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MieterEcho 353 / März 2012

Mehr als nur Mitbestimmung

In Venezuela entstehen 350 Wohnungen in Eigenregie durch Bewohner/innen eines Armenviertels

Pauline Bader und Laura Berner

Mitten im überfüllten Caracas, an einer der Hauptverkehrsstraßen der venezolanischen Hauptstadt, liegt ein drei Hektar großes Grundstück seit Jahrzehnten brach. Bewohner/innen des angrenzenden Armenviertels erzielten nach jahrelangem Kampf im Mai 2011 die Enteignung des Geländes durch die Regierung. Dieses Jahr soll der Bau von zunächst 350 Wohnungen für die Nachbarschaft beginnen. Die Pläne für die neue Wohnsiedlung wurden von den zukünftigen Bewohner/innen selbst entwickelt und auch der Bau erfolgt in Eigenregie. Ein Besuch bei der „Comunidad Socialista Francisco de Miranda“.

 


Die Wohnungsnot ist in Venezuela eines der größten sozialen Probleme – nach Regierungs-angaben fehlen rund 2 Millionen Wohnungen. In der 6,5-Millionen-Stadt Caracas spitzt sich das Problem zu, weil die Bevölkerung durch den anhaltenden Zuzug aus ländlichen Regionen immer weiter wächst. Auf den Berghängen drängen sich die informell errichteten Siedlungen derer, die sich die exorbitanten Mieten in den Hochhausanlagen der Mittelschicht nicht leisten können. Jede/r Dritte wohnt bereits heute in diesen sogenannten Barrios, meist unter prekären Bedingungen. Fließendes Wasser ist oft nicht vorhanden und die Verkehrsanbindung unzureichend und teuer. Vielerorts besteht die Gefahr, dass die Häuser durch starke Regenfälle weggespült werden. Trotzdem breiten sich die Barrios kontinuierlich in immer entlegenere Gebiete aus.

Die 37-jährige Yulimar Martínez lebt seit ihrer Geburt im Barrio „Campo Rico“ im östlichen Teil der Stadt. Sie teilt sich ein kleines Zimmer mit ihrem Ehemann und ihren beiden Kindern. In den anderen Teilen des Hauses wohnen Verwandte. Die Toilette befindet sich vor der Tür, eine separate Küche gibt es nicht. Yulimar ist eine der vier gewählten Sprecherinnen der „Comunidad Socialista Francisco de Miranda“, zu der sich mehrere Hundert Familien aus dem Barrio zusammengeschlossen haben. Sie leben unter ähnlich schwierigen Bedingungen wie Yulimar und teilen den Wunsch nach einer eigenen Wohnung für ihre Familie. Gemeinsam wollen sie nun eine sozialistische Wohnsiedlung errichten. Der Baugrund, eine drei Hektar große Freifläche, grenzt direkt an ihr Viertel. „Jedes Mal, wenn ich in den Jeep stieg, der mich zu meinem Haus nach oben auf dem Hügel bringt, habe ich das riesige verfallende Gelände neben der Haltestelle gesehen“, erzählt Yulimar. „Ich habe mir immer wieder gedacht: Das müsste als Wohnraum für uns und unsere Nachbarn genutzt werden.“ Mit drei weiteren Mitstreiterinnen begann die energiegeladene Barriobewohnerin vor 6 Jahren, sich für die Aneignung des Grundstücks durch die Nachbarschaft einzusetzen. Die Aktivistinnen schrieben offene Briefe, belagerten politische Entscheidungsträger und organisierten Kundgebungen und Demonstrationen. Dabei mussten sie wiederholt feststellen, dass man ihr Anliegen in der staatlichen Verwaltung nicht unterstützte, zum Teil sogar torpedierte. Denn obwohl in Venezuela seit 2009 ein Gesetz existiert, das die legale Grundlage für die Enteignung von städtischen Brachflächen schafft (siehe Infokasten), verhielten sich verschiedene staatliche Institutionen eher eigentümerfreundlich. So gingen im Wohnungsministerium wichtige Unterlagen verloren, welche die Gruppe aus „Campo Rico“ für das gesetzmäßige Enteignungsverfahren eingereicht hatte. Auch als die Eigentümerin des Geländes, eine evangelikale Sekte, nach Einleitung des Verfahrens schwere Baufahrzeuge auf dem Gelände auffahren ließ, unterband die Aufsichtsbehörde dies nicht. Die Barriobewohner/innen organisierten daraufhin einen Wachschutz aus ihren eigenen Reihen und verhinderten so über 6 Monate weitere Bauarbeiten auf dem Gelände. Einen offiziellen Baustopp konnten sie erst erwirken, als der Vizepräsident des Landes sich persönlich bei Staatsoberhaupt Hugo Chávez für ihr Anliegen einsetzte – ein typisches Verfahren im traditionell sehr populistisch geprägten Venezuela. Im Mai 2011 wurde schließlich offiziell das Nutzungsrecht für das Gelände an die „Comunidad Socialista Francisco de Miranda“ übertragen.

Partizipative Planung

Seit einem halben Jahr planen die Familien gemeinsam mit einem Architekt/innenteam die Bebauung des Grundstücks. In der ersten Planungsphase trafen sich die zukünftigen Bewohner/innen, um ihre Vorstellungen und Erwartungen an den Gebäudekomplex zu sammeln. In Arbeitsgruppen fertigten die Familien eigene Baupläne an. Neben neuem Wohnraum solle es auch selbstverwaltete Gemeinschaftseinrichtungen für Bildung, Kultur, Sport und Erholung geben. In der zweiten Planungsphase fasste das Architekturbüro die Ideen der verschiedenen Baupläne zusammen und prüfte sie auf Umsetzbarkeit. Aus zwei Vorschlägen der leitenden Architektin wählten die Bewohner/innen in einer Versammlung schließlich einen aus. Mit den Architekt/innen zeigt sich Rafaela Rodrígez, wie Yulimar von Anfang an dabei und heute ebenfalls Sprecherin der Comunidad, sehr zufrieden. Man habe in einem langen Auswahlprozess ein Team gefunden, mit dem man auf  Augenhöhe zusammenarbeiten könne und das bereit sei, seine Pläne bei Versammlungen mit den Barriobewohner/innen zu diskutieren, so die 47-Jährige.

Gebaut wird von den zukünftigen Bewohner/innen selbst, um die Kosten zu reduzieren. Zur Finanzierung der Wohnungen erhalten die Familien einen niedrig verzinsten Kredit vom Staat, den sie je nach Einkommen über 20 bis 25 Jahre zurückzahlen. Familien mit besonders niedrigem Einkommen erhalten eine 100%ige Finanzierung.

Selbstorganisation mit Bonus

Über die Belange des Bauprojekts entscheidet die Nachbarschaft auf den zweiwöchentlichen Versammlungen. Um die Comunidad als sozialen, politischen und kulturellen Zusammenhang zu entwickeln, sind alle Familienmitglieder aufgefordert, an gemeinsamen Aktivitäten teilzunehmen. Diese reichen von Planungstreffen über Filmvorführungen bis hin zur Unterstützung der chavistischen stadtpolitischen Bewegung. Jede Teilnahme wird erfasst und am Ende des Quartals wird ausgewertet, wie sich jede Familie eingebracht hat. Wer sich zu wenig engagiert, wird abgemahnt. Die Sprecherinnen der Comunidad nehmen in den Selbstorganisationsstrukturen eine wichtige Rolle ein. Sie koordinieren den Prozess, moderieren die Versammlungen und schaffen Verbindlichkeiten. Auch der Aktivitätenkatalog und das Evaluationssystem wurden von ihnen entwickelt, aber es besteht die Möglichkeit, Veränderungsvorschläge einzubringen. An einem Abend im Dezember 2011 ist man in einer Versammlung zusammen gekommen, um die letzten drei Monate im Projekt zu evaluieren. Die überwiegende Mehrheit der Anwesenden sind Frauen, viele haben ihre Kinder mitgebracht. Auf Plastikstühlen sitzen sie im Kreis zusammen und die vier Sprecherinnen stellen die Evaluationsergebnisse vor. Es wird gelobt und geklatscht oder auch gerügt. Eine Frau verteidigt ihre niedrige Beteiligungsquote: Sie konnte nicht an den letzten Versammlungen teilnehmen, weil sie stets bis 7 Uhr abends gearbeitet habe. Das lassen die Sprecherinnen nicht gelten – die Treffen sind schließlich um 8 Uhr. Lange wird darüber diskutiert, ob eine Familie ausgeschlossen wird, deren Mitglieder seit einiger Zeit nicht mehr bei den Treffen aufgetaucht sind. Die Sprecherinnen drängen auf Ausschluss. Sie argumentieren, dass diejenigen, die nicht regelmäßig zu den Versammlungen und Veranstaltungen kommen, sich auch später nicht in der Comunidad und deren kollektiven Einrichtungen engagieren werden. Doch es regt sich Widerstand: Die Frau sei krank, ein Ausschluss unsolidarisch. Jede/r muss sich der Reihe nach zum Thema äußern und am Ende verpflichtet sich eine Nachbarin dazu, mit der Familie Kontakt aufzunehmen und zu klären, ob sie weiter am Bauprojekt interessiert ist oder nicht. Die Versammlung zieht sich bis spät in den Abend hinein.

Selbstorganisation ist anstrengend, aber der Aufwand lohnt sich, findet Rafaela: „Früher, bei der Stadtplanung der vergangenen Epochen, haben wir Armen schlichtweg nicht existiert. Jetzt sagen wir selbstbewusst, dass wir Besseres verdient haben.“ Die Nachbarschaft in Campo Rico habe im Laufe des Enteignungs- und Planungsverfahrens gelernt, „ihre Bedürfnisse zu artikulieren und zu verteidigen“.

Das Beispiel der Comunidad Socialista Francisco de Miranda zeigt, was in Venezuela an der Tagesordnung ist: Die Organisierung der Armen wird durch die Regierung unter Hugo Chávez in einem gewissen Rahmen ermöglicht und gefördert. Aber es ist Druck von unten erforderlich, um die gesetzlich teilweise anerkannten Bedürfnisse und Forderungen auch durchzusetzen. Damit unterscheiden sich diese Organisationsformen maßgeblich von in Deutschland staatlich geförderten Mitbestimmungsformen, die oftmals befriedend wirken. Sie haben dafür aber nicht selten mit Populismus und der anhaltenden Korruption in Venezuela zu kämpfen.

Progressives Brachflächenmanagement

Seit 2009 können in Venezuela städtische Brachflächen und Bauruinen enteignet, in kommunales Eigentum überführt und für staatlichen Wohnungsbau genutzt werden. In einem zentralen Register werden sämtliche ungenutzten Flächen landesweit erfasst. Bei der Vervollständigung des Registers sind „organisierte Nachbarschaften“ ausdrücklich aufgefordert mitzuwirken. Wird ein Grundstück enteignet, erhalten die Eigentümer eine Entschädigung und die entstehenden Wohnungen werden vom Staat subventioniert. Bezieht eine Familie weniger als den gesetzlichen Mindestlohn (ca. 270 Euro monatlich bei einem ähnlichen Preisniveau wie in Deutschland), erhält sie ihre Wohnung kostenlos. Bei steigendem Einkommen wird die Subventionsrate gesenkt.

MieterEcho 353 / März 2012

Schlüsselbegriffe: Venezuela, Caracas, Campo Rico, Comunidad Socialista Francisco de Miranda, Armenviertel, sozialistische Wohnsiedlung, Selbstorganisation, Brachflächenmanagement