Nach einer Zwangsräumung
Der Fall M. – ein Beispiel
Von Karin Baumert
Am 8. Mai letzten Jahres passiert die Zwangsräumung. M. verlässt die Wohnung ganz still und unscheinbar und über Stunden hat niemand Kontakt zu ihm. Aktivist/innen des „Bündnisses Zwangsräumung verhindern“ werden danach dem wöchentlichen Plenum fern bleiben.
Um die bevorstehende Notlage abzuwenden hatte seine Frau N. in ihrer Stellungnahme beim Sozialgericht zur Übernahme der Mietschulden zuvor angemahnt: „Ganz nebenbei wären die Kosten für die Übernahme der Mietschulden für das Land Berlin bei Weitem geringer als die Folgekosten der Obdachlosigkeit.“ Der Streitpunkt war die Berechnung durch das Jobcenter. Dazu nimmt N. am 6. März 2014 Stellung: „Wer außer dem Jobcenter könnte diese Berechnung verstehen? Fakt ist, dass die Mietschulden durch die zu geringen Mietzahlungen des Jobcenters zustande kamen, die vereinbarten Ratenzahlungen allerdings viel zu hoch waren, um ein existenzielles Lebensniveau überhaupt noch zu realisieren. Gerade mit einem 3-jährigen Kind gibt es Untergrenzen, wie für die Ernährung. Darum wäre mit der einmaligen Übernahme der Mietschulden nicht nur die drohende Obdachlosigkeit abgewendet, sondern auch eine geregelte Rückzahlung ermöglicht.“
Die Mietschulden werden nicht übernommen. Stattdessen berechnet das Jobcenter neu und zahlt nach. Der Antrag war im Oktober 2012 gestellt worden. Die Folgen der späten Zahlung haben die Mieter/innen zu tragen. Sie müssen in die Obdachlosigkeit.
In einem Brief der Geschäftsführer der Gewobag, Hendrik Jellema und Markus Terboven (geschätzte Geschäftsführergehälter 250 Tausend Euro jährlich pro Geschäftsführer) an das „Bündnis Zwangsräumung verhindern“ vom 24. April 2014 heißt es: „Da sich Herr S. an die getroffenen Vereinbarungen in keiner Weise gehalten und den Kontakt mit uns völlig eingestellt hat, sehen wir keine andere Möglichkeit, als die Räumung am 8. Mai 2014 durchzuführen. (…) Das Vollstreckungsgericht hat das Schutzbedürfnis des Mieters voll gewürdigt und keine besonderen Umstände und keine Härte festgestellt, die der Räumung entgegenstehen würden.“
M. wird nach 36 Jahren Mietdauer und mit 90%iger Schwerbehinderung zusammen mit seiner Frau N. und der gemeinsamen 4-jährigen Tochter von einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft zwangsgeräumt und in die Obdachlosigkeit geschickt. Auch die Besetzung des Büros von Stadtentwicklungssenator Michael Müller am Tag davor schafft keine politische Lösung.
Der gesamte Haushalt, einschließlich aller Möbel und persönlicher Gegenstände, wird eingelagert – kostenpflichtig natürlich – und nach drei Monaten versteigert. Zu dem Zeitpunkt ist M. im Krankenhaus.
Zunächst wohnt die Familie in einer Obdachloseneinrichtung. Ein kleines Zimmer vom Gang aus, verrosteter Herd und stinkendes Bad. Wanzen laufen die Wände hoch. Der Bezirk zahlt dafür an den privaten Träger der Obdachloseneinrichtung pro Tag 75 Euro. Das ist dreimal so viel, wie die Miete der Familie zuletzt betrug.
Knapp 6.000 wohnungslose Menschen leben in Berlin in solchen Notunterkünften. Offizielle Zahlen zur Wohnungslosigkeit in Berlin gibt es nicht. Aus Personalmangel kontrollieren die Bezirke den Zustand der Obdachlosenunterkünfte nicht. Das Betreiben von Notunterkünften ist ein lukratives Geschäft.
Nach Monaten erhält die Familie zum 1. Dezember 2013 eine Wohnung aus dem geschützten Marktsegment. Die Wohnung ist nicht renoviert. Die Familie bekommt für die Renovierung 600 Euro. Auf die Frage, wie das gehen soll, sagt der Hausmeister: „Sie können die Wohnung auch zurückgeben.“
Kosten für eine Erstausstattung von 800 Euro pro Person werden durch das Jobcenter gewährt. Die Leitlinien der Berliner Wohnungslosenpolitik sind aus dem Jahr 1999.
Was läuft hier falsch?
MieterEcho 375 / Juli 2015
Schlüsselbegriffe: Zwangsräumung, Notlage, Mietschulden, Mietschuldenübernahme, Gewobag, Obdachlosigkeit