Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 368 / Juli 2014

Wohnst Du noch sozial?

Wohnungsnot und Mieterproteste in Schweden

Von Grischa Dallmer und Matthias Coers

Brennende Autos in den Vorstädten, das waren die Bilder, die im Mai 2013 aus Schweden um die Welt gingen. Hierzu druckte die Tageszeitung Aftonbladet einen Kommentar der Gruppe Megafonen ab: „Wir verstehen, dass es unangenehm ist, sogar deprimierend, darüber nachdenken zu müssen, was in Schweden heute passiert. Noch schwerer sogar für eine Regierung, ein Polizeikorps und eine Presse, die zur Ursache der Geschehnisse gehören. Wir sehen eine Wohnungspolitik, die Wohnungsmangel hervorruft. Das Menschenrecht auf eine Wohnung wird beiseite geschoben für teure Eigentumswohnungen. Im schlimmsten Fall sehen wir, wie unsere Mieten schockartig erhöht werden, unter dem Vorwand, das Haus zu renovieren.“ Im Februar 2014 charakterisierte Mats Franzén von der Universität Uppsala in der Veranstaltungsreihe „Wohnen in der Krise“ die Situation auf dem schwedischen Wohnungsmarkt als Entzündung eines Pulverfasses. 

 

 

Vor dem zweiten Weltkrieg existierte in Schweden keine Wohnungspolitik. Die Wohnstandards waren katastrophal, im Durchschnitt stand einer Arbeiterfamilie ein Zimmer und eine kleine Küche zur Verfügung. Der Staat griff erst ab 1942 in den Markt ein und startete eine umfangreiche Wohnungsbauoffensive. Mit Staatskrediten wurde das Bauen vorangetrieben. Dies ging einher mit einer Qualitäts- und Kostenkontrolle sowie umfangreichen Mietzuschüssen. Dreiviertel aller Wohnungen Schwedens entstanden so in den folgenden 50 Jahren. Das Resultat war eine tatsächlich höhere Wohnqualität für einen großen Teil der Bevölkerung. Einen Höhepunkt stellte das sogenannte Millionenprogramm dar, mit dem von 1965 bis 1974 eine Million neue Wohnungen gebaut wurden. Das erste Mal hatte Schweden nun für einige Jahre einen Wohnungsüberschuss.Unmittelbar darauf wurde die Wohnungsbauförderung verändert. Die mit dem Millionenprogramm gebauten Häuser galten vielfach als architektonisch öde. Die Mittelschichten zogen aus den neu errichteten Siedlungen fort. Ärmere Mieter/innen, oft mit Migrationshintergrund, fanden nun dort ein Zuhause und es begann eine neue Spaltung der Städte nach Einkommen. Staatskredite dienten nun zunehmend dem Bau von Einfamilienhäusern. Die Kostenkontrolle für den Bau von Mehrfamilienhäusern wurde beschränkt, sodass die Wohnkosten bei diesen enorm anstiegen. Der Wohnungsbau richtete sich immer mehr an den Bedürfnissen der Mittelschicht aus. Schleichend entstand ein angespannter Wohnungsmarkt. Aufgrund der nordischen Bankenkrise, die vor allem Finnland und Schweden Anfang der 90er Jahre traf, sowie einer neoliberal ausgerichteten Kürzungspolitik spitzte sich die Situation zu. Die Bauförderung wurde gestrichen. Wohnungen sollten dem Staat ab sofort keine Kosten mehr verursachen, sondern Einnahmen bringen. Die Privatisierung der Wohnungsbauunternehmen wurde zum Kennzeichen dieser neoliberalen Offensive.

 

Sehend in den Mangel

Die Bautätigkeit nahm stark ab und konzentriert sich nun auf Bauten für die reichsten 20% der schwedischen Bevölkerung. So herrscht eine neue Wohnungsnot im Schweden der Gegenwart, insbesondere in den großen Städten Stockholm, Göteborg und Uppsala. Für alle Wohnungstypen schnellen die Preise in die Höhe. Die Nachfrage steigt, nicht aber die Produktion. Für die Profiterwartungen der Bauunternehmen scheint es derzeit rentabler zu sein, die Preise im Bestand zu erhöhen als zu bauen. Die Spekulation mit Wohnraum treibt die Preisspirale zusätzlich an.

Mats Franzén drückt sein Unverständnis darüber aus, dass seit 1990 keine Untersuchungen mehr zum Mangel an bezahlbarem Wohnraum erstellt wurden. Als zukünftige Entwicklung sieht er ein „duales System“: Ärmere Bevölkerungsteile werden stark stigmatisiert und erhalten nur individualisierte Sozialzahlungen zur Deckung ihrer Wohnkosten, während für den Rest der Bevölkerung Eigentumswohnungen gebaut werden. Franzén fordert eine Abkehr vom Eigentumswohnungsbau und stattdessen die Entwicklung eines haushaltsfinanzierten öffentlichen Wohnungsbaus für alle, als Teil der sozialen Infrastruktur der Gesellschaft.

 

Soziale Spaltung und Diskriminierung

Laut einer aktuellen Studie der OECD wächst in Schweden die Einkommensungleichheit stärker als in den anderen 34 untersuchten Ländern. In den Vororten großer Städte leben überwiegend Menschen mit geringen Einkommen, die von der Infrastruktur der Innenstädte abgeschnitten sind. Die Hälfte der Kinder in den Vororten Stockholms wächst in Armut auf. Auch entlang der Hautfarbe verläuft die ökonomische und räumliche Trennung der Stadtbewohner/innen und die Diskriminierung durch Behörden, Politik und Medien trägt oft rassistische Züge. Diesen Zuständen versucht die Gruppe Megafonen in den Vororten Stockholms durch nachbarschaftliche Selbstorganisation entgegenzuwirken. Entstanden in den Kämpfen gegen ein Aufwertungsprojekt im Järvafältet-Gebiet, wehren sich die Aktiven von Megafonen gegen Kürzungen, mieterhöhende Sanierungen, Privatisierungen und die zunehmende Überwachung. Den Diskriminierungen setzen sie Forderungen nach Demokratisierung sowie politische Auseinandersetzungen um die Kontrolle über ihre nachbarschaftlichen Viertel entgegen.

Der eingangs erwähnte Aufstand in den Vorstädten ging vom Stockholmer Stadtteil Husby aus. Ausgelöst durch den Tod eines von der Polizei erschossenen älteren Mannes, entwickelte sich spontan die größte Rebellion in Schweden seit Jahrzehnten. Medien und Konservative beschuldigten umgehend die Gruppe Megafonen, die Revolte angezettelt zu haben. Die in Göteborg tätige Wissenschaftlerin und Mieteraktivistin Catharina Thörn zitiert die Entgegnung der Gruppe: „Megafonen legt keine Feuer. Plötzlich sind alle auf der Seite der Vororte und wetteifern darum, Lösungen vorzuschlagen. Wo wart ihr, bevor das alles los ging? Wir waren hier und haben Hausaufgabenhilfe, Lesungen und Konzerte organisiert, für unsere Kulturzentren und Wohnungen gekämpft. Jetzt setzen wir das fort, indem wir für unsere Stadt kämpfen.“

 

 

Protest zeigt Erfolge

Die landesweite Orientierung auf Eigentumswohnungsbau hat zur starken Vernachlässigung der im sogenannten Millionenprogramm gebauten und heute oft sanierungsbedürftigen Häuser geführt. Doch wie in Deutschland versuchen die Eigentümer in erster Linie, die Häuser energetisch zu modernisieren, um kurzfristig umfangreiche Mieterhöhungen durchzusetzen. Als Reaktion darauf haben sich auch in anderen schwedischen Städten Basisgruppen gebildet, die sich der Verwertung der Stadt entgegenstellen. Eine dieser Stadtteilgruppen ist Pennygångens Framtid. Hier ist Daniel Carlenfors aktiv, der ebenfalls für die Veranstaltungsreihe Wohnen in der Krise referierte. Pennygångens Framtid ist eine nachbarschaftliche Organisierung in Göteborg, in deren Siedlung mit 771 Wohnungen mieterhöhende Modernisierungen drohen. Die Eigentümerin dieser Siedlung, die Immobilienfirma Stena Fastigheter, kündigte 2012 Modernisierungen an. Einige Mieter/innen gründeten daraufhin eine Facebook-Gruppe, der innerhalb weniger Tage 400 Menschen beitraten. Es gab ein erstes großes Treffen der Nachbar/innen. Eine Koordinierungsgruppe organisierte als Auftakt eine ganze Reihe von Aktionen, unter anderem eine Demonstration zum Büro des Vermieters. Auch konnte die etablierte, 500.000 Mitglieder umfassende Mieterorganisation Hyresgästföreningen für die Unterstützung gewonnen werden. Die verschiedenen Protestformen wie ein großes Picknick vor den Räumen des Eigentümers und aktive Medienarbeit mobilisierte viele Menschen und schuf mediale Aufmerksamkeit. Die Hauptforderung, dass der Vermieter seine Modernisierungspläne aufgibt, konnte durchgesetzt werden. Es ist das erste Mal in Schweden, dass dies einer Mieterinitiative, die sich gegen mieterhöhende Modernisierungen wehrt, gelungen ist. Dies hat nicht nur landesweite symbolische Bedeutung, sondern die Mieter/innen können nun im neuen Planungsprozess von Beginn an umfassend auf die Entscheidungen Einfluss nehmen.        

 

Am 27. Februar 2014 berichteten Mats Franzén, tätig an der Universität Uppsala zu Stadt-forschung und Wohnraumversorgung, und Daniel Carlenfors von der Göteborger Initiative Pennygångens Framtid im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Wohnen in der Krise. NEOLIBERALISMUS – KÄMPFE – PERSPEKTIVEN“ über das Wohnen in Schweden.
Die Veranstaltungsreihe wirft einen Blick auf die Situation in anderen Ländern und Städten. Dokumentation, Videos und weitere Informationen unter: 
www.youtube.com/WohneninderKrise 
www.bmgev.de/politik/wohnen-in-der-krise.html


MieterEcho 368 / Juli 2014

Schlüsselbegriffe: Wohnungsnot, Mieterproteste, Schweden, Eigentumswohnungen, Wohnungsmangel, Bankenkrise, Privatisierung, Wohnungsbauunternehmen, Spekulation, Diskriminierung, Armut, Järvafältet-Gebiet, Husby

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