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Gegensteuern statt gegen Steuern

Steuerpolitik und ihre Folgen

Hermann Werle
 

Steuern sind eine Geldleistung der Steuerpflichtigen an das Gemeinwesen, ohne dass daraus ein Anspruch auf eine unmittelbare Gegenleistung entsteht. Dies ist der Unterschied zu Gebühren wie Friedhofs- oder Rundfunkgebühren. Steuern sind die Haupteinnahmequelle des Gemeinwesens und bilden somit eine der Grundlagen politischen Handelns. Je nachdem, an welcher Steuerschraube und in welche Richtung gedreht wird, hat das Auswirkungen auf die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, auf die sozialen Sicherungssysteme oder auch auf die Finanzierbarkeit des öffentlichen Wohnungsbaus. Die populäre Rechnung „mehr Netto vom Brutto“, welche vorgaukelt, „niedrige Steuern = mehr Geld im Portemonnaie“, ist so simpel wie falsch.

 

Vor 220 Jahren wurde die allgemeine Steuerpflicht im Sinne der Gleichheitsgrundsätze der Französischen Revolution zu einem Menschenrecht erhoben. In dieser historischen Phase, so der Staats- und Finanzwissenschaftler Fritz Karl Mann, sei „die permanente Besteuerung zum unabtrennbaren Zwilling des modernen Staates geworden“, was „sowohl für sozialistische als auch für kapitalistische Länder“ gelte. Mann, der in Berlin geboren wurde, 1933 aus Deutschland in die USA emigrierte und 1979 im Alter von 95 Jahren in Washington verstarb, gilt als einer der Begründer der Finanzsoziologie, deren Fokus auf die soziale Komponente der Finanzpolitik gerichtet war.
 

Erziehen, umverteilen und gestalten

In dem Buch „Finanztheorie und Finanzsoziologie“ beschreibt der Finanzsoziologe drei Wege, wie die Besteuerung das gesellschaftliche Leben beeinflussen könne. Erstens lasse sich mit Steuern der Konsum beeinflussen und sie könnten so als „Werkzeug der Kollektiverziehung“ dienen. Zweitens könnten Steuern zur „Regulierung der Wirtschaftsmacht der sozialen Gruppen und Klassen“ eingesetzt werden. Allgemein, so Mann, könne die Besteuerung sowohl „der Verbreiterung als auch der Einengung der ‚ökonomischen Distanz’ zwischen der herrschenden Klasse und den beherrschten Gruppen“ dienen. Der Verringerung der „ökonomischen Distanz“ dienen z. B. die Vermögen- und Erbschaftsteuern sowie die Progression der Einkommensteuer. So unterliegen hohe Einkommen nicht nur einem höheren Steuersatz, sondern Wohlhabenden und Reichen kommt auch ein sinkender Anteil der öffentlichen Ausgaben bei sozialen Unterstützungsleistungen zu. Als drittes Wirkungsfeld steuerlicher Maßnahmen beschreibt Mann die Gestaltung der Wirtschaftsverfassung. Diese ergebe sich aus der Erhebung von Körperschaftsteuern, also den Steuern auf die Gewinne von Kapitalgesellschaften. „Aus dieser gewaltigen Quelle“ könnten nicht nur „große Beträge verhältnismäßig leicht abgeschöpft werden“, sondern es ergebe sich auch die Möglichkeit, Hindernisse des freien Wettbewerbs – also Monopole – zu beseitigen. Darüber hinaus könnten sich aus den Körperschaftsteuern dauerhaft Überschüsse in den öffentlichen Haushalten ergeben. „Unter diesen Umständen fließt das Kapital, das sonst von der Privatwirtschaft investiert worden wäre, dem Staat zu.“ So könne sich der öffentliche Sektor auf Kosten des privaten ausdehnen. Resümierend hält Mann fest, dass Steuern „ihrer Natur nach“ keineswegs auf die bescheidene Rolle beschränkt seien, unerwünschte Tendenzen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zu zügeln und zu korrigieren. „Wenigstens grundsätzlich können sie auch für ein revolutionäres Programm eingesetzt werden.“
 

Ausgaben- oder Einnahmenproblem?

Revolutionäre Programme haben nicht gerade Hochkonjunktur in der öffentlichen Diskussion, geschweige denn in der Politik. Gemessen an dem von Mann vorgestellten Gestaltungsrahmen der Steuerpolitik wird deutlich, dass die Steuerreformen der letzten Jahrzehnte allesamt die Vergrößerung der ökonomischen Distanz zwischen der „herrschenden Klasse und den beherrschten Gruppen“ vorangetrieben haben. Der ersatzlosen Streichung der Vermögensteuer im Jahr 1997 unter der Regierung von Helmut Kohl folgte das „größte Steuersenkungsprogramm der deutschen Nachkriegsgeschichte“, wie es die rot-grüne Regierung unter Schröder und Fischer stolz nannte. Auch noch im Jahr 2010 riss diese Steuerreform riesige Löcher in die öffentlichen Haushalte, was Achim Truger in seinem Beitrag darstellt. Das insbesondere von der FDP anvisierte Ziel ist es, die Staatsquote, die das Verhältnis der Ausgaben von Bund, Ländern, Kommunen und der gesetzlichen Sozialsysteme zum Bruttoinlandsprodukt beschreibt, unter 40% zu drücken. Dies sei für das Wachstum und die Konkurrenzfähigkeit Deutschlands notwendig. Im internationalen Vergleich zeigt sich indes, dass die Staatsquote Deutschlands im Mittelfeld rangiert und weit etwa unter der Schwedens liegt, einem Land, das trotz hoher Staatsausgaben eine vergleichsweise geringe Verschuldung aufweist und bislang sehr gut durch die Krise kommt. Die Verschuldungsursache ist offensichtlich weniger ein Problem der Ausgaben, sondern vielmehr eines der Einnahmen, wie Claus Matecki, Vorstandsmitglied des DGB, im Interview betont.
 

Ein Jahrzehnt der Steuergeschenke

Im Mittelpunkt der letzten Steuerreformen standen jeweils die Einkommen- und die Körperschaftsteuer. Erstere besteht aus der von den Arbeitnehmern einbehaltenen Lohnsteuer und aus der Einkommensteuer, die von Selbständigen abgeführt wird. Vor allem Besserverdienende konnten sich über die rot-grünen Steuergeschenke freuen. So wurde der Spitzensteuersatz von ehemals 53% Ende der 90er Jahre auf 42% abgesenkt. Einnahmeverluste erheblichen Umfangs ergeben sich außerdem aus der Absenkung der Körperschaftsteuer. Sieht Fritz Karl Mann in dieser Steuer ein Mittel, um die Macht der Konzerne einzuschränken und den öffentlichen Sektor zu stärken, so erlebte man in den letzten Jahren das genaue Gegenteil: Öffentliche Betriebe wurden privaten Konzernen zum Fraß vorgeworfen. Voraussetzung für deren großen Appetit waren steigende Gewinne bei gleichzeitiger Absenkung der Körperschaftsteuer von zunächst 40% auf 25% in 2001 und auf nur noch 15% im Jahr 2008. Im Zusammenspiel mit den vielfältigen Steuervermeidungsmöglichkeiten sowie krisenbedingten Umsatzrückgängen sind die Steuern auf Unternehmensgewinne quasi zu Bagatellsteuern gesunken. Das „größte Steuersenkungsprogramm der deutschen Nachkriegsgeschichte“ unter der rot-grünen Regierung war insofern ein großer Schwindel, als es sich tatsächlich vor allem um das größte Steuerumverteilungsprogramm handelte – und zwar von den Vermögenden und Unternehmen auf die Schultern der Lohnabhängigen. Das Resultat eines Jahrzehnts von Steuergeschenken ist, dass die privaten Vermögen zwischen 2000 und 2010 von 3,51 auf 4,9 Billionen Euro anwuchsen. Nach einer Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung verfügt die Hälfte der Bevölkerung über keinerlei Vermögen, wohingegen den reichsten 10% mehr als 60% des gesamten Vermögens gehört und dem reichsten 1% beinahe ein Viertel. Diese enormen Vermögen, die aus den Finanzmärkten ein globales Spielcasino haben werden lassen, speisen sich unter anderem aus den Steuergeschenken.
 

„Potenzial voll ausschöpfen“

Um den in der Folge des steuerlichen Einnahmeverzichts immer größer werdenden Haushaltsdefiziten entgegenzuwirken, wurden den sozialen Sicherungssystemen diverse Sparrunden verordnet, unter denen insbesondere strukturschwache Regionen in Ostdeutschland zu leiden haben (siehe Interview mit Rudolf Martens vom Paritätischen Gesamtverband). Des Weiteren dient die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 16 auf 19% zum 1. Januar 2007 der Kompensation der Einnahmeverluste. Hierdurch wurde die Steuerlast von den direkten Steuern auf Einkommen, Gewinne und Vermögen zu den indirekten Verbrauchs- und Massensteuern verlagert. Bei 34% lag der Anteil der Mehrwertsteuer am Gesamtsteueraufkommen im vorletzten Jahr. Rechnet man die Verbrauchssteuern auf Kfz, Energie, Tabak, Versicherungen etc. hinzu, ergeben sich über 50%. Die Lastenträger der öffentlichen Haushalte sind also in zunehmendem Maß die Lohnabhängigen, die mit der Lohnsteuer nochmals knapp 26% zum Gesamtsteueraufkommen beitragen und zudem mit allerorts steigenden Gebühren konfrontiert sind. Dass dies nicht nur in Deutschland das Steuermodell der Zukunft ist, zeigt sich mit Blick auf die Steuerpolitik der krisengebeutelten EU-Staaten. In den letzten Monaten erhöhten unter anderem Rumänien, Griechenland, Spanien und Großbritannien die Mehrwertsteuer um durchschnittlich 3,4%. Die Europäische Union, die den Mindestsatz der Mehrwertsteuer für EU-Mitgliedsstaaten bereits 1993 auf 15% festgesetzt hatte, verkündete im Dezember letzten Jahres, dass die Mehrwertsteuer eine „zentrale Einnahmequelle der Mitgliedstaaten“ sei. Die den Verbrauch belastenden Steuern würden zu den „wachstumsfreundlichsten Steuern“ gehören, weswegen „unbedingt sichergestellt werden“ müsse, dass das Mehrwertsteuersystem der EU „sein Potenzial voll ausschöpfen kann“. Auf diesem steuerpolitischen Pfad wird sich die von Fritz Karl Mann beschriebene „ökonomische Distanz zwischen der herrschenden Klasse und den beherrschten Gruppen“ in Deutschland wie im gesamten EU-Raum weiter vergrößern. Keine grundsätzliche Positionierung gegen Steuern, sondern Gegensteuern ist angezeigt. Funktionierende soziale Infrastrukturen und ein reales „mehr Netto vom Brutto“ gibt es nur mit mehr Brutto bei den Löhnen und mit Steuern, die die ökonomische Distanz verringern und der Macht der Konzerne ein Ende bereiten.
 

MieterEcho Nr. 345 / Januar 2011


Schlüsselbegriffe: Steuerpolitik, Steuern, Haushaltspolitik, Austerität, Fritz Karl Mann, Ausgabenproblem, Einnahmenproblem, Verschuldung, Staatsausgaben, Steuerreform, ökonomische Distanz