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MieterEcho 378 / Dezember 2015

Politisch provozierte Krise

Die Flüchtlingszuwanderung hat die Krise der Berliner Verwaltung nicht ausgelöst, sondern zeigt die Fehlentwicklungen der vergangenen Jahre

Von Christian Schröder                                        

Die Berliner Landessozialbehörde, das Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso), brach im August 2015 zusammen. Mehrere hundert Geflüchtete warteten wochenlang bei Temperaturen von über 30 Grad Celsius vor dem Lageso in der Hoffnung, ihr Asylgesuch vorbringen zu können, eine Unterkunft zugewiesen zu bekommen oder die ihnen zustehenden Sozialleistungen zu erhalten. Die Verantwortlichen schauten rat- und tatenlos zu. Die Bilder vom Lageso gingen bundesweit durch die Medien.                                        

Die Probleme des Lageso bestehen jedoch nicht erst seit der jüngsten Zunahme der Zuwanderung nach Deutschland über die Balkanroute seit September 2015. Die Sozialbehörde konnte ihre Aufgaben bereits seit Monaten nicht mehr erfüllen. Sie schickte Asylsuchende in die Obdachlosigkeit und gewährte ihnen ihre zustehenden Sozialleistungen nicht. Das Lageso ist nur ein Beispiel für das Versagen der Behörden in Berlin. Die Flüchtlingszuwanderung führte nicht zur Krise der Berliner Verwaltung, sondern ist der Katalysator, der die Fehlentwicklungen der letzten Jahre offen zutage treten lässt. „Die Flüchtlingsproblematik hat die Unzulänglichkeiten der Berliner Verwaltung sowie der Verwaltungsstrukturen schonungslos offengelegt“, sagte der Haushaltsexperte der Berliner Grünen-Fraktion, Jochen Esser, am 14. Oktober 2015 im Abgeordnetenhaus. „Was würde in Berlin wohl passieren, wenn tatsächlich mal eine Katastrophe eintritt?“                

 

Weniger Personal für eine wachsende Bevölkerung    

„Jetzt rächt sich der enorme Personalabbau der letzten Jahre, es fehlt Personal in allen Bereichen“, heißt es in einem Positionspapier des ver.di-Bundesfachbereichsvorstands für Gemeinden. Die Asylsuchenden „treffen auf einen öffentlichen Dienst von Berlin, der aufgrund des Spardiktats der vergangenen Jahre personell so heruntergefahren wurde, dass jede zusätzliche Arbeit eigentlich nicht mehr geleistet werden kann“, kritisiert der Berliner Hauptpersonalrat.                

Berlin hat seit der Wiedervereinigung das Personal in der Verwaltung in erheblichem Umfang reduziert. Von 2001 bis 2011 wurden über 30.000 Vollzeitstellen im öffentlichen Dienst abgebaut. Doch seit einigen Jahren wächst die Berliner Bevölkerung um knapp 50.000 Einwohner/innen jährlich – Geflüchtete nicht mitgezählt. Beschäftigtenvertreter/innen und Bezirke klagen schon lange über einen zu radikalen Sparkurs. Die rot-schwarze Regierungskoalition hingegen bekräftigte in ihrem Koalitionsvertrag vom November 2011 den weiteren Abbau auf die „Zielzahl von 100.000 Vollzeitäquivalenten in der Verwaltung“. Erst 2014 wurden in der Koalition und im Senat die Stimmen langsam lauter, die forderten, von diesem Ziel abzurücken.            

 

Sparkurs im Lageso                    

Beim Lageso betrug die „Einsparquote“ im Personalbereich bis 2008 bis zu 20%. Von 2010 bis 2013 stieg die Zahl der nach Berlin kommenden Asylsuchenden zunächst langsam, aber stetig. Bereits 2012 kritisierten Mitarbeiter/innen des Lageso, dass die zunehmende Arbeit nicht mehr zu leisten sei. Auf einer Personalversammlung am 10. Oktober 2012 schilderten die Lageso-Mitarbeiter/innen eindrucksvoll ihre Überlastung. Daraufhin stattete ihnen der damalige Sozialstaatssekretär Michael Büge (CDU) am 16. November 2012 einen Besuch ab und verschaffte sich einen persönlichen Eindruck. In der Folge gab es zwar ein wenig zusätzliches Personal, aber die Arbeit der Mitarbeiter/innen nahm in einem größeren Umfang zu, als durch das neue Personal ausgeglichen werden konnte, bemängelte der Personalrat die Entwicklung. Bereits im Sommer 2013 wandte sich der Personalrat mit offenen Briefen und Gefährdungsanzeigen an den Senat und ans Berliner Abgeordnetenhaus. Im August 2013 übersandte die ver.di-Betriebsgruppe im Lageso einen „Brandbrief“ an Senat und politische Entscheidungsträger. „Die Bearbeitung der Anträge der Hilfesuchenden auf einmalige Beihilfen, Heilmittel, Pflegeleistungen, Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabe-Paket verzögert sich um Wochen und Monate. Hilfestellung bei Angelegenheiten, welche aus bestehenden Mietverträgen resultieren, kann nicht zeitnah gewährt werden.“ Kurz darauf wandten sich die Mitarbeiter/innen der Zentralen Leistungsstelle für Asylbewerber (ZLA) im Lageso in einem offenen Brief an die Öffentlichkeit. „Wir sind am Rand der Verzweiflung angelangt und fühlen uns der nicht mehr zu bewältigenden Situation schutzlos ausgeliefert.“ Von 2010 bis 2014 erhielt der für die Flüchtlingsaufnahme zuständige Arbeitsbereich im Lageso 72,5 „Beschäftigungspositionen“, befristete Stellen für die Flüchtlingsaufnahme. „Wenn man jedoch davon ausgeht, dass die Fallzahlen um 450% gestiegen sind, dann entsprechen diese 72,5 Beschäftigungspositionen gerade mal 155%“, kritisierte Karen Busch vom Lageso-Personalrat am 26. November 2014 bei einer Anhörung im Abgeordnetenhaus. Während Mitte des letzten Jahrzehnts eine Vollzeitkraft 130 Akten bearbeiten sollte, waren es Ende 2014 bereits zwischen 400 und 500 Akten, berichtete sie.     

 

Kein Personalbedarfskonzept                

„Es geht einfach um eine synchrone, zeitnahe Anpassung des Personalschlüssels an entsprechende Antragszahlen“, so Karen Busch. Doch in Berlin gab es keine Kennzahlen dafür, wie viele Vollzeitstellen für wie viele Asylsuchende notwendig sein sollen. Jede Anzahl an neuen Mitarbeiter/innen wurde zwischen der betroffenen Verwaltung und der Senatsfinanzverwaltung ausgehandelt. Erst im Mai 2015 einigten sich beide Verwaltungen auf Kennzahlen für die Personalausstattung in der Zentralen Leistungsstelle für Asylbewerber (ZLA), die quartalsweise ermittelt werden sollen. Behoben sind die Personalprobleme damit noch lange nicht. Denn neue Mitarbeiter/innen müssen ausgewählt, eingestellt und eingearbeitet werden – und sie brauchen Büroarbeitsplätze. Das Lageso hat große Probleme bei der räumlichen Unterbringung der neuen Mitarbeiter/innen. Die Situation ist nicht nur für die Asylsuchenden katastrophal, sondern führt auch zu einer unzumutbaren Arbeitssituation für die Mitarbeiter/innen. Zunächst rückten die Mitarbeiter/innen in den Büros zusammen, Besprechungsräume wurden abgeschafft und Bürocontainer im Hof aufgestellt. „Die Beschäftigten des Lageso arbeiten seit Monaten unter zum Teil nicht zumutbaren räumlichen und ergonomischen Zuständen weit über ihre Belastungsgrenzen hinaus, um die Flüchtlinge möglichst schnell unterzubringen“, bemängelt der Hauptpersonalrat.                                    

 

Ruheständler/innen als Hoffnungsträger        

Am 11. August 2015 beschloss der Senat, Freiwillige aus anderen Behörden und Ruheständler/innen zur Unterstützung für das Lageso zu akquirieren. Eine Woche später erging ein Aufruf an die aktuellen und ehemaligen Mitarbeiter/innen der Berliner Verwaltungen, das Lageso bei der Flüchtlingsaufnahme zu unterstützen. Von rund 450 Freiwilligen aus anderen Verwaltungen waren zum 2. Oktober lediglich 180 ins Lageso vermittelt. Abordnungen aus anderen Verwaltungen sind jedoch immer nur temporär, und die abgeordneten Mitarbeiter/innen fehlen an ihren eigentlichen Arbeitsplätzen. Daher hoffte der Senat darauf, Ruheständler/innen für den Dienst im Lageso zu aktivieren. „Die Beschäftigung von Ruhestandsbeamten auf Honorarbasis oder auf Basis eines befristeten Arbeitsvertrags ist leicht umsetzbar“, so Klaus Dauberstädt, Präsident des Deutschen Beamten-Bundes. Nicht so in Berlin: 141 Ruheständler/innen haben sich bis Anfang Oktober freiwillig auf den Aufruf gemeldet. Doch von den gemeldeten Rentner/innen und Pensionär/innen waren bis November gerade mal vier im Einsatz. Das Problem: Ruhestandsbeamt/innen haben nur die – für sie wenig attraktive – Möglichkeit, eine Tätigkeit im Lageso unter Anrechnung ihrer Ruhestandsbezüge aufzunehmen. Die Senatsinnenverwaltung blockiert seit Wochen eine Regelung, die Abhilfe schaffen soll.                                     

 

Fortsetzung des Chaos in den Bezirken        

Am 15. Oktober 2015 äußerten die Leiter/innen aller bezirklichen Sozialämter in einem Brief die Sorge, dass sich die chaotischen Zustände vor dem Lageso in die Bezirke verlagern. Anlass war die Ankündigung von Sozialsenator Mario Czaja (CDU), dass zum Jahresende die Bezirke für mindestens 20.000 geflüchtete Menschen zuständig sein würden. Denn sobald Asylsuchende als Flüchtlinge anerkannt sind oder ihr Asylbegehren abgelehnt wird, fallen sie in die Zuständigkeit der Bezirke. Dann müssen sich die bezirklichen Sozialämter um die Sozialleistungen und die Unterbringung kümmern. Doch auch in den Bezirken ist die Personalsituation nicht besser. Mitte Oktober versprach der Senat 145 zusätzliche Stellen für die Bezirke – diese sind aber für alle Ämter gedacht, nicht nur für die Integration der Geflüchteten. Bereits heute sind die Bezirke damit überfordert, Unterkünfte für Obdachlose und geduldete Flüchtlinge bereitzustellen. Es gibt viel zu wenige preiswerte Wohnungen. Derzeit wohnen rund 2.500 der Geflüchteten, für die eigentlich die Bezirke zuständig sind, in den Gemeinschafts- und Notunterkünften des Lageso.                 

Die Lage für Asylsuchende und Beschäftigte am Lageso bleibt katastrophal – trotz neu eröffneter Standorte in der Kruppstraße und in der Bundesallee. Jede Nacht warten hunderte Asylsuchende in der Kälte, um einen Platz möglichst weit vorn in der Schlange zu ergattern. Am 13. November 2015 protestierten rund 60 Flüchtlinge vor dem Lageso in der Turmstraße gegen die Zustände, blockierten eine Fahrbahn und forderten, sie zu einer Unterkunft zu bringen. Eine Verbesserung der Situation ist nicht in Sicht. Seit Jahren wiesen immer mehr Anzeichen auf die hausgemachte und politisch provozierte Krise in der Berliner Verwaltung hin. Nur wer bewusst weggeschaut hat, konnte dies übersehen. Die in den letzten Monaten gestiegenen Flüchtlingszahlen sind weder die Ursache der Verwaltungs- noch der Versorgungskrise. Sie zeigen nur die Spitze des Eisbergs.         

 

 


MieterEcho 378 / Dezember 2015

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