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Abschied vom Sozialstaat

Die soziale Frage ist längst zurück, aber soll nicht politisch, sondern privatwirtschaftlich gelöst werden.

Hermann Werle
 

In der Europäischen Union leben knapp 80 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze, sind also beim Zugang zu gut bezahlter Arbeit, Bildung oder Wohnraum ernsthaft benachteiligt. Das entspricht etwa 17% der Bevölkerung. Deutschland liegt mit knapp 15% etwas unter dem EU-Durchschnitt, weist jedoch große regionale Unterschiede auf. Den vom Statistischen Bundesamt im August veröffentlichten Zahlen zufolge liegt in Bayern und Baden-Württemberg die Armutsgefährdung lediglich bei 11%, dafür aber in Berlin und Sachsen bei 19%. Die soziale Frage, die zumindest in Deutschland als gelöst galt, ist zurückgekehrt, während sich der Sozialstaat verabschiedet.

 

Was im Mittelalter mit der freiwilligen und christlich motivierten Armenfürsorge begann, entwickelte sich im 19. Jahrhundert zu einer staatlichen Sozialpolitik. In Preußen entstanden die ersten gesetzlichen Regelungen, zum Beispiel zur Einschränkung von Kinderarbeit. Verelendung, die mit der Industrialisierung und wachsenden Städten einher ging, machte die soziale Frage zum Thema mit gesellschaftspolitischer Relevanz, denn mit dem Elend wuchs auch der Einfluss der Sozialdemokratie, den Bismarck mit der Einführung der Sozialversicherungen zurückzuweisen gedachte. Das gelang zwar nicht, aber in Grundzügen war jene Sozialstaatlichkeit geschaffen, die im Rahmen der kapitalistischen Wirtschaftsweise den sozialen Frieden bewahren sollte und bis in die frühere Bundesrepublik fortbestand.
 

Vorbild USA

Der Typus des „sozialdemokratischen Sozialstaats“ – wie er für Westdeutschland prägend war und in den skandinavischen Ländern heute noch relativ intakt vorhanden ist – zielt auf einen Ausgleich zwischen Markt und Staat, wobei der Staat soziale Rechte auf hohem Niveau garantiert. Der Kern dieser Garantie ist ein umfassendes, staatlich verwaltetes Sozialversicherungssystem. Demgegenüber steht das aus den USA oder Kanada bekannte Modell des „liberalen Wohlfahrtsstaats“, der auf Eigenverantwortung und familiärem Zusammenhalt beruht. Dieser Wohlfahrtsstaat basiert auf einem Fürsorgesystem niedrigen Niveaus. Er garantiert keine sozialen Grundrechte, sondern gewährt lediglich eine mildtätige – und stigmatisierende – Fürsorge. Staatliche Versicherungssysteme sind dementsprechend nicht vorgesehen, und wer dergleichen fordert oder gar einführen möchte, steht schnell unter Verdacht, ein Sozialist oder Schlimmeres zu sein, wie US-Präsident Barack Obama bei der Einführung der Krankenversicherung erfahren musste.

Als Sozialisten wollen sich auch deutsche Politiker/innen nicht gern beschimpfen lassen und greifen vorbeugend auf das Vorbild des US-Modells zurück: So war die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth ganz entzückt von der Ankündigung von 40 amerikanischen Milliardären, mindestens die Hälfte ihres Vermögens für wohltätige Zwecke spenden zu wollen. Dem Entzücken schloss sich Carsten Schneider (SPD) gleich an und verkündete, dass dies „ein sehr lobenswertes Beispiel dafür“ sei, „dass die Reichen sich nicht aus sozialer Verantwortung ausklinken“. Dass wir mit dieser Geisteshaltung nicht in den USA, sondern im Mittelalter angekommen sind, erläutert Elke Brüns in dem Beitrag „Spendenkulturen“.
 

Vertafelung der Gesellschaft

Die Hoffnung auf die freiwillige Wohltätigkeit der Reichen folgt dem allgemeinen politischen Trend, den Sozialstaat in einen liberalen Wohlfahrtsstaat zu überführen. Ein Trend, der in Deutschland mit der Agenda 2010 unter der rot-grünen Regierung eine rasante Beschleunigung erfuhr und sich unter Schwarz-Gelb und den verschiedenen jeweiligen Landesregierungen fortsetzt. Wo der Sozialstaat verschwindet, springen muntere, innovative Sozialunternehmen in die Bresche. Das Soziale ist zu einem Wirtschaftszweig herangereift, der bedenkliche Probleme nicht nur für die betroffene „Kundschaft“, sondern auch für die Beschäftigten mit sich bringt, wie Philipp Mattern am Beispiel der Jugendsozialarbeit aufzeigt.

Einen weiteren Bereich der sich entwickelnden Sozialindustrie beleuchtet Christian Linde. Mit steigender Tendenz müssen heute weit über eine Million Menschen in Deutschland auf die von Spenden abhängenden Essensangebote der Tafeln zurückgreifen. Dass die Tafeln neben der Essensverteilung zukünftig weitere Märkte des schwindenden Sozialstaats erschließen möchten, deutet sich an – im Gespräch sind unter anderem Medikamententafeln.

In völliger Übereinstimmung mit den hiesigen Vertafelungstendenzen agieren die Institutionen der EU. Die weitgehende Liberalisierung geschützter Marktsegmente ist das erklärte Ziel der EU. Diese erklärte das Jahr 2010 zwar zum „Jahr zur Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung“, der Ankündigung folgte indes ein verordnetes Kahlschlagprogramm, welches die Armutsziffern in die Höhe treibt. Die freien Märkte sollen die Probleme lösen, die sie selbst hervorbringen. Wenig überraschend ist das Resultat „weder sozial noch solidarisch“.
 

MieterEcho Nr. 344 / Dezember 2010


Schlüsselbegriffe: Sozialstaat, soziale Frage, Hermann Werle, Europäische Union, EU, Armut, staatliche Versicherungssysteme, Barack Obama, Claudia Roth, wohltätige Spenden, Wohltätigkeit, Milliardäre, liberaler Wohlfahrtsstaat, Spendenkultur, Sozialwirtschaft, Sozialindustrie, Jugendsozialarbeit, Berliner Tafel, Vertafelung, sozialer Kahlschlag