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MieterEcho 359 / April 2013

Ziele deutlich verfehlt

20 Jahre „Geschütztes Marktsegment“ in Berlin

Von Christian Linde

Vor knapp zwei Jahrzehnten rief der Berliner Senat das „Geschützte Marktsegment“ ins Leben. Dieses wohnungspolitische Instrument soll Menschen in prekären Lebensverhältnissen den Zugang zum Wohnungsmarkt erleichtern. Doch die mit dem „Geschützten Marktsegment“ verbundenen Ziele wurden zu keinem Zeitpunkt erreicht.


Der Kontrast könnte nicht größer sein. Im größten Hotel Europas mit Konferenz- und Entertainmentcenter steigen Prominente ab und finden Parteitage statt. In unmittelbarer Nähe gibt es Häuser mit bis zu 18 Stockwerken, die zu den Großtafelbauten zählen, dem westlichen Pendant der DDR-Plattenbauten. Die Rede ist von der Sonnenallee im Bezirk Neukölln. Viele, die hier leben, stehen nicht auf der Sonnenseite des Lebens. Dazu gehört auch Helmut Schrön*, der seit sieben Jahren, als ihm die Wohnung zugewiesen wurde, mit seinem Sohn eine Parterre-Wohnung in der Dieselstraße bewohnt. Helmut Schrön wohnt hier, weil er zu jenen Personen gehört, die sich aufgrund von Arbeitslosigkeit und Verschuldung nicht selbst auf dem Wohnungsmarkt mit Wohnraum versorgen können, wie es im Amtsdeutsch heißt. Für diese schuf der Berliner Senat vor 20 Jahren das „Geschützte Marktsegment“.

Das wohnungspolitische Instrument „Geschütztes Marktsegment“ soll Menschen in schwierigen Lebenslagen Hilfestellung bieten und hat seinen Vorläufer in den 80er Jahren. Seinerzeit hatte die Stadt Wohnungen, an denen es kommunale Besetzungsrechte für Dringlichkeitsfälle besaß, den landeseigenen Wohnungsunternehmen zur eigenverantwortlichen Belegung überlassen. Nachdem sich die öffentliche Hand infolge der einsetzenden Wohnungsnot Ende der 80er Jahre nicht mehr in der Lage sah, hinreichend Wohnraum zur Verfügung zu stellen, kam es zum Abschluss eines Kooperationsvertrags mit den städtischen Wohnungsgesellschaften. Zwar stellte das Land in dem Vertrag die Besetzungsrechtswohnungen weiterhin frei, verlangte im Gegenzug jedoch die Unterbringung von jährlich 3.500 Dringlichkeitsfällen in den Beständen der Wohnungsunternehmen. In diesen als „Feuerwehrfonds“ bezeichneten Wohnungspool gingen 1991 auch im Ostteil der Stadt gelegene Wohnungen ein. Im Jahr 1993 trat schließlich der Kooperationsvertrag „Geschütztes Marktsegment“ zwischen Wohnungsgesellschaften, den Bezirksämtern und dem Landesamt für Gesundheit und Soziales in Kraft. Letzteres koordiniert die Vermittlung der Wohnungen.

 

 

Wohnraumvergabe an Bedingungen geknüpft    

Die Zuweisung einer Wohnung ist an Bedingungen geknüpft. Bei der Zielgruppe wird zwischen sogenannten A- und B-Berechtigten differenziert. Demnach sind vorrangig Personen zugangsberechtigt, die sich aufgrund ihrer Verschuldungssituation nicht ohne Hilfe mit Wohnraum versorgen können, für die sämtliche sozialhilferechtliche Möglichkeiten zum Erhalt des bestehenden Mietverhältnisses erfolglos ausgeschöpft wurden, deren Aufenthalt in einer betreuenden Einrichtung der Wohnungslosenhilfe oder in einer Haftanstalt beendet werden kann und denen eine Entlassung in die Wohnungslosigkeit unmittelbar bevorsteht. Nachrangig behandelt werden Menschen, die in Notunterkünfte eingewiesen wurden – beziehungsweise einen Unterbringungsanspruch haben – und die mindestens 1 Jahr lang ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Berlin haben. „Die Wohnungsvergabe folgt dem Grundsatz des Vorrangs der Vermeidung von Wohnungslosigkeit vor der Beseitigung bestehender Wohnungslosigkeit“, heißt es in § 2 des Kooperationsvertrags. Zudem erfolge die Wohnungsvergabe „nur an Personen und Haushalte, die zu einer eigenständigen und eigenverantwortlichen Lebens- und Haushaltsführung in einem Wohnhaus fähig sind und die im Einzelfall eine entsprechende begleitende persönliche Hilfe erhalten und für die eine positive sozialpädagogische Prognose erstellt und aktenkundig gemacht wurde“. Die Wohnungsunternehmen haben das Recht, die von der zuständigen Koordinierungsstelle beim Landesamt für Gesundheit und Soziales vermittelten Marktsegment-Berechtigten abzulehnen.

 

 

Umfang und Qualität weit hinter Erwartungen zurück    

Vor allem im Umfang sind Senat und Wohnungsunternehmen weit hinter den angekündigten Zielen zurückgeblieben. Der Kooperationsvertrag verpflichtete die Unternehmen, zunächst pro Jahr 2.000 Wohnungen, später 1.350 zur Verfügung zu stellen, davon 1.100 Wohnungen an 1-Personen-Haushalte. Mittlerweile liegt die Zahl bei 1.376. Bei Bedarf können die Wohnungsunternehmen allerdings verlangen, ihren Anteil zu verringern und neu zu vereinbaren. Zu keinem Zeitpunkt seit 1993 ist die vereinbarte Zahl von den Wohnungsgesellschaften erfüllt worden. Wurde das Kontingent in den ersten drei Jahren noch zu rund 80% bedient, sank die Quote anschließend immer weiter. Der Tiefpunkt war das Jahr 2006 mit nur 677 vermittelten Wohnungen. Selbst als der Mangel an preisgünstigem Wohnraum immer größer wurde und die Nachfrage von Berechtigten aus dem Geschützten Marktsegments stieg, reagierte die Politik nicht. Als aktuellen Stand nennt das Landesamt für Gesundheit und Soziales eine Erfüllungsquote von gerade einmal 74% im Jahr 2011. Insbesondere bei den 1-Personen-Haushalten werden die vereinbarten Quoten deutlich unterschritten.         

Kritisiert wurde diese Praxis bereits im Rahmen einer Studie des Darmstädter Instituts Wohnen und Umwelt. „Die Nichterfüllung des Kontingents wiegt umso schwerer, als die vereinbarten Kontingente gemessen am Bedarf von vornherein als zu niedrig angesehen werden müssen. Das zu niedrig angesetzte und zudem nicht erfüllte Kontingent führt dazu, dass die Zielgruppen des ‚Geschützten Marktsegments’ letztlich stärker außerhalb des Programms mit Wohnraum versorgt werden müssen. Was die Bedeutung dieses wohnungspolitischen Instruments entscheidend schwächt.“ So lautet das Fazit der Studie mit dem Titel „Geschütztes Marktsegment in Berlin – Konzeption, Umsetzung, Ergebnisse und Erfahrungen“ aus dem Jahr 2005.

Auch die regionale Verteilung blieb weit hinter den Erwartungen zurück. „Die Wohnungsunternehmen erklären ihre Bereitschaft, im Rahmen ihrer Möglichkeiten eine Konzentration des Wohnungsangebots auf bestimmte Bezirke zu vermeiden und dazu die in allen Bezirken vorhandenen Wohnungsbestände angemessen einzubeziehen“, heißt es im Kooperationsvertrag. Die Mitarbeiter/innen freier Träger berichten jedoch, dass die Unternehmen in der Regel Objekte in unattraktiven Lagen, sozial belasteten Quartieren sowie in Plattenbauten in den Ostbezirken zur Verfügung stellen. Zudem böten die Wohnungsunternehmen nach wie vor Wohnraum an, der auf dem allgemeinen Wohnungsmarkt nur schwer vermittelbar ist. Dazu gehörten Parterre-Wohnungen sowie dunkle Hinterhaus-Wohnungen und nichtsanierte Objekte.

 

Aufstockung des Angebots an den Bedarf steht aus    

Auch die Landesarmutskonferenz Berlin charakterisiert in einer Bilanz die Umsetzung des Marktsegment-Programms als weitgehend wirkungslos. Mit der negativen Einkommensentwicklung in der Hauptstadt und dem Inkrafttreten der Arbeitsmarktreformen, insbesondere von Hartz IV, habe sich die Zahl der konkurrierenden Gruppen um das wichtigste Kontingent des „Geschützten Marktsegments“, nämlich die Kleinstwohnungen, spürbar verschärft, heißt es in einer Stellungnahme. Aufgrund der allgemeinen Mietsteigerungen und des Wegfalls der Anschlussförderung im Sozialen Wohnungsbau und der Energiekostenentwicklung liege das Mietniveau „der infrage kommenden Wohnungen inzwischen an oder bereits oberhalb der maximal zulässigen Miethöhen für ALG-II-Beziehende.“ Weil der Bedarf nach preisgünstigem Wohnraum gleichzeitig weiter steigt, fordert die Landesarmutskonferenz eine Aufstockung des bisherigen Wohnungspools. „Die Zahl der Wohnungsnotfälle wächst mit der zunehmenden Verknappung auf dem Wohnungsmarkt dramatisch. Aus nahezu allen Berliner Bezirken wird ein wesentlich erhöhter Bedarf an Marktsegment-Wohnungen gemeldet. Um das Kontingent ausbauen zu können, sollte der Senat sich aktiv bemühen, weitere Wohnungsunternehmen zur Zusammenarbeit zu gewinnen.“

 

 


MieterEcho 359 / April 2013

Schlüsselbegriffe: Geschütztes Marktsegment, Berlin, Kooperationsvertrag, städtische Wohnungsgesellschaften, Wohnungslosenhilfe, Kontingent, Landesarmutskonferenz, Sozialer Wohnungsbau, Anschlussförderung