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„Die Mieterbewegung ist die einzige aufstrebende soziale Bewegung von unten im heutigen Polen.“

Interview mit Piotr Ikonowicz vom Gesamtpolnischen Mieterbund für ein Recht auf Wohnung

 
MieterEcho (ME): Im Juni 2010 fand die Gründungsveranstaltung des Gesamtpolnischen Mieterbundes statt. Wie viele regionale Mieterorganisationen gehören zu den Gründern?

An dem Treffen im Juni nahmen 17 Vereine teil und weitere sind seitdem hinzugekommen. Heute sind es 21. Der Verband wurde bei dem zuständigen Registergericht inzwischen angemeldet.

ME: Wie sieht die Situation der Mieter in Polen gegenwärtig aus?

Nach einer von Professor Czapinśki für das Jahr 2009 durchgeführten Untersuchung zur sozialen Lage in Polen (Diagnoza społeczna za rok 2009) haben 46% aller Polen Probleme mit der Miete. Es gibt keinen wirksamen Schutz für Menschen, die wegen Arbeitsplatzverlust, wegen Krankheit, wegen Lohnsenkung oder anderer objektiver Gründe in Armut geraten. Gleichzeitig wird die Reprivatisierung bisher in kommunalem Besitz befindlicher Bestände betrieben. Die neuen Eigentümer schrecken nicht vor Schikanen wie z. B. dem Abschalten von Wasser oder Heizung zurück. Mieter/innen haben immer größere Schwierigkeiten, die erhöhten Mieten in diesen reprivatisierten Miethäusern zu bezahlen. Häufig werden auch Eigentumswohnungen verschuldeter Personen und Wohnungen im Genossenschaftsbesitz zu unverhältnismäßig niedrigen Erlösen versteigert. Die Folge ist, dass die Bewohner/innen sofort geräumt werden.

ME: Gibt es noch Exmittierungen auf die Straße?

Das ist eine Massenerscheinung in Polen. Jedes Jahr werden Tausende Räumungsurteile gefällt. Das funktioniert so, dass Mieter/innen zunächst in eine provisorische Unterkunft geräumt werden, um dann nach einigen Wochen ins Nichts entlassen zu werden, weil es sich eben bei diesen Unterkünften nicht um Wohnungen handelt. Mitunter zerfällt durch die Räumung die gesamte Familie, da bei Verlust der Wohnung die Kinder auf Gerichtsbeschluss in Waisenhäusern untergebracht werden, obwohl die Familien völlig intakt und die Familienmitglieder emotional miteinander verbunden sind. Oft würde eine kleine Hilfe der öffentlichen Hand genügen, um den Familien die Wohnung zu erhalten und die Trennung zu vermeiden.

ME: Welche konkreten Ziele verfolgt die neue Vereinigung?

Die wichtigste Aufgabe des Mieterbunds ist die Änderung des Miet- und Sozialrechts, damit die Anzahl der durch Obdachlosigkeit sozial ausgegrenzten Menschen nicht mehr steigt. Dazu ist eine Ergänzung der Verfassung um das Grundrecht auf Wohnen notwendig. Dann muss die öffentliche Hand gezwungen werden, die Wohnbedürfnisse der Bevölkerung durch den Bau neuer Kommunalwohnungen mit regulierten Mieten zu befriedigen. Wir wollen auch auf die Gestaltung des Kommunalrechts Einfluss nehmen, das die Mietgrundsätze und das Mietrecht bestimmt.

ME: In Polen gibt es noch andere Mietervereinigungen. Ist eine Zusammenarbeit all dieser Organisationen möglich?

Die Mieterbewegung ist die einzige aufstrebende soziale Bewegung von unten im heutigen Polen. Es gibt zahlreiche Vereinigungen, von kleinen Zusammenschlüssen in einer einzelnen Mietskaserne bis zu solchen, die regionale und auch gesamtpolnische Strukturen haben. Unser Ehrgeiz ist es, sie alle einzuladen, mit uns im Gesamtpolnischen Verband sowohl auf Landes- als auch auf europäischer Ebene aktiv zu sein.

ME: Welche realen Chancen sehen Sie im Kampf um ein soziales Mietrecht in Polen?

Die „Kanzlei für Soziale Gerechtigkeit“, die die Entstehung des „Gesamtpolnischen Mieterbunds für ein Recht auf Wohnung“ initiierte, geht davon aus, dass der von ihr geführte Kampf ein politischer ist. Es geht um das Modell eines Sozialstaats, hinter dem keine der relevanten politischen Kräfte in Polen steht. Wir denken, dass der Mieterbund sich in eine soziale Bewegung wandelt, die sich als starke politische Kraft entfaltet, und dass es nur so gelingt, eine reale und radikale Änderung in der Gesetzgebung zu erreichen.

ME: Würde eine Vereinigung aller Mietervereinigungen in Europa auch für Polen eine Perspektive bedeuten?

Wir glauben, dass das Ideal eines sozialen Europas nur auf der Ebene der gesamten Europäischen Union realisiert werden kann. Das erfordert eine Koordination des Kampfes um europäische Standards im Wohnungswesen, um die politisch Verantwortlichen zu zwingen, der Wohnungspolitik den gleichen Rang zuzugestehen wie z. B. der Einhaltung des Defizitlimits im Haushalt. Die Polen sind deshalb so proeuropäisch, weil sie an die Vision größerer sozialer Rechte, die es in anderen Ländern gibt, glauben. Aus Meinungsumfragen geht hervor, dass die Polen eher den EU-Institutionen vertrauen als der eigenen politischen Klasse oder den Institutionen des eigenen Staates. Daher gilt für hier und heute die Losung: Mieter aus ganz Europa – vereinigt euch! Der erste Schritt für uns in diese Richtung ist die Zusammenarbeit mit der Berliner MieterGemeinschaft.

ME: Vielen Dank für das Gespräch.


Interview und Übersetzung: Piotr Łuczak.
 

MieterEcho Nr. 343 / November 2010


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