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MieterEcho 369 / September 2014

Herzlich willkommen daheim

Vom demografischen Wandel profitiert vor allem die Pflegeindustrie

Von Christian Linde        

Der private Pflegemarkt boomt und die Kosten explodieren. Dabei könnten seniorengerechte Wohnungen ein selbstbestimmtes Leben in den eigenen vier Wänden bis ins hohe Alter ermöglichen, den Pflegenotstand lindern und die öffentlichen Haushalte entlasten. Erforderlich dafür wären Modernisierungsprogramme der  landeseigenen Wohnungsunternehmen und bedarfsorientierter kommunaler Wohnungsneubau.      

 

„Bekleidung, ein paar Bücher, ein kleiner Schrank, ein Sessel, zwei Kartons und ein paar Bilder“, hakt der Mitarbeiter des Umzugsunternehmens in seinen Unterlagen ab. „Der Rest geht auf den Müll.“ Darunter die komplette Kücheneinrichtung, Wohn- und Schlafzimmer, gepackte Kisten und Kartons. Das Ziel ist ein Recyclinghof der Berliner Stadtreinigung (BSR). Nach knapp vier Stunden kann die Wohnung besenrein übergeben werden. Die Mieterin war nicht dabei. „Weil oft Tränen fließen, raten wir dazu, auch den Angehörigen“, berichtet ein Teamleiter der Transportfirma. Nach über 30 Jahren muss Helene Bauer* ihre Wohnung verlassen. Zwar war die 73-Jährige noch erstaunlich rüstig, zu Fuß ging es aber nicht mehr so gut. Das Haus konnte sie ohne Hilfe nicht mehr verlassen. Auch die Badewanne konnte die Mieterin nicht mehr nutzen. Nachdem die Suche nach einer barrierearmen Wohnung erfolglos blieb, war der Umzug in ein Altenheim die einzige Alternative.    Die Anbieter sprechen etwas vornehmer von Seniorenheimen. Gern vermitteln sie ihren „Kunden“ auch einen Hauch von Diplomatenstatus. Dann ist von „Residenzen“ die Rede. „Hohe Ausstattungsstandards, ein privates Ambiente und umfangreiche, im Preis bereits enthaltene Dienstleistungen prägen das Serviceangebot“, verspricht etwa die „Rosenhof Seniorenwohnanlagen“. Sie preist die letzte Lebensstation als Urlaub an: „Genießen Sie Ihr Leben in einer Seniorenwohnanlage mit Hotelcharakter.“ Die Pflege durch Familienangehörige ist auf dem Rückzug. Mit der weit vorangeschrittenen Auflösung des Familienverbunds und der steigenden Erwerbstätigkeit von Frauen stehen immer weniger Angehörige zur Übernahme der Pflege zur Verfügung. Da die Leistungen der Pflegeversicherung nicht ausreichen, bleibt vielen Betroffenen beim Umzug in eine Pflegeeinrichtung nur der Gang zum Sozialamt.

                                                

Kostenintensive stationäre Pflege             

Die Kosten für stationäre Pflege sind enorm. Beispielsweise müssen Bewohner/innen eines Einzelzimmers der „Villa Grüntal – Wohngemeinschaften für Senioren GmbH“ in Zehlendorf, wo eine Pflegekraft im statistischen Durchschnitt 1,9 Bewohner/innen betreut, neben den Leistungen der Pflegeversicherung bereits in der Pflegestufe 1 zusätzlich über 2.000 Euro pro Monat aufbringen. Auch im Lore-Lipschitz-Haus der Arbeiterwohlfahrt (AWO) werden trotz eines ungünstigeren Betreuungsschlüssels von 1 zu 2,7 noch zusätzlich rund 1.600 Euro im Monat fällig. Allein in Berlin existieren mindestens 270 solcher Pflegeheime mit unterschiedlicher Ausstattung. Seit der Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995 boomt der Markt. Bundesweit existieren inzwischen über 850.000 Heimplätze. Tendenz steigend. Fast täglich ist vom Bau eines neuen Pflegeheims zu lesen. Das Kapital für die Immobilien kommt häufig von privaten Investoren, die die Objekte dann mit langfristigen Verträgen an die Betreiber vermieten. Den Wettbewerb bestimmen Konzerne wie die Kursana Residenzen GmbH, die Dussmann-Gruppe oder die börsennotierte Marseille-Kliniken AG. Und die Zahl derer wächst, die in entsprechende Einrichtungen wechseln müssen. Ein Grund für die Notwendigkeit stationärer Pflege sind die häuslichen Verhältnisse, die eine ambulante Versorgung nicht möglich machen. Laut einer Studie des Kuratoriums Deutsche Altershilfe wird im Zuge des demografischen Wandels bereits im Jahr 2020 bundesweit jeder vierte Haushalt zur Generation 65+ zählen. Demgegenüber gelten gerade ein-mal 1,4% der verfügbaren Wohnungen als barrierefrei oder barrierearm. Auch Berlin drohe eine „graue Wohnungsnot“, schlugen Verbände bereits Ende 2011 Alarm. In den kommenden Jahren werde es in der Stadt eine extrem ansteigende Nachfrage bei den altersgerechten Wohnungen geben. Das Pestel-Institut ermittelte in einer Studie mit dem Titel „Wohnsituation im Alter“, dass von den tatsächlich erforderlichen altersgerecht sanierten oder neu gebauten Wohnungen nur ein Bruchteil zur Verfügung stünde. Bis 2025 seien mehr als 87.500 seniorengerechte Wohnungen in der Hauptstadt nötig.      

 

Großer Bedarf bei den landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften                

Auch wenn die Menschen länger gesund bleiben, steigt mit zunehmendem Alter der Pflegebedarf. Erreicht werden müsse laut Pestel-Institut, dass im Interesse eines selbstbestimmten Lebens die Dauer des Verbleibs in der eigenen Wohnung so lange wie möglich gewährleistet werde. Dieses Ziel habe auch eine ökonomische Dimension, da die stationäre Pflege in Heimen erheblich teurer sei als die ambulante Pflege in den eigenen vier Wänden. „Langfristig könnten mit öffentlicher Förderung geschaffene Bestände an seniorengerechten Wohnungen erheblich zur Entschärfung des Problems der Altersarmut beitragen und gleichzeitig die öffentlichen Haushalte entlasten.“ Beziffere man die Kostendifferenz zwischen ambulanter Pflege zu Hause und stationärer Pflege im Heim mit rund 1.500 Euro pro Monat, beliefen sich die gesamtwirtschaftlichen Einspareffekte bis zum Jahr 2025 auf 2,9 Milliarden Euro und bis zum Jahr 2035 auf 3,2 Milliarden Euro, so das Pestel-Institut.            

Während laut Amt für Statistik Berlin-Brandenburg Ende 2007 bereits 630.300 Menschen in der Hauptstadt lebten, die über 65 Jahre alt waren, prognostiziert die Behörde für 2030 rund 818.700 Menschen im Seniorenalter. Zum Vergleich: Eine zu altersgerechtem Wohnen 2011 durchgeführte Befragung von insgesamt dreizehn Wohnungsunternehmen, darunter die sechs landeseigenen, hatte ergeben, dass sich lediglich rund 8.000 Wohnungen im Bestand der städtischen Wohnungsgesellschaften und noch einmal 4.000 Wohneinheiten bei den Genossenschaften befanden, die den Mindeststandards altersgerechten Wohnens entsprachen. Der Bedarf ist also immens. Obwohl auch diese Entwicklung seit Jahren bekannt ist, hat der Berliner Senat erst kürzlich auf die Herausforderung „Wohnen im Alter“ reagiert. Zumindest auf dem Papier. So heißt die Zielvorgabe im soeben vorgelegten Stadtentwicklungsplan Wohnen (StEP) 2025: „Bedarfsgerechter Wohnungsneubau und Anpassung des Berliner Wohnungsbestands im Zuge der demografischen Entwicklung für ein kinder- und familienfreundliches Berlin und für ein möglichst langes und selbständiges Wohnen im Quartier und den eigenen vier Wänden.“         

 

Kommunaler Wohnungsneubau oder Senior/innen als Kapitalanlage?    

Zwar schreibt der Gesetzgeber im Rahmen des § 40 Absatz 4 des Sozialgesetzbuchs (SGB) XI vor, dass die Pflegekasse verpflichtet ist, finanzielle Zuschüsse für „Maßnahmen zur Verbesserung des individuellen Wohnumfelds“ zu gewähren, wenn „dadurch die häusliche Pflege ermöglicht oder erheblich erleichtert oder eine möglichst selbstständige Lebensführung des Pflegebedürftigen wiederhergestellt wird“. Allerdings müssen die Betroffenen nicht nur eine Eigenleistung in Höhe von 10% entrichten, sondern die Maßnahme, begrenzt auf 2.557 Euro, bleibt weit unter den tatsächlich notwendigen Aufwendungen. Insofern ist die öffentliche Hand ohnehin in der Pflicht.     Um den bereits existierenden Versorgungsnotstand abzubauen und das aufgrund der wesentlich kostenintensiveren Krankenhaus- und Heimaufenthalte drohende finanzielle Desaster für die öffentlichen Kassen abzuwenden, ist neben der bedarfsgerechten Anpassung der Wohnungsbestände vor allem gezielter kommunaler Mietwohnungsbau nötig, der auch mietpreisdämpfend auf den gesamten Wohnungsmarkt wirken würde. Sonst heißt es in den Werbebroschüren der Immobilienfonds auch zukünftig: „Investieren Sie in ein Pflegeheim, 7,25% Rendite pro Jahr, Einnahmen staatlich garantiert.“        

 

Für Mieter/innen gibt es eine Vielzahl von Angeboten, sich über Fragen des altersgerechten Wohnens kompetent informieren und beraten zu lassen: Informationen über verschiedene für Senioren geeignete Wohnformen sowie Tipps zur Wohnungsanpassung und Hinweise zu deren Finanzierung gibt die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung.

Telefon: 030-901394760.

Internet: www.stadtentwicklung.berlin.de/wohnen/alter

 

Die Berliner Pflegestützpunkte bieten in den Bezirken ein umfangreiches Beratungsangebot zu allen Aspekten des Wohnens im Alter, vor allem für pflegebedürftige Menschen. Der Standort der nächsten Beratungsstelle kann unter der kostenfreien Servicenummer 0800-5950059 erfragt oder der Homepage www.pflegestuetzpunkteberlin.de entnommen werden.

 

Die Landesseniorenvertretung sowie der Landesseniorenbeirat setzen sich auf der Grundlage des Berliner Seniorenmitwirkungsgesetzes gegenüber der Politik für die Interessen älterer Menschen ein. Außerdem bieten sie ein umfangreiches Beratungs- und Informationsangebot, nicht nur zum Thema altersgerechtes Wohnen. Auf den Internetseiten finden sich auch Verweise auf die regelmäßigen Sprechzeiten der bezirklichen Seniorenvertreter/innen: www.landesseniorenvertretung-berlin.de www.landesseniorenbeirat-berlin.de Die Termine können auch telefonisch erfragt werden unter 030-32664126. Die Postanschrift der Geschäftsstelle beider Gremien lautet: Neues Stadthaus, Parochialstraße 3, 10179 Berlin. Die Netzwerkagentur Generationenwohnen informiert über generationenübergreifende Wohnprojekte.

Telefon: 030-69081777.

Internet: www.netzwerk-generationen.de


MieterEcho 369 / September 2014

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