umfeld artikuliert.
Die Einschätzung zur Entwicklung des Gebiets zeigte starke Verunsicherungen. Mehr als ein Drittel hielt bereits Szenarien eines sozial und ethnisch marginalisierten Stadtteils für möglich. Wenn auch die Wohnung und die Lage insgesamt noch relativ positiv bewertet wurde, spielten Aussagen wie „ödes kulturelles Stadtleben“, „bauliche Monotonie“, „fehlende Ordnung und Sauberkeit“ sowie zunehmende Anonymität und Kriminalität verstärkt eine Rolle. Erwartungen hinsichtlich anderer Wohnungsarten oder Wohnformen wie Maisonetten oder Mehrgenerationenwohnen wurden kaum geäußert. Veränderungswünsche zielten vorrangig auf Größe und Anzahl der Zimmer und auf mehr Komfort in Küche und Bad. Jede/r fünfte äußerte aber bereits den Wunsch nach Wohneigentum. Die Wohnungen waren noch in kommunalem oder genossenschaftlichem Besitz, die angegebene Bruttowarmmiete lag bei etwa 7 DM/m2.
Die Belegungssituation hatte sich entspannt. Meist stand pro Person ein Zimmer zur Verfügung (n = n). Ein Drittel trug sich bereits mit Umzugsgedanken, begründet mit Aussagen wie „die Gegend ist langweilig, schmutzig, unordentlich, unattraktiv“ und mit zu erwartenden höheren Mieten. Bevorzugte Umzugsorte waren die Rand- und Umlandgebiete Berlins, dem Wunsch nach einem Eigenheim folgend und wegen der erwarteten künftigen Aufwertung innerstädtischer Bereiche mit prognostizierter Verteuerung. Insgesamt war eine zunehmende Bereitschaft zur Mobilität zu verzeichnen.

Eigene Strategien für Stadtplanung

Als ein Fazit der über zwölf Jahre geführten stadtsoziologischen Forschungen gilt: Der massenhafte randstädtische Wohnungsbau verbesserte für einen Großteil der Ost-Berliner/innen die konkreten Wohnbedingungen hinsichtlich eines Grundbedarfs an Größe und Ausstattung. Unzufriedenheit zielte vorrangig aufs Wohnumfeld. Die kommunal und genossenschaftlich geregelte Wohnungspolitik nach sozialpolitischen Prämissen und einheitlichen Vergabenormativen schuf vornehmlich egalisierte Wohnbedingungen und diente damit kaum der Befriedigung spezifischer Wohnbedürfnisse in demografischer und sozialstruktureller Hinsicht. Im Fokus staatlicher Wohnungspolitik, als Instrument zur „Lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem“, standen vorrangig sozialpolitische Ziele wie die kurzfristige Versorgung von jungen Ehepaaren, kinderreichen Familien und Schichtarbeiterhaushalten. Eine sozial und ökonomisch effiziente Wohnraumlenkung im Bestand fand deshalb kaum statt.
Dennoch wurde 1991 in den soziologischen Erhebungen von mehr als zwei Dritteln der Befragten geäußert: „Marzahn war schon immer und ist immer noch besser als sein Ruf.“ Diese Einschätzung barg schließlich auch die Chance für eine Stabilisierung und Entwicklung des Gebiets.
Stadtsoziologische Vorschläge zielten deshalb vornehmlich auf die Bildung von Teilzentren mit einem spezifischen lokalen Milieu und Identifikationspotenzial, auf die weitere Ausgestaltung der sozial-kulturellen Infrastruktur des Gebiets und letztlich auf die Sicherung und weitere Verbesserung des Wohnungsbestands bei stärkerer Orientierung an den spezifischen Bedürfnissen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen. Großsiedlungen wie Marzahn brauchten und brauchen eigene Strategien für Stadtplanung und -entwicklung, nicht zuletzt um deren soziale Vielfalt zu erhalten.

Dr. oec. Wolfgang Schumann, geboren 1942, war Stadtsoziologe am Institut für Soziologie der Humboldt-Universität Berlin.

Die Großwohnsiedlung Marzahn entstand als ambitioniertes Projekt der DDR von 1977 bis 1990 in Ost-Berlin. Marzahn und Hellersdorf bilden gemeinsam die größte Siedlung des industriellen Wohnungsbaus in Deutschland. Die rund 100.000 Wohnungen bestehen überwiegend aus 6- bis 11-geschossigen Gebäudezeilen sowie Punkthochhäusern mit bis zu 22 Geschossen. In der Plattenbausiedlung wohnen knapp 190.000 Menschen. Aktuell laufende stadtentwicklungspolitische Förderprogramme sind „Stadtumbau“ sowie „Soziale Stadt/Quartiersmanagement“.


MieterEcho 399 / November 2018

Schlüsselbegriffe: Wohnen,Marzahn,Hellersdorf,DDR,Wende,Großwohnsiedlung,industrieller Wohnungsbau

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