Interessengemeinschaft und Beratung für Berliner Mieter

Vom Provisorium zum Prinzip

Lebensmittelausgabestellen für Bedürftige haben sich zum festen Bestandteil der Armenpolitik entwickelt

Christian Linde
 

Ursprünglich als ein Projekt für Obdachlose ins Leben gerufen, hat sich die „Berliner Tafel“ zu einem bundesweiten Modell etabliert. Inzwischen gehören Geringverdiener/innen, einkommensschwache Familien, Alleinerziehende und Rentner/innen zu den „Kunden“ der Tafeln. Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Regelsätzen dürfte der Bedarf an Lebensmittelspenden erhalten bleiben, und im kommenden Jahr wird die Gründung der eintausendsten Tafel erwartet. Inzwischen steht das professionalisierte Tafelsystem jedoch nicht mehr nur als leuchtendes Beispiel für bürgerschaftliches Engagement, sondern auch als Symbol für den Abbau des Sozialstaats. Um der wachsenden Kritik zu begegnen, liegt nun ein Positionspapier aus den Reihen der Betreiber/innen vor. Gleichzeitig tüfteln die Sozialkonzerne auf dem weiteren Weg zur Vertafelung der Gesellschaft mit anderen Mitteln bereits an neuen Geschäftsfeldern und tragen damit zur weiteren Privatisierung der Existenzsicherung bei.

 

Wenn in den zurückliegenden Jahren eine Entwicklung die wachsende Armut in Deutschland sichtbar gemacht hat, dann ist es die rasante Vermehrung von Lebensmittelausgabestellen für „Bedürftige“. Mittlerweile existieren knapp 900 sogenannte Tafeln, die nach Angaben des Bundesverbands Deutsche Tafel inzwischen etwa eine Million Menschen, darunter ein Viertel Kinder und Jugendliche, mit Nahrung versorgen. Den Auftakt bildete vor 17 Jahren Berlin. Mittlerweile wächst die Zahl der Tafeln nahezu im Wochenrhythmus.

Die Idee der Tafel ist bereits fast dreißig Jahre alt und stammt aus den USA. Mitarbeiter/innen der Organisation „City Harvest“ waren 1983 in New York die ersten, die ehrenamtlich übrig gebliebene Lebensmittel sammelten, um sie an Arme und Obdachlose kostenlos abzugeben. Im Jahr 1993 erstmals in Deutschland ins Leben gerufen, ist die Berliner Tafel bundesweit die älteste Einrichtung ihrer Art. Das Arbeitsprinzip ist simpel: Nach Schätzungen werden rund 20% aller Lebensmittel in der Hauptstadt weggeworfen. Die Tafel sammelt solche Lebensmittel ein, sofern sie nach den gesetzlichen Bestimmungen noch verwertbar sind, und gibt sie an Bedürftige und an soziale Einrichtungen. Dazu zählen unter anderem Wärmestuben für Wohnungslose, Kindereinrichtungen, Beratungsstellen und Jugendhäuser. Seit 2005 existiert im Rahmen der Aktion Laib und Seele eine Kooperation der Tafel mit den Amtskirchen und dem Rundfunk Berlin-Brandenburg. In 45 Ausgabestellen, die in Kirchen oder Gemeindehäusern angesiedelt sind, können Bedürftige für den symbolischen Preis von einem Euro Lebensmittel erhalten. Als Spenden werden ausschließlich frische, verwert- und genießbare Nahrungsmittel angenommen, die den gesetzlichen Auflagen entsprechen, versichert die Berliner Tafel. „Geschulte Helfer und Helferinnen überprüfen jede Lebensmittelspende auf ihre Verwendbarkeit, bevor sie angenommen und weitergegeben wird – Hygiene und Sauberkeit beim Umgang mit den Waren sind unabdingbar.“
 

Von Unterstützer/innen zu Unternehmer/innen

Monatlich werden so rund 550 Tonnen Lebensmittel verteilt. Ursprünglich als Angebot für Anlaufstellen der Obdachlosenhilfe initiiert, hat sich die Berliner Tafel längst zu einem quasi-mittelständischen Unternehmen mit einem weit verzweigten Mitarbeiter-, Kooperations- und Vertriebsnetz entwickelt. Der Tafel zufolge können viele der über 370 sozialen Einrichtungen, die so mit Lebensmitteln beliefert werden, aufgrund der immer geringeren finanziellen Zuwendungen der öffentlichen Hand oft nur mithilfe der Tafel ihr Essensangebot weiter aufrecht erhalten oder sogar verbessern. „Konnten manche Stellen früher lediglich Suppe anbieten, gibt es nun auch manchmal Obst, Kuchen, Fleisch, Milchprodukte – Lebensmittel, die im Etat der Stellen einfach nicht vorgesehen sind.“ An rund 125.000 Menschen, darunter ALG-II-Beziehende, Rentner/innen und andere Transferleistungsberechtigte wird nach Angaben der Tafel mittlerweile Essen ausgegeben. Diese müssen ihre Bedürftigkeit durch offizielle Dokumente nachweisen.
 

Berliner Tafel als Vorbild

Die Berliner Tafel ist zum Vorbild für die Gründung vieler weiterer Tafeln in ganz Deutschland geworden. Im September 1995 wurde deshalb in Berlin die „Deutsche Tafelrunde“ gegründet, aus der sich später der Bundesverband Deutsche Tafel e.V. entwickelt hat. Nachdem die vorbehaltlos positive Medienberichterstattung der letzten Jahre – die wesentlich zur Mobilisierung von Spenden beitrug – nachgelassen hat, ernten die Betreiber/innen zunehmend kritische Töne. Der zentrale Vorwurf lautet, dass die Arbeit der Tafeln der Politik als Vorwand diene, den Sozialstaat weiter zu demontieren. Befeuert wird die Kritik durch eine Publikation des Soziologen Stefan Selke. Der Medienwissenschaftler moniert vor allem das Tafel-System. Bestand das ursprüngliche Motiv darin, das Überflüssige zu verteilen, sei die Leitidee längst, den Mangel auszugleichen. „Systeme wie das der Tafeln verstetigen Armut“, so Selke.
 

Image-Offensive der Betreiber/innen

Angesichts der neuen Qualität in der Auseinandersetzung mit dieser Form bürgerschaftlichen Engagements sahen sich die Tafel-Betreiber/innen mittlerweile gezwungen zu reagieren. So hat der Bundesverband der Diakonie der Evangelischen Kirche in Deutschland ein Positionspapier vorgelegt (knapp die Hälfte aller Tafeln mit rund 40.000 ehrenamtlichen Mitarbeiter/innen befindet sich in der Trägerschaft einer der beiden Amtskirchen). „‚Tafeln’ sind Ausdruck einer sozialen Spaltung der Gesellschaft in zwei Konsumptionsbereiche. Sie stehen in Gefahr, dies ungewollt zu unterstützen. Die einen verfügen über ausreichend beziehungsweise reichlich Mittel, sich frei auf dem Markt als Konsumentinnen beziehungsweise Konsumenten zu bedienen, während ein anderer Teil der Bevölkerung in ‚Sozialläden’ auf verbilligte (Gebraucht-)Waren oder Almosen angewiesen ist“, heißt es darin. In seiner Bestandsaufnahme macht sich der Bundesverband der Diakonie sogar die Argumente der Tafel-Kritiker/innen zu eigen. „Die ‚Tafeln’ zeigen überdeutlich, dass trotz staatlicher Sozialpolitik Armen eine menschenwürdige Existenz verweigert wird. Insbesondere politische Akteure instrumentalisieren und missbrauchen in einigen Fällen die Arbeit der ‚Tafeln’, um eigene Untätigkeit und Versäumnisse bei der Überwindung von Armut zu verdecken“, stellt der Verband klar. „Die ‚Tafeln’ dürfen nicht zum Bestandteil einer staatlichen Strategie zur Überwindung von Armut werden. Unabhängig davon, ob und in welchem Umfang ‚Tafeln’ existieren, ist es ausschließlich die Aufgabe des Staates, (...) die Daseinsvorsorge nach sozialstaatlichen Zielsetzungen der sozialen Gerechtigkeit und sozialen Sicherheit zu gestalten.“ In ihren „Tafel-Thesen“ kündigt die Diakonie für die Zukunft sogar an, „die Integrität der Spender und Sponsoren in sozialer, ökologischer und ökonomischer Perspektive zu beachten“.
 

Armutsindustrie auf Expansionskurs

Die Thesen werfen die Frage nach der Glaubwürdigkeit nicht nur des Sozialverbands, sondern der gesamten Tafel-Bewegung auf. Nach wie vor tabu sind die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung der Belegschaften sowohl bei den Spenderunternehmen als auch bei den Sozialverbänden. Außerdem wird nicht deutlich benannt, wie viele der Beschäftigten der Tafeln rein ehrenamtlich arbeiten und wie viele mit einem 1-Euro-Job. Und schließlich haben die Kirchen und die Wohlfahrtsverbände die von ihnen beklagten Verhältnisse praktisch mit hervorgerufen, indem sie im Einklang mit Politik und Wirtschaft den Arbeitsmarktreformen sowie der gesamten Hartz-IV-Gesetzgebung zugestimmt und diese Entwicklungen sogar unterstützt haben.

Dass sich der Boom der Tafeln fortsetzen wird, verspricht der Jahresbericht 2009 des Bundesverbands Deutsche Tafel. „Im Zentrum des Bereichs Fundraising stand der Auf- und Ausbau der Kontakte zum Lebensmittelhandel. Die erfreuliche Nachricht gleich zu Beginn: Im Unterschied zu anderen Organisationen sah sich der Bundesverband Deutsche Tafel glücklicherweise nicht mit einer Verminderung des Spendenaufkommens konfrontiert.“

Dass auf dem weiteren Weg der Privatisierung der Existenzsicherung in den Ideenwerkstätten der Sozialkonzerne bereits an neuen Geschäftsfeldern getüftelt wird, ist den im Rahmen der „Tafel-Thesen“ formulierten „Handlungsempfehlungen“ des Diakonischen Werks zu entnehmen. „Ideen, die über die Grundidee der Tafeln hinausgehen, können in Kooperation mit Netzwerkpartnern reflektiert und gegebenenfalls realisiert werden“, heißt es darin. Bei einer Podiumsdiskussion zur Politik der Tafeln in der Kreuzberger Heilig-Kreuz-Kirche fiel dazu bereits ein Stichwort: „Medikamenten-Tafel“.
 

MieterEcho Nr. 344 / Dezember 2010


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