Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 398 / Oktober 2018

Der Dynamik hinterher

Laut Koalitionsvertrag ist eine „innovative, gerechte und nachhaltige“ Wirtschaftspolitik vorgesehen, aber die Umsetzung fehlt.

Von Janet Merkel

Alles wächst in Berlin: die Wirtschaft, die Bevölkerung, die Touristenzahlen, die Mietpreise und endlich auch die Berliner Finanzen. Nach langen Jahren des Schrumpfens, Spardiktats und Ausverkaufs der Stadt hat die gegenwärtige rot-rot-grüne Landesregierung in ihrem Koalitionsvertrag 2016 ein Jahrzehnt der Investitionen ausgerufen. Auch in der Wirtschaftspolitik sollen neue Weichenstellungen erfolgen, um die anhaltend gute wirtschaftliche Dynamik der Stadt zu verstärken. Doch von den im Koalitionsvertrag skizzierten Ideen für eine „innovative, gerechte und nachhaltige“ Wirtschaftspolitik – wie Koordinator Digitales Berlin, Open Innovation Strategie, Geschäftsstelle Industriepolitik, Ausbau der Ladeinfrastruktur für Elektromobilität – ist bislang nichts umgesetzt. Auch die dafür bereitgestellten Gelder werden nicht abgerufen.


Seit dem Abschlussbericht der Enquetekommission „Eine Zukunft für Berlin“ in 2005 betreibt Berlin eine clusterbasierte Standortpolitik für zukunftsweisende Wirtschaftszweige. Die wirtschaftliche Schwerpunktsetzung folgt den Empfehlungen der Kommission und hat sich auf fünf Bereiche spezialisiert: 1. Gesundheitswirtschaft, 2. Informations- und Kommunikationstechnik (IKT), Medien und Kreativwirtschaft, 3. Verkehr, Mobilität und Logistik, 4. Optik sowie 5. Energietechnik. Am bekanntesten sind hiervon die Initiativen für die Kultur- und Kreativwirtschaft, die öffentlichkeitswirksam unter anderem in Formaten wie der Art, Design, Fashion oder Music Week unterstützt werden. Die Grundidee einer clusterorientierten Wirtschaftspolitik ist es, die positiven Effekte einer räumlichen Konzentration ähnlicher, aber auch verschiedener, wirtschaftlicher Aktivitäten zu verstärken, indem die Unternehmen miteinander vernetzt werden und so ein wechselseitiger Austausch angeregt wird. Dieser soll zu spezialisiertem Wissen, der Entwicklung neuer Technologiefelder und Unternehmenskooperationen führen. Der Wirtschaftssenat hat in den letzten Jahren sehr viel in diese Vernetzungsaktivitäten investiert und vor allem die Zusammenarbeit von Unternehmen mit Hochschulen forciert.

Kein Wachstum guter Arbeitsplätze

Seit 2010 lassen sich im Wirtschaftssenat Verschiebungen in den Schwerpunkten feststellen: zum einen mit der starken Konzentration auf die digitale Wirtschaft innerhalb der Cluster Informations- und Kommunikationstechnik sowie Medien und Kreativwirtschaft und zum anderen mit einem übergeordneten Fokus auf Industrie 4.0. Dieser Fokus wurde mit dem neuen Masterplan Industrie und der Fortführung des Steuerungskreises Industriepolitik beim Bürgermeister jüngst unterstrichen. Mit beiden Bereichen und insbesondere ihrer Verschränkung wird die Hoffnung auf gute Arbeitsplätze, eine Produktivitätssteigerung und eine Sogwirkung für weitere Dienstleistungsbetriebe verbunden. Allerdings ist fraglich, inwiefern der formulierte Anspruch „öffentliches Geld nur für gute Arbeit“ in den wirtschaftspolitischen Förderungen der Koalition an dieser Stelle eingelöst wird. Denn es ist bekannt, dass in Start-ups oft prekäre Beschäftigungsverhältnisse vorherrschen (Seite 10) und Unternehmen wie Uber, Deliveroo oder Lieferando nicht nur den Aufbau einer Gig Economy vorantreiben, in der Arbeitsplätze zu Aufgabenpaketen zerfallen, sondern diese auch disruptive Wirkungen auf bestehende Wirtschaftsformen, das Zusammenleben in der Stadt und öffentliche Dienstleistungen haben können. Der Wirtschaftssenat bewirbt diese Unternehmen gern unter dem Schlagwort Urban Tech als wirtschaftliche Zukunft der Stadt. Darunter werden junge Unternehmensgründungen verstanden, die sich mit der Optimierung von urbanen Infrastrukturen etwa im Bereich Recycling, Wasser- und Energieversorgung, Mobilität, Bauen aber auch der Nahrungsversorgung auseinandersetzen. Damit wird eine affirmative technologieorientierte Zukunftsvision für Berlin entworfen, die sich bislang nicht mit den Folgen für die Stadt und deren Gestaltung auseinandersetzt. Eine Diskussion zu Erwerbsverhältnissen in der digitalen Wirtschaft findet nicht statt. Auch in der Industrie lässt sich seit 2005 kein nennenswertes Wachstum „guter Arbeitsplätze“ feststellen.

 

Nachfrageorientierung bleibt aus

Zudem wird die vorherrschende angebotsorientierte Wirtschaftspolitik nicht von Maßnahmen einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik flankiert, trotz der hohen öffentlichen Forschungszuschüsse für Unternehmen in der Stadt. Dabei ist bekannt, dass etwa die herausragende wirtschaftliche Profilierung des Silicon Valleys nicht allein auf der guten Vernetzung der lokalen Akteure aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft beruht, sondern auf einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik. Über Jahrzehnte hinweg flossen gezielt finanzielle Mittel in die Region und in der Grundlagenforschung wurden gemeinsam Problemlösungen entwickelt, die heute als Schlüsseltechnologien (GPS Navigation, Touchscreen, Stimmenerkennung) in den Produkten der Unternehmen Anwendung finden und maßgeblich zum wirtschaftlichen Erfolg der Region beitragen. Mariana Mazzucato hat die Rolle des Staates und öffentlicher Investitionen in der gezielten Technologieförderung 2014 in ihrem Buch „Das Kapital des Staates“ eindrücklich aufgearbeitet. Doch in Berlin setzt die Wirtschaftspolitik viel zu wenig auf diese Art konkreter Nachfrageimpulse, obwohl es dringende Probleme gibt, deren Lösung mit den vorhandenen Wissenschaftseinrichtungen, Unternehmen und den Bürger/innen gemeinsam entwickelt werden könnten, um ein Berlin der „Gerechtigkeit, Toleranz, Solidarität, ökologischen Verantwortung und des Fortschritts“ zu gestalten, wie es der Koalitionsvertrag formuliert.

 

Schlüsselfunktionen für die wachsende Stadt

Berlin sieht sich gegenwärtig mit einem beschleunigten Strukturwandel konfrontiert und immer komplexeren Problemstellungen, die nicht mehr von einem Fachressort bearbeitet werden können, sondern übergreifende Ansätze benötigen. Auch für die Wirtschaftspolitik bildet die wachsende Stadt ein zunehmendes Problem, denn es zeichnet sich vor allem in der Innenstadt ein stärkerer Konflikt zwischen den Nutzungen Arbeit und Wohnen sowie verschiedenen wirtschaftlichen Nutzungen ab. Insbesondere die schnell wachsenden und finanzstarken Start-ups verdrängen mit ihren Raumbedarfen Kleingewerbe, Kreative und Handwerksbetriebe in Innenstadtgebieten (MieterEcho Nr. 385/ Dezember 2016 und Nr. 393/ Februar 2018). Wesentliche Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Weiterentwicklung liegen zunehmend in anderen Politikfeldern, in den Bereichen Bildung, Wohnen, Verkehr sowie Büro- und Gewerbeflächen und damit außerhalb des Zuständigkeitsbereichs des Wirtschaftssenats. Die Berliner Verwaltung mit ihren jeweils starken Senatsverwaltungen ist bislang nicht in der Lage, auf diese Dynamiken angemessen zu reagieren.

1. Bildung: Eine gute Bildungsinfrastruktur ist eine wesentliche Voraussetzung für die Ausbildung an Fachkräften – doch schon jetzt rekrutiert die Mehrheit der IT-Unternehmen ihre Arbeitskräfte im Ausland und die Industrie mahnt den Mangel an geeigneten Fachkräften an. Noch immer verlässt jede/r zehnte Schüler/in in Berlin die Schule ohne Hauptschulabschluss. Obwohl die Arbeitslosenzahlen stetig sinken, zeigt sich vor allem für Geringqualifizierte, dass sich die Arbeitslosigkeit verhärtet und sie an dem wirtschaftlichen Aufschwung der Stadt nicht partizipieren. Eine gerechte und nachhaltige Wirtschaftspolitik muss auch diese Arbeitskräfte im Blick haben.
2. Wohnen: Für eine wachsende Wirtschaft nimmt auch die Wohnraumversorgung eine Schlüsselfunktion ein, doch dem gegenwärtigen Mietpreisanstieg und Mangel an bezahlbarem Wohnraum wird politisch nur unzureichend begegnet. Da die Lohnentwicklung Berlins noch weit hinterherhinkt, übersetzen sich Einkommensungleichheiten immer öfter in sozialräumliche Polarisierungen in wenigen Gebieten in der Stadt, wie es unter anderem das „Monitoring Soziale Stadtentwicklung“ zeigt. Zudem ist Berlin immer noch eine Stadt niedriger Einkommen und vieler Haushalte, die Transfereinkommen beziehen. Fast ein Fünftel der Berliner Haushalte gelten als armutsgefährdet, das heißt sie müssen mit weniger als 60% des durchschnittlichen Einkommens haushalten. Eine gerechte Wirtschaftspolitik muss auch für diese Haushalte eine wirtschaftliche Perspektive in der Stadt entwickeln und sie mit bezahlbarem Wohnraum versorgen können.
3. Verkehr: Weiterhin bildet die Verkehrsinfrastruktur eine Schlüsselfunktion für eine „innovative, gerechte und nachhaltige“ wirtschaftliche Entwicklung, doch diese ist in Berlin trotz eines sehr guten ÖPNV-Netzes oft nur mangelhaft – ob auf der Schiene, Straße oder in der Luft. Berlin hat im Juni das erste Mobilitätsgesetz in Deutschland verabschiedet, doch der Ausbau der Radverkehrsflächen kommt nur schleppend voran und wird bislang nur unzureichend von weiteren Maßnahmen flankiert, etwa dem Ausbau des ÖPNV-Angebots in Pendlereinzugsgebieten. Die Fertigstellung des neuen Flughafens bleibt ebenfalls ungewiss.
4. Büro- und Gewerbeflächen: Außerdem wird auch die Verfügbarkeit und Bezahlbarkeit von Büro- und Gewerbeflächen in der Berliner Innenstadt immer mehr zu einem Problem. Während Start-ups kaum geeignete Flächen finden, leiden Kleinunternehmer/innen unter einem stärkeren Verdrängungskampf, denn im Gewerbeimmobilienmarkt gibt es keinen Kündigungsschutz oder eine Miethöhenbegrenzung wie bei Wohnimmobilien. Der aktuelle Stadtentwicklungsplan Industrie und Gewerbe fokussiert nur den produktionsorientierten Bereich und die „Zukunftsorte“ (Gründerzentren), aber geht nicht auf die Raumbedarfe der bereits existierenden, kleinteilig strukturierten Berliner Unternehmen und Betriebe ein, die vornehmlich im Dienstleistungsbereich angesiedelt sind. Eine nachhaltige Wirtschaftspolitik muss auch die Interessen der Klein- und Kleinstunternehmen im Blick haben.

Integrierte Wirtschafts- und Stadtentwicklungspolitik

Im Koalitionsvertrag hat die Landesregierung soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit als zentrale Ziele der Wirtschaftspolitik formuliert, aber bislang sind dies nur Bekundungen. Der Schwerpunkt der Berliner Wirtschaftspolitik liegt einseitig auf der Technologie- und Innovationsförderung. Doch gerade weil Berlins Wirtschaft im Moment überdurchschnittlich gut wächst, ist es notwendig, endlich in den Standort – die Stadt – zu investieren, längst überfällige Reformen anzustoßen sowie bisherige Wirtschaftsförderungsmaßnahmen und deren Effizienz zu überprüfen. Gute Rahmenbedingungen wie eine zeitgemäße Bildungsinfrastruktur, ein ausgeglichener Wohnungsmarkt oder eine klimaschonende Verkehrspolitik sind wesentliche Grundbedingungen für eine „innovative, gerechte und nachhaltige“ Wirtschaftspolitik. Denn was nutzt eine brummende Wirtschaft, wenn sie nicht alle Bevölkerungsgruppen erreicht und Gehaltszuwächse durch rasante Mietsteigerungen zunichte gemacht werden?

Gig Economy (von englisch: Gig für Auftritt) stellt einen Teil des Arbeitsmarkts dar, bei dem Kleinaufträge kurzfristig an unabhängige Freiberufler/innen oder geringfügig Beschäftigte vergeben werden. Die Vermittlung der Aufträge erfolgt meist provisionspflichtig über eine Onlineplattform. Die Auftragnehmer/innen bringen in der Regel neben ihrer Arbeitskraft weitere Ressourcen wie Fahrzeuge oder Mobiltelefone ein, um die Dienstleistung zu erbringen. Beispiele für die Gig Economy sind Plattformen wie Uber (Fahrer für Personenbeförderung), Lieferando, Deliveroo und Foodora (Fahrradkuriere für Essenslieferung) oder MyHammer (Handwerkerleistungen). Plattformen existieren auch für Reinigungskräfte, Übersetzungen und anderes.  

Dr. Janet Merkel arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Stadt- und Regionalökonomie, Institut für Stadt- Regionalplanung, TU Berlin. Im Jahr 2014 promovierte sie zum Thema Kreativität und Stadt. 


MieterEcho 398 / Oktober 2018

Schlüsselbegriffe: Berlin,Koalitionsvertrag,Wirtschaftspolitik

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