Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 372 / Februar 2015

Eine Favela in Berlin?

Informelle Siedlungen werden auch bei uns Realität

Von Stefan Hernádi                                          

Zwei Jahre lang hausten bis zu 100 Menschen auf einer Fläche zwischen Kreuzberger Spreeufer und Cuvrystraße in Zelten und Hütten. Ende vergangenen Jahres wurden sie abgerissen. Die Aufregung in der Presse war groß: Berlins erster Slum, Deutschlands erste Favela! Für die Boulevardblätter ein Schandfleck, Symbol für Kreuzberger Verhältnisse, Unordnung und Chaos. Die Hysterie und der bemühte Vergleich mit den Armensiedlungen in Brasilien zeugen vom Unvermögen, sich mit dem Entstehen informeller Siedlungen hierzulande auseinanderzusetzen.      

 

Richten sich Menschen ohne behördliche Genehmigung Behausungen auf ungenutzten Flächen ein, nennt die Fachsprache das eine informelle Siedlung. Da jedes Stück Boden einem Eigentumstitel unterliegt, gilt diese Art des Wohnens als illegal, auch wenn sie keinem schadet. Fest steht, dass die Ansiedlung an der Cuvrystraße bei Weitem nicht die einzige informelle Siedlung in dieser Stadt war. Zwei Jahre lang bewohnten türkischstämmige Arbeiter/innen aus Bulgarien die Ruine der Eisfabrik am Kreuzberger Spreeufer. Auch das Wohncamp der Geflüchteten am Oranienplatz oder die besetzte Gerhart-Hauptmann-Schule in Kreuzberg zählen dazu. Darüber hinaus gibt es verschiedene Berichte von Ansiedlungen in stillgelegten Schrebergärten, etwa auf dem jetzigen Bauland der Autobahn 100.      

 

Umfang informeller Siedlungen in Berlin nicht bekannt                    

Laut Susanne Gerull, Professorin für Wohnungslosigkeit an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin, ist nicht bekannt, wie viele Menschen in unserer Stadt in informellen Siedlungen leben. Auch parlamentarische Anfragen bleiben unbeantwortet. Weder das Landesamt für Gesundheit und Soziales noch die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung können Auskunft geben. Sicher ist nur, dass es solche Behausungen an verschiedenen Orten der Stadt gibt, teils offen, teils versteckt. Informelles Siedeln ist an sich nichts Neues. Im 19. Jahrhundert konnte man es in jeder Großstadt beobachten, die durch die voranschreitende Industrialisierung wuchs. Bis heute ist es in vielen europäischen Städten Realität geblieben oder wieder geworden. So auch seit einiger Zeit in Berlin. Der einzige staatliche Umgang mit informellen Siedlungen scheint derzeit die Repression durch Polizei und Ämter zu sein. Die Cuvrysiedlung wurde nach einem Brand geräumt und planiert. Die ehemaligen Bewohner/innen wurden noch tagelang verfolgt, um eine neue Ansiedlung zu verhindern. Dieses Handeln ist Ausdruck völliger sozialpolitischer Hilflosigkeit. Die Bulldozer-Politik soll oberflächlich verschwinden lassen, was Realität geworden ist: Bestimmte Gruppen sind mittlerweile komplett von der Wohnraumversorgung ausgeschlossen. Darunter Menschen, die auf der Flucht sind vor Krieg oder den Folgen kapitalistischer Globalisierung. Ebenso jene, die aus anderen Ländern kommen, um den Bedarf an günstigen Tagelöhnern zu decken. Oder auch Menschen, die ihre Wohnung verlieren und mit Mietschulden, Schufa-Eintrag und Jobcentersanktion auf der Straße landen. Das Angebot an Wohnungen im geschützten Marktsegment reicht bei Weitem nicht aus. Dazu kommt, dass das Wohnhilfesystem praktisch kollabiert ist, ganz zu schweigen von der Flüchtlingsunterbringung. Was machen Menschen in so einer Situation? Sie schaffen sich ihren Wohnraum selbst. Das ist zwar nicht legal, aber durchaus legitim. Dennoch dürfen die informellen Siedlungen nicht auf Dauer akzeptiert oder gar romantisiert werden. Meistens sind die Umstände des dortigen Wohnens extrem schlecht. Die informellen Siedlungen müssen aber als städtische Realität anerkannt und dürfen nicht als exotisches Phänomen verklärt werden. Für Senat und Bezirke heißt das, zunächst die Repression gegen informelles Wohnen zu beenden, sich zur katastrophalen Lage am unteren Ende der Wohnraumversorgung zu bekennen und die entsprechende Konsequenz zu ziehen. Die wäre ein radikaler Richtungswechsel städtischer Wohnungspolitik. Im Mittelpunkt müsste kommunaler Wohnungsbau und die schnelle Bereitstellung von gutem und angemessenem Wohnraum stehen, der für alle zugänglich ist und ohne Container, Heime und Lager auskommt.                      


MieterEcho 372 / Februar 2015

Schlüsselbegriffe: Informelle Siedlungen,Berlin, Cuvrystraße, Gerhart-Hauptmann-Schule, Flüchtlinge, Oranienplatz, Mietschulden, Schufa-Eintrag, Jobcentersanktion, Repression, Polizei, Ämter

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