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MieterEcho 372 / Februar 2015

Stadtentwicklungspolitik bebildert

Zwei Bildbände zeigen Veränderungen von Kreuzberg und Mitte

Von Ralf Hutter                             

Der 71-jährige Dieter Kramer ist ein fotografischer Chronist von Kreuzberg 36 und dessen bewegter wohnungspolitischer Geschichte. Nun schickt er sich an, auch einer von Mitte zu werden.                             


Dieter Kramer fotografiert zurzeit wieder „jede Menge“, wie er sagt. Große Panoramen werden es, digital aufgenommen. „Es hat sich viel getan bis heute“, so der Hobby-Fotograf über das Objekt seiner fotografischen Begierde: Berlin-Mitte. Der 71-jährige lichtet Stellen in Berlins Zentrum ab, die er bereits Anfang der 90er Jahre fotografiert hatte. Das Vorher-Nachher-Prinzip werde die meisten Seiten seines nächsten Buchs füllen, kündigt er an. Oben eine Leiste mit ganz alten Bildern, in der Mitte die Fotos aus den bewegten 90ern, unten die aktuellen Panoramen – so soll es durch die südliche Friedrichsstadt, die Dorotheenstadt, den Spreebogen und den Potsdamer Platz gehen.Seinem Hobby Fotografieren ging Kramer in verschiedenen Phasen seines Lebens mit unterschiedlicher Intensität nach. Anfang der 90er Jahre motivierten ihn die mit dem Ende der DDR einhergehenden Wandlungen in Mitte. In den 80er Jahren hatte er berufsbedingt keine Zeit gehabt, bedauert der ehemalige Ausstellungsbauer. Damals hätte er „fast alle Ausstellungen für den Stadtentwicklungs- und Bausenat und für die Internationale Bauausstellung (IBA) gemacht“. Nachdem er 1965 zum Kunstpädagogik-Studium von Minden in Westfalen nach Berlin gekommen und 1968 nach Kreuzberg gezogen war, wurde der Arbeitskreis Bauen/Wohnen der Kreuzberger Jusos für Kramer zur entscheidenden Instanz. „Da haben wir Anfang der 70er Mieterinitiativen organisiert.“ Parallel dazu begann er, den damaligen Postbezirk SO 36 zu fotografieren. Für Stadtentwicklung hatte er sich bereits damals interessiert.        

 

Flächenabriss in Kreuzberg        

Aus jenen Fotos wurde ein 2013 erschienener Bildband über Kreuzberg 36, in dem ebenfalls gelegentlich das Vorher-Nachher-Prinzip angewendet ist. Kramer hat die Entwicklungen des Stadtteils seit 1968, gerade auch den enormen Bevölkerungsaustausch, hautnah mitbekommen, wie er in seinem Buch schreibt. Im vom Krieg und den Jahrzehnten danach gebeutelten Kreuzberg wurden viele Menschen aus der Türkei angesiedelt. „Danach kamen noch Studenten und Alternative“, so Kramer. Zuvor hätten sehr viele Alteingesessene den Stadtteil in recht kurzer Zeit verlassen, nicht nur, weil viele Alte in Heime kamen. „Das ging so schnell, weil die alten Häuser alle verrottet waren. Die sollten ja alle abgerissen werden. Ganz Kreuzberg sollte abgerissen werden. Es sollte alles so werden wie in der Stadtmitte Ost-Berlins und die Autobahn sollte mitten durch. Die Autobahnplanung spielte eine entscheidende Rolle, denn sie verhinderte jede Modernisierung. Zeitgleich entstanden am Stadtrand die Neubauviertel. Ich denke, das war in der DDR sehr ähnlich. Die Stadtmitte war völlig vergammelt und Badezimmer gab es nur in Marzahn und Hellersdorf, bei uns eben im Märkischen Viertel und in Britz, Buckow und Rudow.“ An diesem Prozess wirkte auch der Berliner Baufilz entscheidend mit. Kramer berichtet, wie ganze Straßenzüge in Kreuzberg nicht nur wegen der Autobahn abgerissen werden sollten, sondern auch, um an ihrer Stelle Neubau zu ermöglichen. Die West-Berliner „Mafia aus den Wohnungsbaugesellschaften und Parteien“ hätte jeden Gedanken an Modernisierung verhindert. Diese stadtentwicklungspolitischen Erfahrungen sind es, die Kramers Buch „Kreuzberg 1968-2013. Abbruch, Aufbruch, Umbruch“ zu weit mehr als nur einem stadthistorischen Bildband machen. Allerdings ist der Buchtitel gleich doppelt falsch – einmal in positiver, einmal in negativer Hinsicht. Zum einen liegt ein Etikettenschwindel vor, denn das Buch beschäftigt sich nur mit der östlichen Hälfte Kreuzbergs, eben jenem SO 36. Darüber hätten sich viele beschwert, gesteht Kramer ein, als er mit der Kritik konfrontiert wird. „Aber der Begriff SO 36 ist so abgeklappert.“ Zum anderen aber – und hier ‚verkaufen’ Verlag und Autor ihr Werk unter Wert – ist die erste Jahreszahl falsch gewählt. Das 224 Seiten umfassende Buch ist mit seinen 550 Abbildungen ein Spaziergang nicht nur durch weite Teile von SO 36, sondern auch durch die Jahrhunderte. Von vielen Orten erzählt Dieter Kramer die Geschichte bis weit zurück ins 19. Jahrhundert. Dabei kann er aus seiner Sammlung historischer Postkarten, Fotos und Stadtpläne schöpfen. Die Texte zu den vielen Bildern sind kurz, aber Kramer schafft es, in die wohnungspolitischen Auseinandersetzungen seit den frühen 1970ern einzuführen. Er berichtet über die Hausbesetzungsbewegung der 80er Jahre sowie die in die gleiche Zeit fallende – vom SPD-Bausenator Harry Ristock geprägte – Internationale Bauausstellung zur behutsamen Stadterneuerung (IBA Altbau) und wie beide Kreuzberg vor dem Flächenabriss bewahrten. Der Bildband behandelt auch die Geschichte einzelner Blöcke, einschließlich mancher Kämpfe. Wer diesen Stadtspaziergang in Buchform gelesen hat, wird in Kreuzberg 36 vieles anders wahrnehmen. „Ich wollte erst ein einziges Buch machen: Berlin vorher-nachher, Kreuzberg und Mitte“, so Kramer. Doch das Material war zu viel. Selbst zu Mitte reicht ein Buch nicht – der Hobby-Fotograf hat bereits einen dritten Band über die historische Stadtmitte und den Schlossbezirk in Planung. „Bisher habe ich alle Texte selbst geschrieben, aber dazu werde ich vielleicht nur die Fotos liefern,“ kündigt Kramer an.         
Das erste Mitte-Buch mit dem Titel „StadtMitte Zustände“ wird voraussichtlich im Herbst erscheinen                 

 

Dieter Kramer: „Kreuzberg 1968-2013. Abbruch, Aufbruch, Umbruch.“ Verlag Nicolai, 224 Seiten,
27 x 23 cm, 550 Abbildungen, gebunden, 29,95 Euro


MieterEcho 372 / Februar 2015

Schlüsselbegriffe: Bildbänd, Veränderungen, Kreuzberg 36, Mitte, Dieter Kramer, wohnungspolitische Geschichte, Stadtentwicklung, Friedrichsstadt, die Dorotheenstadt, Spreebogen, Potsdamer Platz, DDR