Moritzplatz als „Makerplatz“?
Vom Niemandsland zum Hotspot der Kreativindustrie
Von Erwin Riedmann
Wer nach 2009 für ein paar Jahre nicht am Moritzplatz gewesen war, könnte sich schwer getan haben, ihn wiederzuerkennen. Nach einer langen Geschichte von Brachennutzungen und immer wieder verworfenen Neuplanungen veränderten damals eine Reihe von Unternehmen, die gewöhnlich der „Kreativindustrie“ zugerechnet werden, die wirtschaftliche Struktur und das symbolische Gewicht des Platzes im Stadtraum binnen kürzester Zeit grundlegend. Von dieser Transformation erzählt nun eine „metroZapp“ genannte Anwendung für Android-Mobilgeräte, die die Stadtforschungsgruppe metroZones vor Kurzem veröffentlicht hat.
Als ein – für die Anwendung „metroZapp“ interviewter – Anwohner in den 1980er Jahren dorthin zog, galt ihm der Oranienplatz als „Mittelpunkt der Welt“, der 300 Meter entfernte Moritzplatz jedoch als das „Ende der Welt“ – eine „reine U-Bahnstation mit nichts drauf und nichts drum herum“. Lange verzeichnete die mentale Stadtkarte vieler Berliner/innen den Moritzplatz tatsächlich als „Niemandsland“, was seiner doppelten Grenzsituation durchaus entsprach. Dort verlief nicht nur die Berliner Mauer, die der Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße an der Nordseite des Moritzplatzes kaum zu unterbrechen vermochte. Dort verlief entlang der Prinzenstraße auch eine baulich-soziale Grenze zwischen dem deutschstämmigen Arbeitermilieu in der kriegszerstörten, mit sozialem Wohnungsbau erneuerten südlichen Friedrichstadt und dem Alternativmilieu sowie den türkischstämmigen Einwanderer/innen im gründerzeitlichen, behutsam sanierten „SO 36“.
Selbst nach dem Mauerfall blieb der Moritzplatz noch 20 Jahre lang weitgehend konturlos. Schlagzeilen machte das Quartier lediglich als rote Laterne des Sozialstrukturatlas, der das Gebiet um den Moritzplatz wegen der statistisch errechneten „ungünstigen Sozialprognose“ auf den letzten Rang der Berliner Sozialräume verwies. Während das Quartier konstant hohe Armutsraten verzeichnete, vollzog sich quasi über den Moritzplatz hinweg eine räumliche Verschiebung der Armut. Lagen die ärmsten Kreuzberger Quartiere in den 1990er Jahren noch östlich der Prinzenstraße, so waren sie bald danach in der westlichen Hälfte zu finden. In SO 36 hatte bereits die Gentrifizierung eingesetzt.Heute ist der Moritzplatz auf den mentalen Karten jedenfalls der „Kreativmilieus“ deutlich verortet und die Oranienstraße, die nominell schon immer bis zur Lindenstraße reichte, endet gefühlt nun nicht mehr am Oranien-, sondern immerhin am Moritzplatz, wie Mitarbeiter/innen der ehemaligen Bona-Peiser-Bibliothek in „metroZapp“ erklären. Die Aneignung des Moritzplatzes durch die sozioökonomisch gespaltene, aber kulturell relativ homogene Gruppe der „Kreativen“ zeigte sich ganz unverblühmt, als die umliegenden Unternehmen den Platz im September 2011 kurzerhand symbolisch in „Makerplatz“ umbenannten.
Akteure der Kreativwirtschaft
Unter den Schlagworten der „Maker“ oder der „Kreativen“ verbergen sich unterschiedliche Akteure mit verschiedenen Ressourcen und Interessen am umgebenden Quartier und der Stadt. Es lohnt sich daher, die neuen Unternehmen am Moritzplatz etwas genauer zu betrachten.
Der Prinzessinnengarten ist ein auf dem ehemaligen Wertheim-Grundstück gelegener städtischer Garten, der als Stadtoase mit Gastronomie sowohl Nachbar/innen als auch Tourist/innen versammelt. Der gemeinnützigen GmbH „Nomadisch Grün“ gelingt dort eine seltene Mischung sozialer Gruppen, indem sie neben dem Café- und Restaurantbetrieb auch Gartenworkshops und Veranstaltungen anbietet und zugleich international in den Medien, bei Ausstellungen oder auf Tagungen Präsenz zeigt. Gegärtnert wird nach wie vor in Reissäcken, Bäckerkisten und Pflanzkübeln – nicht nur wegen der möglichen Kontamination des Bodens, sondern um mobil zu bleiben. Schließlich droht dem Garten das klassische Schicksal von Pionieren im Aufwertungsprozess, nämlich verdrängt zu werden, wenn der Pachtvertrag 2018 verlängert werden muss. Die Pflanzen mögen mobil sein, das gewachsene Netzwerk zwischen Nachbar/innen, befreundeten Organisationen und umliegenden Unternehmen ließe sich allerdings kaum umziehen.
Modulor ist ein mehrstöckiges Materialkaufhaus im Inneren des „Aufbau Hauses“, das sich auf den Bedarf von Künstler/innen, Architekt/innen, Designer/innen und Bastler/innen spezialisiert hat. Räumlich und funktional an Modulor angelagert bieten eine Reihe wirtschaftlich unabhängiger, kunsthandwerklicher Kleinstbetriebe wie das „Nähinstitut“ oder eine Goldschmiede die Möglichkeit, das bei Modulor erworbene Material gleich zu verarbeiten. Auf der Suche nach einem größeren Standort hatte Modulor das Bechsteinhaus am Moritzplatz entdeckt und ein Konzept dafür entwickelt. Das sah unter anderem vor, die eigene aufwertende Wirkung auf den lokalen Immobilienmarkt mit ästhetischen Mitteln, etwa durch vorgelagerte rostende Container, abzuschwächen. Beim schließlich gefundenen Investor, dem Eigentümer des Aufbau-Verlags Matthias Koch, war dieser „raue“ Aspekt des Konzepts allerdings nicht durchsetzbar. Andere Aspekte des Konzepts wurden dagegen übernommen und 2011 eröffnete schließlich das Aufbau Haus mit 50 Unternehmen der Kultur- und Kreativindustrie – von oft prekären Soloselbständigen bis zu mehr oder weniger soliden Kleinunternehmen. Das Betahaus ist ein Coworking Space in der Prinzessinnenstraße, der 120 kurz- bis mittelfristige Büroarbeitsplätze sowohl an Solo-Selbständige als auch an klassische Großunternehmen vermietet, die von den Ideen der „Kreativen“ profitieren wollen. Es geht im Betahaus also nicht nur ums Arbeiten, sondern – jedenfalls für das schmale Segment von „Kreativarbeiter/innen“, das hier tätig ist, auch um Arbeitsvermittlung. Anders als die in Kreuzberg altbekannte Büroetage ist der Coworking Space nicht selbst organisiert. Seine Betreiber kümmern sich vielmehr um die gesamte Infrastruktur, schaffen niedrigschwellige Angebote zur Anbahnung beruflicher Kontakte und helfen beim Einüben unternehmerischen Denkens und Handelns – man versteht sich schließlich als Inkubationsraum für die Start-up-Szene. Einerseits existiert damit eine offene Flanke zum Wirtschaftsliberalismus vom Typus Silicon Valley, andererseits pflegt man aber auch, den Kaliforniern nicht unähnlich, die spirituelle Seite. Jedenfalls fanden im Betahaus eine Zeit lang immer sonntags Gottesdienste des „Berlinprojekts“ statt, das der „Welthauptstadt des Atheismus“ (Peter L. Berger) die Religion näher bringen will. Der Moritzplatz als Wirtschaftsstandort ist für das Betahaus vor allem wegen seiner guten verkehrstechnischen Erschließung von Bedeutung. Man kommt gut hin und wieder weg und ist ansonsten eher global als lokal orientiert.
Kreuzberg am Rand von Mitte
Die Aufzählung ist keineswegs abschließend. Der erste „kreative“ Pionier direkt am Platz, der Laden schœner.wærs.wenns.schœner.wær für nachhaltiges Design, schloss zum Jahresende 2015 bereits wieder. Im seit 2012 umgebauten Elsnerhaus in der Oranienstraße 140-142 existiert das Musikalienkaufhaus Just Music. Und im Rücken des Betahauses an der Ritterstraße vertreibt der Online-Handelsplatz etsy Produkte des Kunsthandwerks. Während die „Kreativindustrie“ sich nach wie vor im Aufwind sieht, wird die alteingesessene Bona-Peiser-Bibliothek, die auf Kriminalgeschichten sowie Reise- und insbesondere Städteliteratur spezialisiert war, zu einem Schatten ihrer selbst degradiert. Ohne den Protest von Anwohner/innen und lokalen Initiativen („Das ist unsere Bücherei“) hätte der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg die Bibliothek ganz geschlossen. Jetzt geht es lediglich als Rumpfbibliothek mit stark eingeschränkten Öffnungszeiten und weniger Dienstleistungen weiter. Unter den Bedingungen der Austerität wird Bildung offenbar zur Privatsache; Bücher gibt es ja schließlich auch im Buchladen.
Der Moritzplatz entwickelte sich binnen weniger Jahre unerwartet zu einem wachsenden Cluster der „Kreativindustrie“. Dabei ist es stadträumlich betrachtet wohl kein Zufall, dass dieser eigentümliche Mix aus formeller und informeller – und dabei weitgehend prekärer – Ökonomie, aus Welt- und Lokalbezug, aus hippem Unternehmertum und idealistischem Broterwerb just am Moritzplatz entstanden ist, auf dem Weg vom armen, aber aufmüpfigen Kreuzberg in die allmählich schicke, jedenfalls glattere und betuchtere Mitte.
Der Sozialwissenschaftler und angehende Informatiker Erwin Riedmann ist Mitglied der Stadtforschungsgruppe metroZones und Korrektor des MieterEchos.
MieterEcho 385 / Dezember 2016
Schlüsselbegriffe: Moritzplatz, Hotspot, Kreativindustrie, Stadtforschungsgruppe metroZones, metroZapp, Prinzessinnengarten, Modulor, Aufbau Haus, Betahaus, Coworking Space, Bona-Peiser-Bibliothek