Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 356 / September 2012

(Zu) Armes Neukölln

Für Immobilienbesitzer und Investoren ist das Neuköllner Sanierungsgebiet ein willkommenes Aufwertungsprogramm, da es vor allem zahlungskräftigen Haushalten zugute kommt

Hermann Werle

Bis vor wenigen Jahren galt Neukölln als Berlins Problembezirk Nummer eins – arm, schmutzig und gewalttätig. Nennenswerte Investitionen wurden weder von privaten Immobilieneigentümern noch vom Bezirk oder Land Berlin getätigt. Nach Jahren der Tatenlosigkeit wird mit den geplanten Sanierungen lediglich ein Teil des enormen Instandhaltungsrückstaus bei Schulen, Kitas, öffentlichen Plätzen und Verkehrswegen ausgeglichen. Für die Immobilienbranche kommt diese Maßnahme zum richtigen Zeitpunkt.

 


Dass sich in Neukölln einiges tut, hat sich herumgesprochen und das nicht zuletzt bei der Immobilienwirtschaft. Vom zunehmenden Wohnungsmangel und von Investoren aus aller Welt in die Zange genommen, trifft für das Nordneuköllner Sanierungsgebiet das Szenario des IBB-Wohnungsmarktberichts von 2011 zu: Wohnungssuchende weichen in Nachbarbezirke aus, wenn Wohnbedürfnisse in Wunschbezirken wie Kreuzberg nicht mehr verwirklicht werden können. Das führt dann auch in den Nachbargebieten zu erhöhter Nachfrage und steigenden Preisen. „Verläuft eine solche Entwicklung so dynamisch wie in Nordneukölln, verwandeln sich ganze Quartiere innerhalb weniger Jahre zu lebhaften  Ablegern der Szenelagen.“ Bei diesen  Ablegern sei noch offen, was aus ihnen wird, so der  Wohnungsmarktbericht. Erste Investitionen seien bereits sichtbar und der Nachfrageschub hätte zu „erheblichen Preissteigerungen geführt, die mit dem anhaltenden Nachfragedruck immer weiter südwärts wandern. (...) Das Wegfallen der Fluglärmbelastungen durch den Flughafen Tempelhof und die Nähe zu neuen Frei- und Erholungsflächen auf dem Tempelhofer Feld forcieren diese Entwicklung zusätzlich.“

Problematische Bevölkerung?

Die Festlegung des Sanierungsgebiets Karl-Marx-Straße/Sonnenallee heizt die Situation weiter an. Der Wohnungsmarkt und die Mietenexplosion werden in den Voruntersuchungen und Planungen zum Sanierungsgebiet nur am Rand erwähnt und berücksichtigen die dramatische Entwicklung der letzten Jahre in keiner Weise. Nicht die rasant steigenden Mieten, sondern die Armut der Wohnbevölkerung werden beklagt. So sei der soziale Status sehr niedrig und die Kaufkraft gering, wie es im Endbericht der vorbereitenden Untersuchungen für die Karl-Marx-Straße heißt. Die daraus entstandene „Funktionsschwäche“ im Bereich Einzelhandel und Dienstleistung bestehe „insbesondere in der Qualität, aber auch im Branchenmix des Angebots“. Da sich das „geringe Einkommensniveau im unmittelbaren Umfeld der Karl-Marx-Straße“ auf den Einkaufsstandort auswirke, müsse die Entwicklung der Karl-Marx-Straße „mit den Entwicklungen in den angrenzenden Quartieren koordiniert werden, da das Image der Quartiere auf den Standort ausstrahlt“. Zum positiven Image der Quartiere trage die Vielfalt der Kulturen bei, die als Pluspunkt verbucht wird und mit der Neukölln „über sehr gute Voraussetzungen als Standort für kreative und kulturelle Unternehmen und Institutionen“ verfügen würde. Allerdings, so der Endbericht, kämen „diese positiven Voraussetzungen bisher noch nicht ausreichend zum Tragen, da die sozialen Probleme seiner Bewohnerschaft die öffentliche Meinung über den Standort negativ dominieren“. Eine prägende Gestalt der öffentlichen Meinung über Neukölln ist der Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD), der aus seiner Abscheu gegenüber Erwerbslosen und Migrant/innen schon seit Langem keinen Hehl mehr macht, die deutsche Unterschicht mit fernsehglotzenden Säufern gleichsetzt und der migrantischen Unterschicht jegliche erzieherischen Fähigkeiten abspricht. In dieser Deutlichkeit kann ein Untersuchungsbericht schwerlich ausführen, wer im Quartier gern gesehen ist und wer zur „Problembevölkerung” gehört. Dementsprechend vorsichtig stellt der Endbericht der Voruntersuchung bezüglich der Wohnfunktion Mängel sowohl bei der sozialen Infrastruktur als auch bei der Bausubstanz der Wohngebäude fest. Es müsse „während des Entwicklungsprozesses ein Gleichgewicht zwischen der problematischen Sozialstruktur und den gewünschten Aufwertungstendenzen gefunden werden“.

Sozialplan für reibungslose Baudurchführung

Eine genauere Definition dieses Gleichgewichts und wie ein solches erreicht werden könnte, lässt sich in den Ausführungen des Berichts nicht finden und auch von Seiten des Senats bleiben entsprechende Hinweise sehr vage. Unter der Überschrift „Leitbild und Entwicklungsziele“ wird lediglich festgehalten, dass „die Wohnqualität verbessert werden“ soll und die „notwendige energetische Sanierung und Modernisierung der Wohngebäude durch die Eigentümer getragen“ würden. Zwar sollen „mit Mitteln des Genehmigungsverfahrens negative Auswirkungen auf die Mieter durch die Umlegung der Eigentümerkosten abschätzbar sein und soweit wie möglich gedämpft werden“, die Erfahrungen früherer Sanierungsgebiete zeigen allerdings, dass die dämpfende Wirkung des Genehmigungs- und Sozialplanverfahrens recht bescheiden ausfällt, wenn keine entsprechenden Fördermittel zur Verfügung stehen. Folgt man den Ausführungen der vorbereitenden Untersuchung für das Gebiet Karl-Marx-Straße, sollen in den kommenden 15 Jahren beinahe 30 Millionen Euro an  öffentlichen Geldern aus verschiedenen Programmen in die Aufwertung von öffentlichen Gebäuden, Grundstücken und des öffentlichen Raums fließen und von privater Seite werden über 50 Millionen Euro für die Sanierung und Modernisierung von 70 privaten Häusern veranschlagt, wobei energetische Modernisierungen einen Schwerpunkt bilden sollen. Dem stehen 750.000 Euro für das Sozialplanverfahren gegenüber, welches neben einer Mieterberatung die Unterstützung in Härtefällen sowie Umzugshilfen vorsieht. Dass das Soziale beim Sozialplanverfahren nicht das primäre Ziel ist, beschreibt beispielsweise die Sozialstudie zum Sanierungsgebiet Wollankstraße in Pankow: „Mit Hilfe des Sozialplanverfahrens sollte Einvernehmlichkeit zum Umfang der Maßnahmen und zum Ablauf des baulichen Prozesses zwischen den Interessengruppen hergestellt  werden. Eine reibungsarme Sanierung sollte ermöglicht und die Zügigkeit der Baudurchführung gefördert werden.“

Verdrängung durch Modernisierung

Wie sich Modernisierungen in den letzten Jahren bereits auf die Mieten in Nordneukölln ausgewirkt haben, beschreibt die Untersuchung des Stadtforschungsinstituts Topos (siehe MieterEcho Nr. 355/ Juli 2012). In den letzten fünf Jahren wurde demnach beinahe jede vierte Wohnung modernisiert. Und obwohl es sich fast ausschließlich um Einzelmaßnahmen wie eine Badmodernisierung oder den Einbau von Isolierglasfenstern handelte, stiegen die Mieten dadurch um durchschnittlich 10%. Umfassende Modernisierungen, wie sie zukünftig verstärkt in den Sanierungsgebieten zu erwarten sein dürften, führten bereits zu Mieterhöhungen von rund 2,80 Euro/qm. Zusammen mit den „normalen“ Mieterhöhungen ohne Wohnwertverbesserung ist das Ergebnis dieser Entwicklung eine durchschnittliche Mietbelastungsquote von annähernd 30%, und jeder fünfte der befragten Haushalte gab sogar an, 40% und mehr des Haushaltsnettoeinkommens für die Bruttokaltmiete aufwenden zu müssen. Betroffen sind laut Topos insbesondere „1-Personen-Haushalte, Alleinerziehende und allgemein einkommensschwache Haushalte“, deren Grenze der (Miet-)Belastbarkeit längst erreicht ist. Derlei Erhebungen rühren den Senat oder Bezirk recht wenig. Bei Anwohnerversammlungen in verschiedenen Sanierungsgebieten wurden die zahlreichen Befürchtungen und Ängste vor steigenden Mieten und Verdrängung mit Auskünften beschwichtigt, dass diese Entwicklungen während der Voruntersuchung nicht absehbar gewesen wären und auch nicht auf Bezirks-ebene zu lösen seien. In der nördlichen Luisenstadt versuchte der im Bezirk Mitte für Bauen und Stadtentwicklung zuständige Bezirksstadtrat Carsten Spallek (CDU) die Anwesenden mit den Worten zu beruhigen, dass die Aufwertung des Gebiets beziehungsweise der Gebäude im Sanierungsgebiet keinen Einfluss auf die Mietverträge hätte. Diese unterlägen „dem normalen Mietrecht“, was aber auch hieße, dass „die Modernisierungskosten prozentual umgelegt werden“ könnten. Womit Bezirksstadtrat Spallek das Problem glasklar identifiziert hat.

 


MieterEcho 356 / September 2012

Schlüsselbegriffe: Neukölln, Nordneukölln, Immobilienbranche, Investoren, Sanierungsgebiet Karl-Marx-Straße/Sonnenallee, Funktionsschwäche, Einkaufsstandort, Sozialplanverfahren, Verdrängung, Modernisierung

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