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MieterEcho 387 / April 2017

Armut wegsanieren?

Auswirkungen der Erneuerung der armen Stadtteile Frankreichs auf die Bewohner/innen

Von Cécile Vignal

 

Die Stadterneuerungspolitik in Frankreich ist geprägt von der Abrisssanierung der vor allem von marginalisierten Bevölkerungsgruppen bewohnten Stadtteile. Unter dem Stadtplaner Georges-Eugène Haussmann fanden in Paris Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten Flächensanierungen statt, die heute als „Haussmannisierung“ bekannt sind. Eine zweite Welle von Abrisssanierungen erfolgte in den 1960er Jahren unter Charles de Gaulle. Mit dem Ziel der „sozialen Mischung“ werden seit 15 Jahren nun wieder Mietshäuser abgerissen.     

 

Sanierungsbedürftige Stadtteile sowie Bereiche der Pariser Innenstadt wurden ab den 1960er Jahren durch modernde Wohnungen, Bürogebäude, Einkaufszentren und Verkehrswege ersetzt. Damit einher ging in vielen Fällen eine Umquartierung der Bewohner/innen in die neu geschaffenen Großwohnsiedlungen am Stadtrand, den Banlieues. Für die betroffenen Arbeiter- und Angestelltenfamilien bedeutete dies einerseits einen Aufstieg in bessere Wohnverhältnisse, andererseits aber oft auch eine Entwurzelung.

Ab den 1970er Jahren orientierte sich die Politik für rund drei Jahrzehnte verstärkt an der Sanierung des Gebäudebestands. Das änderte sich wiederum um die Jahrtausendwende, als man erneut zur Abrisssanierung zurückfand. Diesmal traf es nicht allein heruntergekommene Altbauquartiere, sondern ebenso die vernachlässigten Sozialwohnungen in den cités, den Großsiedlungen. Maßgeblich dafür war das im Jahr 2003 in Kraft getretene und nach seinem Erfinder, dem damaligen Minister für Stadtentwicklung Jean-Louis Borloo, benannte Borloo-Gesetz. In diese Zeit fällt auch die Einrichtung der nationalen Agentur für Stadterneuerung ANRU (Agence nationale pour la rénovation urbaine).

Ursache der Renaissance der Abrisssanierungspolitik sind die schwerwiegenden gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte. Die Schere zwischen ärmeren und reicheren Bevölkerungsteilen wird stetig größer. Auf der einen Seite sind Angestellte und Arbeiter/innen zunehmend von Prekarität bedroht, Armut und Arbeitslosigkeit nehmen zu und Berichte über steigende Kriminalität führen zur Stigmatisierung der Bewohner/innen in marginalisierten Stadtteilen, mit und ohne Migrationshintergrund. Auf der anderen Seite lebt die obere Mittelschicht in gesicherten Verhältnissen und verfügt über steigende Einkommen, die es erlauben, die stark gestiegenen Mieten zu bezahlen oder Eigentumswohnungen in aufgewerteten Stadtteilen zu erwerben. Auf diese sozialräumlichen Ungleichheiten reagierte der französische Staat mit einer veränderten Stadtpolitik. Im Rahmen der politique de la ville (Stadterneuerungspolitik) werden 200.000 Wohnungen durch neue Wohnungen mit dem Ziel einer „sozialen Mischung“ ersetzt. Damit werden vor 40 Jahren vom Wohlfahrtsstaat geförderte Sozialwohnungen, deren Investitionen amortisiert sind und von denen nur wenige modernisiert wurden, abgerissen. Diese brachiale Form der Stadterneuerung ist für alle ausgewählten Orte gleich und unterscheidet sich stark von behutsameren und mit Beteiligungsverfahren begleiteten Prozessen in Deutschland oder Großbritannien.

 

„Soziale Mischung“ – nur für Arme    

Die offiziell angestrebte „soziale Mischung“ soll durch die Verteilung marginalisierter Bewohner/innen geschehen, die als umzugsresistent und sesshaft gelten. Zugleich sollen besser situierte  Haushalte und Mittelschichten angesiedelt werden. Die ANRU feiert es in den Evaluierungsberichten als Erfolg, „die Stadtteile in Bewegung zu setzen“, obwohl es dort immer schon Wohnortmobilität gab. Die Abrisssanierung zielt auf die Schaffung eines diversifizierten Wohnungsangebots, das eine Mischung von Eigentumswohnungen sowie privaten und sozial geförderten Mietwohnungen vorsieht, um eine als „optimal“ angesehene Bevölkerungszusammensetzung herzustellen. Dabei wird in offiziellen Berichten von peuplement (Besiedlung) gesprochen, einem Begriff, der historisch in die Bevölkerungspolitik zu Zeiten der Kolonisierung und des Algerienkriegs zurückreicht.

Dreizehn Jahre nach der Einführung der Politik der Abrisssanierung ziehen Evaluationsberichte und Forschungsarbeiten eine gemischte Bilanz. Zwar sind steigende Wohnortwechsel bei einigen wenigen jungen Haushalten mit Erwerbseinkommen zu beobachten. Die meisten Haushalte wünschen sich jedoch weiterhin, in ihrem Stadtteil zu bleiben, ohne eine Steigerung der Wohnkosten in Kauf nehmen zu müssen. Diese Wünsche werden im Rahmen des Programms jedoch nicht immer berücksichtigt. Zudem gibt es weitere Probleme. Die Ärmsten unter den Betroffenen wurden lediglich in anderen heruntergekommenen Sozialwohnungen in der Umgebung untergebracht. Die neugebauten Wohnungen sind als Miet- oder Kaufobjekte bei den Mittelschichten nicht besonders beliebt. Die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung in den betroffenen Stadtteilen veränderte sich nicht maßgeblich. Vielmehr ist eine Fortsetzung von ethnisch und sozial konnotierten Verhaltensmustern beobachtbar. Vermeidungs- und Fluchtstrategien der marginalisierten Bevölkerungsteile und der Mittelschichten zeigen sich in den Stadtteilen und laufen den Zielen des Programms zuwider.    

 

Ressourcen im Stadtteil

Haben der Abriss von Großwohnsiedlungen und der Neubau von „sozial gemischten“ Stadtteilen die Wohnungsprobleme der marginalisierten Schichten gelöst? Offenbar wurde bei der Planung nicht einkalkuliert, dass Abrisse zu einer Verlängerung der Wartelisten für die Sozialwohnungen führen. Die Zahl an Sozialwohnungen, die auch für die ärmsten Bevölkerungsteile bezahlbar sind, ging in Folge der Orientierung auf eine „soziale Mischung“ in den betroffenen Stadtteilen zurück. Diese Form der Stadterneuerung widerspricht zudem dem droit au logement opposable/DALO, dem gesetzlich verankerten Recht auf Wohnraum. Der dramatische Anstieg der Mieten in Frankreich seit Anfang der 2000er Jahre auf über 60% des durchschnittlichen Haushaltseinkommens machte die Sozialwohnungen zur einzigen Unterbringungsmöglichkeit für Millionen von einkommensschwachen Haushalten. Als sich unter Betroffenen Widerspruch gegen die Abrissmaßnahmen artikulierte, fanden ihre Vorschläge kein Gehör. Von offizieller Seite wurde verlautet, dass der Abriss unverhandelbar sei. Die Beteiligung der Bewohner/innen wird geschickt auf belanglose Fragen ausgerichtet. Die Desillusionierung der Bewohner/innen über die Partizipation und ihre Enttäuschung gegenüber den offiziellen Stellen sind die Folgen.

Das Leben in den betroffenen Stadtteilen aber geht weiter. Die Maßnahmen wiederum beschränken sich nicht nur auf Stadtteile mit Großwohnsiedlungen, sondern auch alte Arbeiter- und Industriestadtteile sowie das Umland der Städte und Dörfer auf dem Land sind Teil des Programms. Doch wie leben die Bewohner/innen der betroffenen Gebiete? Sie sind zumeist stark abhängig von sozialen Organisationen und öffentlichen Institutionen, welche ihnen den Zugang zu Sozialleistungen ermöglichen. Doch diese unerlässliche institutionelle Hilfe reicht nicht aus, wie eine mehrjährige ethnographische Untersuchung über Roubaix im Norden Frankreichs deutlich aufzeigt. In Roubaix haben sich Strukturen entwickelt, etwa solidarische Lebensmittelgeschäfte deren günstige Preise die Lebensrealität der Bewohner/innen widerspiegeln. Eine „Überlebensarbeit“ wird alltäglich von denjenigen geleistet, die vom Zugang zu geregelten Lohnarbeitsverhältnissen weit entfernt sind. Ein Teil dieser Arbeit ist der Informationsaustausch (beispielsweise über günstige Einkaufsmöglichkeiten), die Selbstherstellung von Gütern (Kleidung), die Inanspruchnahme von Dienstleistungen (im Bereich Gesundheit, Kinderziehung, Seniorenbetreuung oder Wohnung) oder die Einkommenssicherung über informelle Tätigkeiten (etwa bei Wohnungsrenovierung). Die informelle Arbeit widerspricht dem Klischee über eine angebliche Faulheit durch die Abhängigkeit vom Sozialstaat. Muss man diese einkommensschwachen Gruppen verjagen, um ihre Wohnungs- und Lebensbedingungen zu verbessern? Es ist jedenfalls leicht nachzuvollziehen, dass die mit dem Stadtteil verbundenen Ressourcen, dessen Bewohner/innen über ein großes soziales Netzwerk verfügen, dessen Voraussetzung gerade die örtliche Verankerung der Betroffenen ist, tote Winkel der aktuellen Stadterneuerungspolitik sind.

 

Übersetzung aus dem Französischen von Thomas Chevallier.

 

Cécile Vignal ist Lehrbeauftragte für Soziologie an der Universität Lille. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Stadtsoziologie und Soziologie des Wohnraums sowie benachteiligter Schichten der Bevölkerung. Publiziert hat sie zu Mobilität von Beschäftigten bei Betriebsumstrukturierungen, Alltagsorganisation von marginalisierter Bevölkerung, Selbstsanierung von Wohnraum und zum Erwerb von Wohneigentum.




MieterEcho 387 / April 2017

Schlüsselbegriffe: Stadterneuerungspolitik, Frankreich, Abrisssanierung, marginalisierte Bevölkerungsgruppen, Georges-Eugène Haussmann, Großwohnsiedlungen, Stadtrand, Banlieues, Borloo-Gesetz, Prekarität, Arbeitslosigkeit