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Weder sozial noch solidarisch

Der „Kampf“ der EU gegen Armut und soziale Ausgrenzung

Hermann Werle
 

Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt war das Jahr 2010 von der Europäischen Union zum „Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung“ erklärt worden. Als Grundlage dieses Beschlusses formulierte die Europäische Kommission, dass der „Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung zu den wichtigsten Zielen der EU und ihrer Mitgliedsstaaten“ gehöre. Die Realitäten haben die europäische Bevölkerung eines Besseren belehrt: Die EU ist weder sozial noch solidarisch! Das Jahr 2010 wird als Jahr des sozialen Kahlschlags in die europäische Geschichte eingehen.

 

Zu den fast vergessenen – oder gar nicht bekannten – Vordenkern eines europäischen Einigungsprozesses gehört der italienische Kommunist und spätere Abgeordnete im Europäischen Parlament, Altiero Spinelli (1906-1986). Unter Mussolini saß Spinelli jahrelang im Kerker, zuletzt bis 1943 in Verbannung auf der kleinen italienischen Insel Ventotene. Nach dieser Insel ist ein Manifest aus dem Jahr 1941 bezeichnet, in dem Spinelli gemeinsam mit antifaschistischen Genossen die Vorstellung eines zukünftigen, vereinigten Europas entwarf. Dem Manifest zufolge solle die Krise, in der sich die alten konservativen Institutionen nach dem Krieg befinden würden, mit Wagemut und Entschlusskraft genutzt werden. „Die Revolution muss, soll sie unseren Bedürfnissen entsprechen, sozialistisch sein, das heißt, sie muss sich einsetzen für die Emanzipation der arbeitenden Klassen und für die Schaffung humanerer Lebensbedingungen“, so das Manifest von Ventotene.

Als 2007 im Europäischen Parlament dem hundertsten Geburtstag Spinellis gedacht wurde, bezeichnete der ehemalige EU-Parlamentspräsident Hans-Gert Pöttering (CDU) den Italiener als einen „der großen Architekten der europäischen Einigung“. Er habe zur Stärkung des Parlaments beigetragen und würde auch heute noch ermutigen, die Union einiger und stärker zu machen. An das Manifest von 1941 wollte man sich bei der Gelegenheit lieber nicht erinnern.
 

Wettbewerb geht vor

Die Entwicklung der europäischen Einigung von der Montanunion Anfang der 50er Jahre bis zum heutigen Tag ist alles andere als ein Befreiungsschlag der „arbeitenden Klassen“. Deutlich wird das nicht zuletzt am Vertrag von Lissabon, der am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten ist. Darin ist zwar festgehalten, dass die EU „den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten“ fördern und sich für „die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen“ einsetzen will, aber der Möglichkeit zur Durchsetzung verbindlicher Regelungen sind deutliche Grenzen gesetzt. So „kann“ die Union „Initiativen zur Koordinierung der Sozialpolitik der Mitgliedstaaten ergreifen“, muss es aber nicht. Denn als festes Prinzip der EU gilt, dass es die Sache der Mitgliedstaaten ist, „die Grundprinzipien ihres Systems der sozialen Sicherheit festzulegen“. Initiativen der EU dürfen also keinesfalls „das finanzielle Gleichgewicht dieser Systeme erheblich beeinträchtigen“.
 

Europäisches Sozialmodell – Koordinierung des sozialen Kahlschlags

Zwar taucht der Begriff des „Europäischen Sozialmodells“ immer mal wieder auf, in der Realität ist dieses Modell allerdings nicht aufzuspüren. Wäre ein solches Modell existent, so stünde es in der aktuellen Situation vor seiner größten Herausforderung. Tatsächlich vorhanden sind hingegen die verschiedenen nationalen Sozialmodelle, und auf der Ebene der Europäischen Union sind lediglich die oben erwähnten Absichtserklärungen zur Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts zu finden. Darüber hinaus gibt es im Bereich der Arbeitsschutzmaßnahmen verbindliche Mindestanforderungen, wozu unter anderem Bestimmungen zur Bildschirmarbeit, zur Lärmbelästigung oder zum Heben schwerer Lasten gehören. Häufig liegen die Regelungen der EU allerdings unter den Standards vieler Mitgliedstaaten, da im Bereich „Arbeit und Soziales“ grundsätzlich nur das Prinzip des kleinsten gemeinsamen Nenners verfolgt wird.

Für die Ermittlung des gemeinsamen Nenners wurde vor zehn Jahren beim EU-Ratsgipfel in Lissabon die sogenannte „Offene Methode der Koordinierung“ eingeführt. Diese Methode sieht vor, dass die Kommission Leitlinien und Ziele in Politikbereichen vorgibt, in denen sie ansonsten nur eingeschränkte Einwirkungsmöglichkeiten hat, dazu gehören vor allem die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Die vorgegebenen Ziele sollen dann von den Mitgliedsstaaten durch „Nationale Aktionspläne“ umgesetzt werden. Während des gleichen Lissabonner Gipfels wurde das Ziel verkündet, die EU bis 2010 zum stärksten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, wobei Deutschland mit der vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder verkündeten Agenda 2010 seinen Beitrag liefern wollte.
 

Jahr zur Bekämpfung von Armut –ein Armutszeugnis

Im Rahmen der „Offenen Methode“ finanziert die Europäische Kommission mit sage und schreibe 17 Millionen Euro das „Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung“. Davon sind rund 750.000 Euro für die Durchführung des Programms in Deutschland vorgesehen, was von der Ministerin für Arbeit und Soziales, Ursula von der Leyen (CDU), großzügig um 2 Millionen Euro aufgestockt wurde. „Mit neuem Mut“ heißt das Programm in Deutschland, welches sich zum Ziel gesetzt hat, das öffentliche Bewusstsein dafür zu stärken, „dass es soziale Ausgrenzung gibt und wie Ausgrenzung auf die betroffenen Menschen wirkt“. Außerdem soll die „Wahrnehmung für die vielfältigen Ursachen und Auswirkungen von Armut und sozialer Ausgrenzung“ geschärft werden, denn es gilt „einen sensibleren Umgang von Politik und Medien mit den betroffenen Menschen zu erreichen“. Von der Leyens Ministerium und den beauftragten PR-Agenturen ist es bislang nicht gelungen, den eigenen Zielvorgaben zu entsprechen. Aber zumindest entspricht die Programmatik den „Zielen und Leitprinzipien“, die die Europäische Kommission in ihrem „Strategischen Rahmenpapier“ zu diesem historischen Jahr verfasste: „Ausgehend von den Erfolgen und dem Potenzial der offenen Methode der Koordinierung im Bereich des Sozialschutzes und der sozialen Eingliederung stärkt das Europäische Jahr das politische Engagement für die Verhinderung und Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung, indem es die politische Aufmerksamkeit bündelt und alle Betroffenen mobilisiert, und es bringt die einschlägigen Maßnahmen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union weiter voran.“
 

„Mit neuem Mut“?

Alles klar: Wir sollten nicht immer nur ans Geld denken, schließlich können wir mit unserer gebündelten Aufmerksamkeit und „mit neuem Mut“ Armut und Ausgrenzung bekämpfen. In diesem Sinne belehrte uns von der Leyen kürzlich im Bundestag: „Nicht die Masse der Mittel macht es, sondern die Qualität der eingesetzten Mittel ist entscheidend.“
 

Weitere Infos:

Manifest von Ventotene (via de.wikipedia.org)
de.wikipedia.org/wiki/Manifest_von_Ventotene

Vertrag von Lissabon
http://eur-lex.europa.eu/JOHtml.do?uri=OJ:C:2010:083:SOM:DE:HTML

 

MieterEcho Nr. 344 / Dezember 2010


Schlüsselbegriffe: Europäische Union, EU, Jahr der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung, Europäische Kommission, sozialer Kahlschlag, Altiero Spinelli, Manifest von Ventotene, Sozialpolitik, Europäisches Sozialmodell, Agenda 2010, Vertrag von Lissabon, Ursula von der Leyen, Hermann Werle