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MieterEcho 391 / Oktober 2017

„An der untersten Grenze des Existenzminimums hat man keinen Puffer“

Interview mit Ella Kolodenna und Marion Kunert zum Thema Mietschulden

Mietrückstand ist der häufigste Kündigungsgrund. Die Beraterinnen Ella Kolodenna und Marion Kunert berichten, wie Mietschulden entstehen und was Betroffene tun sollten.

 

MieterEcho: Was sind aus Ihrer Erfahrung die häufigsten Ursachen von Mietschulden?

 

Ella Kolodenna: Die Ursachen von Mietschulden können sehr vielfältig sein. Es kann eine vorübergehende, aber gravierende Notlage sein, ausgelöst zum Beispiel durch eine Erkrankung, einen Unfall oder eine psychische Belastung. Manche Leute hören dann auf, ihre Post aufzumachen und haben nicht mehr im Blick, ob sie ihre Rechnungen bezahlen, weil sie ein Stück weit die Kontrolle verlieren. Eine andere Ursache kann sein, wenn sich die Zusammenstellung einer Familie ändert. Zum Beispiel wenn eine Familie zusammenwohnt und ein Elternteil verstirbt oder die Kinder ausziehen. Auf einmal stellt sich heraus, dass die Wohnung für die Zahl der verbleibenden Personen nicht mehr angemessen ist. Das Jobcenter leitet ein Absenkungsverfahren ein, nach dem nur noch ein Teil der Miete übernommen wird, und das ALG II reicht nicht aus, um einen Eigenanteil zu leisten. So häufen sich dann die Mietschulden. Eine andere Ursache kann auch eine Suchterkrankung sein. Von Mietschulden betroffen sind meistens Menschen, die auch sonst bereits sehr verschuldet sind. Wer irgendwann an die Miete herangeht, wohlwissend, dass es um das Dach über dem eigenen Kopf geht, hat keine Reserve mehr.

 


Marion Kunert: ALG II allein, ohne irgendeinen Zuverdienst, ist einfach knapp. Wir haben ganz viele Leute, die bereits als junge Menschen Schulden machen. Diese Schulden können sie mit dem wenigen Geld, das sie haben, gar nicht abtragen. Weil sie versuchen, alles trotzdem weiter zu bedienen, steht plötzlich ein Gläubiger auf der Matte oder eine Kontopfändung wird angekündigt. Wenn eine Kleinigkeit nicht funktioniert, kommen die Leute in eine Spirale hinein, und es wird die Miete genommen, um ein finanzielles Loch zu stopfen. Und dann sagen sie sich: „Im nächsten Monat versuche ich das wieder aufzuholen.“ Aber das funktioniert nicht, weil sie wirklich an der untersten Grenze des Existenzminimums leben, und da hat man keinen Puffer.


Was sind die ersten Schritte, wenn jemand mit Mietschulden oder einer Kündigung zu Ihnen kommt?



Kolodenna: Als erstes müssen wir uns ein Bild der Situation verschaffen. Eine fristlose Kündigung aufgrund von Mietschulden ist ja eigentlich heilbar, wenn man den kompletten Betrag überweist. Wenn das zu lange dauert, reicht der Vermieter eine Räumungsklage ein. Nach Zustellung der Klageschrift hat man trotzdem noch zwei Monate Zeit, die Kündigung zu heilen. Das Problem ist gegenwärtig, dass die Vermieter vorsichtshalber eine ordentliche Kündigung mitaussprechen, und die ist laut Gesetz nicht heilbar. Daher müssen wir zunächst den Vermieter fragen, ob eine Fortsetzung des Mietverhältnisses möglich ist, wenn wir den/die Mieter/in dabei unterstützen, die Mietschulden auszugleichen. Bei den größeren Wohnungsbaugesellschaften geht das meistens, bei den privaten Vermietern ist es unterschiedlich. Wenn private Vermieter das Mietverhältnis nicht fortsetzen wollen, liegt es manchmal daran, dass die Vermieter im selben Haus wohnen und das persönliche Verhältnis gestört ist, aber es gibt auch Fälle, bei denen die Vermieter andere Pläne mit ihren Wohnungen haben und diese sanieren und teurer wiedervermieten wollen. Wenn die Kündigung geheilt werden kann, beginnt der Beratungsprozess. Bevor eine Räumungsklage herausgeht, klärt man mit dem Vermieter, ob er bereit wäre, eine Ratenzahlungsvereinbarung zu schließen, wenn das für den/die Mieter/in machbar ist. Wenn ja, wird das schriftlich festgehalten und der Vermieter sichert damit auch zu, dass er von einer Räumungsklage Abstand nimmt. Wenn der Vermieter den Betrag auf einmal haben möchte, muss man schauen, ob man einen Antrag auf Mietschuldenübernahme beim Jobcenter stellt. Die Mietschuldenübernahme wird dann als Darlehen gewährt. Wenn Leute keine Transferleistungen beziehen, kann man sich bei einer besonderen materiellen Notlage auch an das Sozialamt wenden. Es ist immer notwendig, den Antrag gut zu begründen. Leider versuchen Leute oft, das allein zu machen, ohne eine Begründung abzugeben. Unvollständige Anträge können aber nicht bearbeitet werden.


Was lässt sich machen, wenn ein Familienmitglied auszieht oder verstirbt und die Wohnfläche im Sinne der Ausführungsvorschriften nicht mehr angemessen ist?



Kunert: Oberste Priorität ist, den Wohnraum zu erhalten, weil es eben keinen Ersatzwohnraum gibt. Es gibt ein paar Möglichkeiten, man darf auch den Richtwert der „Ausführungsvorschriften Wohnen“ (AV Wohnen) in besonderen Einzelfällen übersteigen, da muss man gut argumentieren.
Kolodenna: Wir müssen auch prüfen, ob Anspruch auf einen Mietzuschuss besteht, oder ob der Vermieter bereit wäre, einen Mietnachlass zu gewähren. Ich würde raten: Suchen Sie eine Beratungsstelle auf. Wir prüfen immer, ob es Ansprüche auf Sozialleistungen gibt und ob bisherige Bescheide korrekt sind.
Gelingt es in der Regel, die drohende Wohnungslosigkeit abzuwenden?


Kunert: Meine Vermutung ist, dass die privaten Vermieter den Wohnraum teurer vermieten wollen. Für Kündigungen reichen Vertragsverstöße wie zum Beispiel verspätete Mietzahlungen. Es kommt auch öfter vor, dass Räumungen durchgezogen werden. Früher haben wir es manchmal geschafft, dass die Leute vorher ausziehen konnten. Das geht heute alles nicht mehr. Und das Sozialamt bringt Menschen erst dann unter, wenn die Wohnung wirklich verloren ist.


Kolodenna: Es gibt Fälle, die sich ein Anwalt oder eine Anwältin angucken sollte, etwa wenn Mietschulden zum allerersten Mal entstanden sind und durch besondere Umstände begleitet wurden. Dann ist auch die fristgemäße Kündigung rechtlich angreifbar.


Würden auch Familien mit Kindern zunächst in einer Unterkunft landen?


Kolodenna: Die Menschen, die zu uns kommen, äußern oft: „Wie kann man eine ältere kranke Frau aus ihrer Wohnung räumen oder eine Familie mit Kindern? Das kann man uns doch nicht antun!“ Und oft unternehmen sie ganz lange nichts, weil sie sich ganz sicher sind, dass niemand ihnen das antun würde. Dann muss man quasi sagen: Was Sie sagen, ist wünschenswert, aber so funktioniert leider unsere kapitalistische Welt nicht.


Kunert: Wenn nichts zu retten ist, sollte man nach Eingang der Klage Widerspruch einlegen, sodass es zu einem Verhandlungstermin bei Gericht kommt. Dort kann man versuchen, eine längere Räumungsfrist auszuhandeln.


Kolodenna: Wer gar nicht auf die Post vom Amtsgericht reagiert, bekommt ein Versäumnisurteil und das kostet dreifache Gerichtsgebühren. Innerhalb von zwei Wochen sollte man die Absicht erklären, sich zu verteidigen.


Wie kommt man nach Verlust der Wohnung an Ersatzwohnraum?
Kolodenna: Die städtischen Wohnungsbaugesellschaften sind Kraft Gesetz verpflichtet, zumutbaren Ersatzwohnraum anzubieten (Gesetz über die Neuausrichtung der sozialen Wohnraumversorgung in Berlin § 4 Absatz 2). Wenn man nicht bei einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft wohnt, muss man sich an die soziale Wohnhilfe beim Sozialamt wenden und um eine Unterbringung bitten. Das Sozialamt kann in das geschützte Marktsegment vermitteln. Die Nachfrage übersteigt aber bei Weitem die Möglichkeiten. Selbst wenn der Antrag bewilligt wird, muss man sich selbst innerhalb des geschützten Marktsegments auf die Wohnungssuche machen. Es dauert nach Erfahrungen unserer Klient/innen ein Jahr oder länger, dort eine Wohnung zu finden.        

Vielen Dank für das Gespräch. 



Das Interview führte Jutta Blume.

 

Die Beraterinnen Ella Kolodenna und Marion Kunert beraten im seit 2016 bestehenden Projekt „Spandau wohnt“. Es gehört zur Immanuel Beratung Spandau, die seit Langem allge
meine Sozialberatung im Bezirk anbietet. „Spandau wohnt“ ist Anlaufstelle für Mieter/innen aus Spandau mit Miet- und Energieschulden und wird vom Bezirk getragen. 
Kontakt zur Immanuel Beratung Spandau: 
Hasenmark 3, 13585 Berlin, Tel. 030-3313021, E-Mail: beratung.spandau@immanuel.de



Die Berliner MieterGemeinschaft bietet ihren Mitgliedern Mietrechts- und Sozialberatung kombiniert an: jeden Montag von 16 bis 18 Uhr und jeden Freitag von 15 bis 17 in der Beratungsstelle Sonnenallee 101, Neukölln. Weitere Termine für Sozialberatung siehe www.bmgev.de/beratung/sozialberatung.html

 


MieterEcho 391 / Oktober 2017

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