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MieterEcho 393 / Februar 2018

Hauptstadt der Armutsverwaltung

Landesarmutskonferenz verlangt Übernahme des „Karlsruher Modells“ zur Prävention von Wohnungsverlusten

Von Rainer Balcerowiak

Berlin wird nach wie vor als coole, hippe Stadt abgefeiert und vermarktet, doch hinter der Glitzerfassade stinkt es gewaltig. Die Wohnungslosigkeit nimmt immer dramatischere Formen an. Spitze des Eisbergs sind 7.000 bis 10.000 Obdachlose, die mehr oder weniger auf der Straße leben. Hinzu kommen mindestens 35.000 Menschen, darunter Familien, die aufgrund von Wohnungslosigkeit in entsprechenden Einrichtungen oder Pensionen untergebracht sind.


Trotz meist sehr hoher Kostensätze sind Wohnungslose oft in Mehrbettzimmern ohne eigene sanitäre Anlagen und Kochmöglichkeiten untergebracht. Rund 4.000 dieser Wohnungslosen leben in betreuten Wohnprojekten und sollen nach einiger Zeit wieder reguläre Wohnungen in Eigenverantwortung beziehen, was aber angesichts der Lage auf dem Wohnungsmarkt illusorisch ist. Bei diesen Zahlen noch nicht berücksichtigt sind die in Not- oder Sammelunterkünften lebenden Geflüchteten sowie diejenigen, die sich irgendwie mit zeitweiligen Unterkünften bei Verwandten und Bekannten durchschlagen, darunter einige Tausend Studierende.

Außer notdürftiger Armutsverwaltung und hier und da einen feuchten Händedruck zeigt der Berliner Senat kein erkennbares Handeln, geschweige denn ein Konzept zur Überwindung dieser Misere. Stolz rühmt sich Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Die Linke), dass man die Zahl der Notübernachtungsplätze im Rahmen der Kältehilfe auf über 1.000 gesteigert habe. Und die Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, Monika Hermann (B90/Grüne), feiert in den sozialen Netzwerken den „Duschbus“, der bereitgestellt werden soll, während sich ihr Parteifreund und Amtskollege aus Mitte, Stephan von Dassel, die systematische Vertreibung von Obdachlosen aus der Innenstadt auf die Fahnen geschrieben hat.

 

Betroffene werden allein gelassen

Dass der eklatante Mangel an bezahlbarem Wohnraum die Hauptursache für Wohnungslosigkeit ist, liegt auf der Hand. Ein wichtiger Faktor ist allerdings auch die mangelhafte Prävention, denn die meisten Wohnungsverluste könnten durch rechtzeitiges und vor allem koordiniertes Eingreifen verhindert werden. Bereits 1987 legte der Deutsche Städtetag ein entsprechendes Konzept vor, das aber trotz wachsender Wohnungsnot kaum umgesetzt wird. Es basiert auf der Bündelung aller Aspekte der Prävention von Wohnungslosigkeit in einer zentralen Fachstelle. Denn viele Menschen sind durch drohenden Wohnungsverlust regelrecht paralysiert und kaum in der Lage, die komplizierten behördlichen und juristischen Prozeduren zu bewältigen. Briefe werden nicht geöffnet, dadurch Fristen verpasst und irgendwann kommt die Kündigung des Mietvertrags oder die Räumungsklage.

Eine der wenigen Ausnahmen ist Karlsruhe. Auf einer Fachtagung der Berliner Landesarmutskonferenz im Dezember erläuterte der dort für Soziales zuständige Bürgermeister Martin Lenz (SPD) die Arbeitsweise der Behörde. Die „Fachstelle Wohnungssicherung“ erhält alle Informationen über kündigungsrelevante Mietrückstände oder anstehende Räumungsklagen. Daraufhin spreche man mit den Betroffenen und den Vermietern, organisiere im Bedarfsfall eine Mietschuldenübernahme durch Jobcenter oder Sozialämter zur Abwendung von Wohnungslosigkeit und kläre möglichen Betreuungsbedarf, berichtete Lenz. Denn „allein wegen Geld soll in Karlsruhe niemand wohnungslos werden“, so Lenz. Mit datenschutzrechtlichen Bedenken und gewissen Verwaltungsvorschriften müsse man aber „kreativ umgehen“, wenn man wirklich schnelle und zielgenaue Hilfe geben wolle. Auch müsse dieser Bereich komplett in kommunaler Trägerschaft belassen werden, da freie Träger nicht die entsprechenden Ressourcen und Durchgriffsrechte hätten. Zudem erfordere erfolgreiche Prävention einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der behördlichen Arbeit. Anstatt darauf zu warten, dass sich die Betroffenen an die entsprechenden Stellen wenden, müsse man „rausgehen, um diese Menschen aufzusuchen“. Zur Arbeit der Fachstelle gehört auch die kontinuierliche Akquise von Wohnraum bei privaten und kommunalen Vermietern, der dann direkt an Betroffene vergeben werden kann. Die Zahl von Zwangsräumungen und Einweisungen in Obdachlosenunterkünfte konnte auf diese Weise „signifikant gesenkt werden“. Auch Lenz betont die Notwendigkeit des forcierten Wohnungsneubaus für alle Bevölkerungsschichten in „erheblichen Größenordnungen“. Aber man könne der aktuellen Wohnungsnot „nicht kurzfristig hinterherbauen“ und daher komme der Prävention eine zentrale Rolle zu.

Doch in Berlin und anderswo ist davon keine Rede. Der Soziologe Volker Busch-Geertsema von der Bremer Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung (GISS) sieht vielmehr „erhebliche Defizite“. Zwar gebe es einen im europäischen Vergleich recht umfangreichen Mieterschutz, doch der sei in den letzten Jahren zunehmend ausgehöhlt worden. So könne eine fristlose Kündigung wegen Mietschulden zwar durch Zahlung innerhalb von zwei Monaten abgewendet werden, eine gleichzeitig ausgesprochene ordentliche Kündigung führe in vielen Fällen aber trotzdem zum Wohnungsverlust. Da gebe es „dringenden gesetzlichen Handlungsbedarf“. Außerdem setzten viele Kommunen ihren Schwerpunkt auf die notdürftige Unterbringung von Wohnungslosen statt auf die Schaffung geschützter Wohnungssegmente. Wenn Prävention nicht greife, bräuchten die von Kündigung und Räumung Betroffenen in erster Linie „schnell eine neue Wohnung“, um auf dieser Basis eventuell notwendige Betreuung zu organisieren. Unabdingbar für dieses „Housing First“ genannte Konzept seien aber ein regulierter Mietwohnungsmarkt und bedarfsgerechter Wohnungsneubau.

 

Armutskonferenz fordert Neuausrichtung

Als Ergebnis dieser Fachtagung verfasste die Landesarmutskonferenz eine Resolution, auf deren Grundlage sie auch Druck auf den Berliner Senat ausüben will. Gefordert wird ein „berlinweites, bezirksübergreifendes, einheitliches und standardisiertes Verfahren zur Verhinderung von Wohnungsverlust, in dem alle beteiligten Akteure einbezogen werden und kooperieren. Dieses Präventionsverfahren muss in den geplanten Leitlinien gegen Wohnungsnot verbindlich festgeschrieben werden“. Eine weitere Forderung betrifft das „geschützte Marktsegment“, das in Berlin mit derzeit rund 1.300 Wohnungen – fast ausschließlich bei den kommunalen Wohnungsunternehmen – eine blamable Größenordnung aufweist. Unter Verweis auf die Karlsruher Erfahrungen wird eine gezielte Akquise unter Einbeziehung von privaten Vermietern und Genossenschaften verlangt. Lenz berichtete, dass sich in Karlsruhe dabei die garantierte Mietzahlung an die Vermieter als äußerst wirksamer Hebel erwiesen habe. Dazu gehöre aber „die konsequente Anwendung der Sollvorschriften im Sozialgesetzbuch zur Übernahme von Mietschulden“, heißt es in der Resolution.

Generell fordert die LAK „Wohnungen, Wohnungen und nochmals Wohnungen“, statt der bisher im Vordergrund stehenden Armutsverwaltung. Dabei gehe es in erster Linie um Neubau, aber auch um Rückkauf, Nutzung von Vorkaufsrechten und Kauf von dauerhaften Belegungsrechten.

Auch LAK-Sprecher Hermann Pfahler steht dem Neubau von „Armutssiedlungen in Billigbauweise“ im Prinzip skeptisch gegenüber. Allerdings könnten die vom Senat im Februar 2016 angekündigten Modularen Unterkünfte für Flüchtlinge (MUF) für bis zu 30.000 Menschen an 60 dezentralen Standorten angesichts der akuten Dramatik der Wohnungslosigkeit eine sinnvolle Ergänzung des regulären Neubaus sein, zumal sie ausdrücklich allen von Wohnungslosigkeit betroffenen Menschen und nicht nur Flüchtlingen zur Verfügung stehen sollen (MieterEcho Nr. 381/ Juni 2016). Doch mittlerweile hat der Senat dieses Programm zwar nicht offiziell, aber faktisch beendet. Mitte November waren lediglich sechs MUF-Standorte für 3.000 Menschen bezogen, ursprünglich sollten bereits Ende 2016 MUF-Wohnungen für 19.000 Menschen zur Verfügung stehen.

Doch nicht nur der Bau von MUFs, sondern auch regulärer Neubau scheitere oft am Widerstand von Bezirksämtern und „Anwohnerinitiativen“, beklagt Pfahler. Vor dem Hintergrund des dramatischen Wohnungsmangels sei es aber inakzeptabel, dass sich selbst ermächtigende und vom Senat durch immer neue „Partizipationsformen“ ermunterte Gruppen Neubau in „ihrem“ Stadtteil mit allen Mitteln verhindern wollen und „gleichzeitig verlangen, dass Obdachlosigkeit und Armut in ihrem Lebensumfeld möglichst wenig sichtbar sind“.

 

 

Herkömmliche Ansätze zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit arbeiten meist mit einem Modell der „Wohnfähigkeit“, was bedeutet, dass zuerst die Probleme, die zur Wohnungslosigkeit geführt haben, behoben werden sollen. Obdachlose müssen damit verschiedene Arten von Notunterkünften oder vorübergehender Unterbringung durchlaufen und die behördliche Unterstützung endet in der Regel mit dem Bezug einer Wohnung. Nach dem Konzept „Housing First“ ziehen Obdachlose im ersten Schritt in eine „eigene“ unabhängige und dauerhafte Wohnung und mit dem Einzug wird Unterstützung bedarfsgerecht und kontinuierlich angeboten. Studien zufolge verringerte sich die Zahl der Obdachlosen in Gebieten mit einem solchen Programm um 30%.

 

 


MieterEcho 393 / Februar 2018

Schlüsselbegriffe: Landesarmutskonferenz, Karlsruher Modells, Prävention, Wohnungsverluste, Wohnungslosigkeit, Notübernachtungsplätze, Wohnraummangel, Obdachlosenunterkünfte, Zwangsräumungen, Neubau