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MieterEcho 366 / März 2014

Blumenstraßenkrawalle anno 1872

Wohnungselend, die Zwangsräumung eines Tischler und der Abriss einer Barackensiedlung führten zu heftigen Mieterprotesten

Von Axel Weipert       

Die Blumenstraßenkrawalle gehören zu den spektakulärsten Ereignissen in der langen Geschichte der Berliner Mieterproteste. Die damalige Wohnsituation war gekennzeichnet durch Bauspekulation, Wohnungsnot und eine fast völlige Rechtlosigkeit der Mieter/innen. Die Zwangsräumung eines Tischlers und der Abriss einer Barackensiedlung brachten dieses Pulverfass zum Explodieren.                                          


Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die Industrialisierung in Berlin Fuß gefasst und die Stadt war eines der wichtigsten politischen Zentren Europas geworden. Damit einher ging ein rasantes Bevölkerungswachstum. Jährlich nahm die Zahl der Berliner/innen um etwa 30.000 zu. Vor allem aus Brandenburg und den preußischen Ostprovinzen strömte die Landbevölkerung in die Stadt – in der Hoffnung auf ein besseres Leben und Arbeit in den Fabriken oder in den Haushalten der gehobenen Schichten. Zudem führte nach dem Sieg über Frankreich 1871 eine Spekulationsblase zu horrenden Steigerungen der Grundstückspreise in Berlin und dem näheren Umland. Baugesellschaften schossen wie Pilze aus dem Boden. Allerdings handelten sie oft nur mit dem Bauland in Erwartung weiterer Preissteigerungen. Neue Wohnungen wurden kaum gebaut.           

Immobilienspekulation und Wohnungsnot       

All das führte zum drückenden Mangel an Wohnraum und zu steigenden Mieten. Viele Familien mussten sich kleine Behausungen teilen und oft zusätzlich sogenannte Schlafburschen aufnehmen, die gegen Entgelt für einige Stunden täglich ein Bett benutzten. Die Überbelegung führte nicht nur zu beengten Wohnverhältnissen ohne Privatsphäre, sondern auch zu unzureichenden hygienischen Bedingungen. Ein Großteil der Behausungen hatte kein eigenes WC und höchstens ein beheizbares Zimmer. Zahlreiche Betriebe sorgten zusätzlich für Lärm und Schmutz. Wer sich keine Wohnung leisten konnte, baute sich eine Bretterhütte in den ebenso schäbigen wie illegalen Siedlungen am Stadtrand, etwa vor dem Kottbusser oder dem Frankfurter Tor oder auf dem Tempelhofer Feld. Es handelte sich dabei um regelrechte Slums.       

 

Rechtlosigkeit der Mieter/innen           

Mieter/innen besaßen kaum Rechte. Mietverträge wurden oft nur für sechs Monate abgeschlossen, danach war ein saftiger Aufschlag zu zahlen. Besonders in den Tagen um den 1. April und 1. Oktober, wenn die meisten Mietverträge ausliefen, waren die Straßen voll mit Karren und Möbelwagen aller Art. Ganze Familien zogen mit ihrer kümmerlichen Habe durch die Stadt. Die Mietverträge enthielten oft Klauseln, die etwa das Halten von Haustieren oder Untervermietung verboten. So ließen sich schnell Gründe finden, Mieter/innen auch vor Vertragsende vor die Tür zu setzen. Das übernahm dann ein sogenannter Executor (also ein Gerichtsvollzieher), der bei Mietschulden sogar fast den gesamten Hausstand pfänden konnte. Der Zeitzeuge Alexander Knoll beschrieb ein solches Ereignis seiner Kindheit: „Da trat eines Tages der Executor ein und nach einem kurzen Wortwechsel nahm meine Mutter meine jüngste Schwester auf den Arm, mein älterer Bruder mich an die Hand, mein Vater einige wenige Hausratssachen auf den Rücken und so verließen wir unser Heim. Wir waren exmittiert, an die Luft gesetzt. Als ich am nächsten Morgen erwachte, wohnten wir in einem Keller, dessen einziges Fenster sich unter einer Außentreppe befand, vor dem der Schmutz hoch aufgehäuft lag. Die Wände waren von oben bis unten dicht mit grünen und schwarzen Schimmelpilzen bewachsen. Die Ausstattung bestand aus einem Strohsack und einigem anderen Gerümpel, das wohl von Bekannten zusammengeborgt war.“           
                                       

Aufruhr nach Zwangsräumung           

Das gleiche Schicksal traf am 25. Juli 1872 den Tischler Ferdinand Hartstock. Er wohnte mit seiner Familie im Haus Blumenstraße 51c nahe dem heutigen Strausberger Platz. Sein Vermieter hatte ihm wegen Untervermietung gekündigt. Allerdings dürfte das nur ein Vorwand gewesen sein, denn dem Vermieter war die Untervermietung bereits länger bekannt, ohne dass er dagegen Widerspruch erhoben hatte. Vielmehr sah der Hausbesitzer eine günstige Gelegenheit, die Wohnung zu einem höheren Preis neu vermieten zu können.       
Weil sich Hartstock mit dem Fuhrunternehmer nicht über den Preis für den Transport seiner Möbel einigen konnte, standen diese über Stunden auf dem Gehsteig. Der Disput erregte schnell Aufsehen in der Nachbarschaft. Die allgemein angespannte Wohnsituation stellte für alle Bewohner/innen der Straße und die Arbeiterschaft der nahen Fabriken eine Belastung dar und so solidarisierten sie sich umgehend mit Hartstock. Um die Mittagszeit hatten sich rund 2.000 von ihnen vor dem Haus versammelt und protestierten lautstark gegen seine Behandlung. Ein anwesender Polizist forderte Verstärkung an, mit deren Hilfe er die Lage rasch unter Kontrolle bekam, sodass der Abtransport der Möbel mit einem Feuerwehrwagen durchgeführt werden konnte.    Das war aber erst der Auftakt. Den ganzen Nachmittag über zogen kleinere Trupps meist jüngerer Anwohner/innen durch das Viertel. Um vier Uhr warfen einige von ihnen die Fenster des Vermieters ein, der selbst im Haus Blumenstraße 51c wohnte. Am Abend war die Menge auf fast 5.000 Menschen angewachsen und das Aufgebot von mehreren Dutzend Polizisten überfordert. Vor allem aus den zahlreichen Kneipen heraus bewarfen die Bewohner/innen die Ordnungshüter mit Steinen. Diese gingen immer rücksichtsloser vor, ritten in die Menschentrauben auf den Gehsteigen, schlugen mit der flachen Seite ihrer Säbel auf die Umstehenden ein und verhafteten 16 Personen. Erst als die Kneipen schlossen, verlief sich die Menge langsam und nach Mitternacht hatte sich die Lage beruhigt.

                       

Abriss von Barackensiedlungen           

Am folgenden Tag begann die Feuerwehr mit dem Abriss einer Barackensiedlung. Den Abriss hatte die Regierung vor dem Hintergrund eines geplanten pompösen Gipfeltreffens angeordnet. Der russische Zar und der Kaiser aus Wien wurden zu diplomatischen Gesprächen erwartet und sollten keine Slums sehen. Der Abriss der Hütten fiel jedoch genau auf den Tag nach den Vorfällen in der Blumenstraße. Innerhalb kurzer Zeit waren viele der Behausungen dem Erdboden gleichgemacht. Ohne Rücksicht auf die Bewohner/innen wurde ein Großteil ihrer kärglichen Besitztümer zerstört. Das führte zum empörten Aufschrei im ganzen Viertel östlich des Alexanderplatzes und auch in der Blumenstraße kam es erneut zu Ansammlungen. Um die Mittagszeit strömten die Arbeiter der nahen Fabriken dazu, die die Polizei vergeblich aufforderte, in ihre Betriebe zurückzukehren. Nun war alles in Aufruhr. Aus Rinnsteinbohlen und Pflastersteinen wurden eiligst Barrikaden errichtet. Die mit mehreren hundert Mann anrückende Polizei wurde von Stein- und Flaschenwürfen empfangen. Aus den Häusern und Kneipen regnete ein wahres Bombardement an Wurfgeschossen auf die Vertreter der Staatsmacht nieder. Diese stürmten die Barrikaden, brachen in die Häuser ein und verhafteten 20 Personen.     

 

Drei Tage Aufruhr                   

Um wieder volle Kontrolle zurückzuerlangen und Ruhe herzustellen, ließ das Polizeipräsidium am dritten Tag Warnungen plakatieren. Demnach seien Vorsorgemaßnahmen im Gang und „im Augenblick eines bewaffneten Einschreitens“ sei „eine Unterscheidung zwischen Excedenten (d.h. Übeltätern) und Neugierigen unmöglich“. Die Vorkehrungen umfassten auch die Bereitstellung mehrerer Regimenter der Armee, die mit scharfer Munition ausgerüstet auf einen Einsatzbefehl warteten. Kaiser Wilhelm I. hatte persönlich aus dem fernen Wiesbaden die telegrafische Anweisung erteilt, notfalls „mit Ernst und Nachdruck“ gegen die Aufrührer vorzugehen. Zum Militäreinsatz kam es allerdings nicht, obwohl es wieder heftige Auseinandersetzungen gab, auch in der Skalitzer Straße, wo ebenfalls ein Mieter seine Wohnung räumen musste.           
Nach den drei Tagen flaute die Revolte ab und der Alltag kehrte in das Viertel zurück. Über dreißig Verhaftete waren wegen Landfriedensbruchs zu teils mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Kurz darauf wurden die noch verbliebenen Barackensiedlungen zerstört. Diesmal allerdings kam die Polizei mitten in der Nacht und zwang die Bewohner/innen zum Verlassen ihrer Hütten, ehe die Feuerwehr sie zertrümmerte. Widerstand gab es keinen mehr. Die organisierte Arbeiterbewegung war zu dieser Zeit noch schwach und hatte aus Angst vor Repressionen kein Interesse daran, mit dem Aufruhr in Verbindung gebracht zu werden. Die Auseinandersetzungen endeten deshalb ebenso spontan, wie sie begonnen hatten.                                           


Axel Weipert ist Historiker und Autor des Buchs „Das Rote Berlin. Eine Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung 1830-1934“, Berliner Wissenschaftsverlag 2013.

MieterEcho 366 / März 2014

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