Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter
MieterEcho 355 / Juli 2012

Prekäre verdrängen Arme

Nord-Neukölln ist noch lange nicht gentrifiziert, aber schon jetzt zu teuer

Jutta Blume

Die anhaltenden Gentrifizierungsdebatten haben dazu beigetragen, dass die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung die jüngste Entwicklung Nord-Neuköllns untersuchen ließ. Die Topos-Studie „Sozialstrukturentwicklung in Nord-Neukölln“ bestätigt die Gentrifizierungsthese kaum, gleichwohl aber eine Entwicklung, die auf die gesamte Innenstadt zutrifft: Wohnungsknappheit führt zu rasant steigenden Mieten gerade im unteren Preissegment. Die Ärmsten der Armen müssen das Gebiet verlassen, während sich etwas weniger Arme die Mieten gerade noch leisten können.

 

Im  Auftrag der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung befragte das Stadtforschungsbüro Topos im Sommer 2011 Nord-Neuköllner Haushalte nach ihrer Wohn- und Einkommenssituation sowie ihrer persönlichen Bewertung des Gebiets. Die rund 1.800 Antworten wurden nach drei Gebieten unterteilt: das Quartier um den Reuterplatz, den Schillerkiez und das übrige Nord-Neukölln. Die Ergebnisse wurden am 12. März 2012 in der Rütli-Schule vorgestellt.                 

Von 2006 bis 2011 stieg die Einwohnerzahl in Nord-Neukölln um 6%, und damit doppelt so stark wie in Gesamtberlin. Der Wohnungsneubau fiel Bezirksbaustadtrat Thomas Blesing zufolge mit 0,13 Wohnungen pro 1.000 Einwohner/innen im Jahr 2010 geringer aus als in anderen Stadtteilen. Zwangsläufig folgt daraus, dass es immer weniger leer stehende Wohnungen gibt. Die durchschnittliche Nettokaltmiete hat in fast allen Teilgebieten den entsprechenden Mittelwert des Mietspiegels überschritten. Bei den Neuvermietungspreisen seit 2010 kam Topos auf 5,82 Euro/qm, mit einem deutlichen Preissprung im Schillerkiez von 2009 zu 2010, der durch die Öffnung des ehemaligen Flugfelds bedingt sein dürfte. Die von Topos ermittelten Mietpreise wurden vom Publikum allerdings angezweifelt, selbst der Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) berichtete von weit höheren Forderungen. Eine Studie der GSW kam auf eine Grundmiete von etwa 7 Euro/qm für Neuvermietungen im Reuterkiez.

Zuzug von Normalverdienenden vor allem im Reuterkiez

Gentrifizierung ist in den drei Gebieten am ehesten im Reuterkiez zu befürchten. Die Einkommen von Neuzugezogenen liegen hier auf Berliner Niveau, besonders beliebt ist das Viertel bei 27- bis 45-Jährigen. Sogenannte Pioniere – das sind junge Leute mit hohem Bildungsabschluss, aber noch recht geringem Einkommen – hätten es im Reuterkiez inzwischen schwer, eine Wohnung zu finden, so Sigmar Gude von Topos (siehe auch nachfolgendes Interview). Der Schillerkiez bleibt trotz drastischer Mietsteigerungen von Armut geprägt. Hier liegt das Einkommensniveau 20% unter dem Berliner Durchschnitt, bei den Neuzugezogenen immerhin noch 14%. Allerdings seien hier besonders viele Pioniere zugewandert, zumeist Studierende.

Bei der Vorstellung der Studie wurde vor allem die  Knappheit von Wohnraum als ursächliches Problem gesehen. „Die Leerstandsabnahme ist nicht überraschend, da wir das Phänomen in ganz Berlin beobachten“, erklärte der Staatssekretär für Bauen und Wohnen Ephraim Gothe.  Als einziges Rezept gegen Wohnungsknappheit und hohe Mieten nannte er verstärkten Wohnungsneubau, mit dem allerdings keine Nettokaltmieten von 5,60 Euro/qm zu erzielen seien.  Die Erwähnung von Neubauoptionen auf dem Tempelhofer Feld rief im Publikum einigen Unmut hervor. Gesetzesinitiativen zur Begrenzung von Mieterhöhungen hingegen hielt Gothe im derzeitigen Bundesrat für unrealistisch.   

Schlechte Aussichten für arme Mieter/innen

Bezirksbürgermeister Buschkowsky zeigte sich vor allem enttäuscht, dass die steigenden Mieten nicht auch zu größerer „sozialer Stabilität“ geführt hätten. Noch immer zögen junge Familien wieder weg, sobald ihre Kinder das Einschulungsalter erreicht hätten. Er wünschte sich, dass Neukölln eine größere Sogwirkung auf die durchschnittliche Berliner Bevölkerung entfalten würde, womit wohl vor allem Personen mit einem durchschnittlichen Einkommen gemeint waren.Auch wenn in Neukölln nach wissenschaftlichen Kriterien kaum Gentrifizierung festzustellen ist, lieferte der Abend keine Perspektiven für diejenigen, die aus ihrem Quartier verdrängt werden oder aufgrund der steigenden Mieten immer weniger Geld zur Verfügung haben.

 

Download der Topos-Studie im Internet:

www.quartiersmanagement-berlin.de

 


MieterEcho 355 / Juli 2012

Schlüsselbegriffe: Gentrifizierung, Nord-Neukölln, Stadtforschungsbüro Topos, „Sozialstrukturentwicklung in Nord-Neukölln, Wohnungsknappheit, steigende Mieten, Heinz Buschkowsky, Reuterkiez

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