MieterEcho

MieterEcho 333/April 2009

Quadrat TITEL

Spaltung der Arbeitsgesellschaft

Vor dem Hintergrund eines sich wandelnden Arbeitsmarkts richten die politisch und organisatorisch geschwächten Gewerkschaften den Blick Richtung Europa

Christian Linde

In den letzten zehn Jahren hat die Zahl der Normalarbeitsverhältnisse in Deutschland um 1,5 Millionen abgenommen. Die Zahl der atypischen Beschäftigungsverhältnisse ist dagegen auf nahezu acht Millionen gestiegen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund spricht von einem Marsch in die Armut. Noch beherrscht die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn die gewerkschaftliche Debatte. Um dem weiteren Ausbau des Niedriglohnsektors entgegenzuwirken, fordert der Europäische Gewerkschaftsbund einen „neuen Sozialvertrag für die Beschäftigten in Europa“. Darüber hinausgehende Gegenstrategien verharren noch in akademischen Zirkeln.

„Sozial ist, was Arbeit schafft.“ Auf diesen Satz erheben die Wirtschaftsliberalen das Urheberrecht. In den Debatten um die Arbeitsmarktpolitik wurde gegen dieses Motto in den zurückliegenden anderthalb Jahrzehnten kaum nennenswerter Widerspruch laut. Keine der politischen Parteien hielt der Forderung aus der Wirtschaft nach einem deregulierten und flexibilisierten Arbeitsmarkt substanziell etwas entgegen. Die Folge war vor allem die Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Die jüngst vorgelegten Zahlen des Statistischen Bundesamts bestätigen diese Entwicklung. Zwar ist das Normalarbeitsverhältnis immer noch die vorherrschende Beschäftigungsform, doch die Zahl der Normalarbeitsverhältnisse ist zwischen 1997 und 2007 um 1,5 Millionen auf 30,2 Millionen zurückgegangen. Gleichzeitig sind die atypischen Beschäftigungsverhältnisse um 2,6 Millionen auf 7,7 Millionen angestiegen. Als Normalarbeitsverhältnis gilt Beschäftigung, die unbefristet in Vollzeit mit vertraglich fixierter Vergütung verrichtet wird. Demgegenüber ist die atypische Beschäftigung geprägt von schlechteren Arbeitsbedingungen, niedrigeren Löhnen und reduzierter Teilhabe an sozialer Sicherheit. Sie tritt in zahlreichen Facetten in Erscheinung, als befristete oder geringfügige Beschäftigung, als Teilzeit- und Zeitarbeit, als Praktikum oder in verschiedenen Varianten der (Schein-) Selbstständigkeit. „Je nach Definition zählt jedes dritte bis vierte Arbeitsverhältnis zu der vom Normalarbeitsverhältnis abweichenden Beschäftigung“, so der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB).

Massiver Umbau der Arbeitsgesellschaft

Jede fünfte bis sechste sozialversicherungspflichtige Arbeit wird inzwischen in Teilzeit ausgeübt. Rund sieben Millionen Menschen zählen zu den geringfügig Beschäftigten. Sie arbeiten in sogenannten Minijobs. Das sind deutlich mehr als die rund 4,8 Millionen Arbeitnehmer/innen, die eine sozialversicherte Teilzeitarbeit ausüben. In einigen Branchen ist die geringfügige Beschäftigung mittlerweile der Regelfall. Bei der Gebäudereinigung sowie dem Gastgewerbe kommt bereits auf eine sozialversicherte Beschäftigung ein Minijob. Im Postgewerbe und im Einzelhandel liegt das Verhältnis bei zwei zu eins. „Die Hoffnung jedoch, dass mit dieser geringfügigen Beschäftigung eine Brücke für Arbeitslose in den regulären Arbeitsmarkt gebaut werden kann, hat sich nicht erfüllt. Minijobs sind nicht nur mit weniger sozialer Sicherheit verbunden – wie etwa unzureichender Alterssicherung –, sondern oftmals auch mit schlechteren Arbeitsbedingungen und geringerer Stabilität der Beschäftigung“, lautet die Bilanz des DGB. Dies gelte auch für befristete Beschäftigung. In den neuen Bundesländern ist fast jedes zehnte Arbeitsverhältnis befristet, 7% sind es in den alten Ländern. Dies resultiert aus dem höheren Niveau der öffentlich geförderten Beschäftigung. Im Jahr 2007 sind bundesweit immerhin 760.000 Arbeitslose in Arbeitsgelegenheiten, sogenannte 1-Euro-Jobs, eingetreten.

Mehr als ein Einkommen zur Existenzsicherung nötig

Der Strukturwandel des Arbeitsmarkts zeigt sich auch bei „freien“ Mitarbeiter/innen und Praktikant/innen, etwa in der Kulturwirtschaft. Bundesweit beträgt ihr Beschäftigungsanteil rund 4%. Immer häufiger treten Scheinpraktikant/innen an die Stelle regulär Beschäftigter. Rasante Wachstumszahlen verzeichnet die Leiharbeit. In den letzten fünf Jahren kam es hier zu einer Verdoppelung. „Leiharbeit dient seit Langem nicht nur dazu, kurzfristige Produktionsspitzen oder Personalausfall auszugleichen, sondern wird in vielen Betrieben zu einem systematischen Element der Personalrationalisierung und der Verdrängung regulärer Stammbelegschaften“, so der DGB. Mehr als die Hälfte der Arbeitsverhältnisse dauern weniger als zwölf Wochen. Laut Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung werden maximal 15% der Leiharbeitskräfte vom Einsatzbetrieb übernommen.

Ein Boom vollzieht sich bei den Arbeitsplatzbesitzern mit Zweitjob. Inzwischen arbeiten mehr als zwei Millionen sozialversichert Beschäftigte in einem Nebenjob mit einem monatlichen Einkommen von maximal 400 Euro pro Monat. Dies entspricht bereits einem Anteil von 7,6% aller sozialversichert Beschäftigten. Das Institut Arbeit und Qualifikation hat ermittelt, dass – unter Berücksichtigung der Minijobs – die Zahl der Beschäftigten mit Bruttostundenlöhnen von bis zu 5 Euro bundesweit von 1,5 Millionen im Jahr 2004 auf 1,9 Millionen in 2006 gestiegen ist. Das Volumen dieser Nebenjobs, die als „Alternative“ zum Hartz-IV-Bezug dienen, hat sich, gemessen an den Arbeitsstunden, seit 2002 nahezu verdoppelt und auf 905 Millionen Arbeitsstunden erhöht. Zur Existenzsicherung sind immer häufiger mehrere Erwerbseinkommen erforderlich, vor allem wenn mehrere Personen im Haushalt leben.

Neuausrichtung der Politik nötig

Die Zunahme atypischer Beschäftigung erhöht unmittelbar das Risiko der Arbeitslosigkeit und mindert den Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung. Im Zusammenwirken mit den Hartz-IV-Reformen hat dies dazu geführt, dass nur noch ein Drittel der Arbeitslosen von der Arbeitslosenversicherung betreut wird, während der Großteil bereits auf Hartz IV angewiesen ist. In welchem Umfang die Menschen in der Lage sein werden, bis zum gesetzlichen Rentenalter erwerbstätig zu sein (auch angesichts der Anhebung von 65 auf 67 Jahre), darüber gibt die Auswertung des DGB-Index „Gute Arbeit – Arbeitsfähigkeit bis zur Rente“ Auskunft, die von der IG Metall und der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten im Februar vorgestellt wurde. Danach geht nur jeder zweite Beschäftigte davon aus, vor Renteneintritt überhaupt noch arbeitsfähig zu sein. Bei Beschäftigten, die körperlich schwer arbeiten, liegen die Zahlen noch wesentlich niedriger, doch auch bei denjenigen, die Büroarbeit verrichten oder in der IT-Branche tätig sind, verschlechterten sich die Prognosen erheblich. Hier seien die Belastungen eher Arbeitshetze und Zeitdruck. Die Ergebnisse würden verdeutlichen, dass politisch umgesteuert werden müsse.

Kampagnen und EU-Perspektive

Die Gewerkschaften haben auf die Herausforderungen keine schlüssige Strategie. Vielmehr nimmt die gewerkschaftliche Repräsentanz und Durchsetzungsfähigkeit ab, insbesondere im wachsenden Dienstleistungssektor, und die Mitglieder schwinden. Im April 2005 veröffentlichte der DGB sechs Thesen zu einem „Europäischen Sozialvertrag für das 21. Jahrhundert“. Darin heißt es u. a.: „Um den europäischen Herausforderungen gerecht zu werden, müssen sich die Gewerkschaften stärker noch als bisher auf Europa zu bewegen.“ Im nationalen Rahmen starteten Einzelgewerkschaften wie die IG Bauen-Agrar-Umwelt im Frühjahr 2007 Image- und Aufklärungs-Kampagnen gegen Lohndumping. In einem Positionspapier der Metaller heißt es, dass eine Gegenstrategie nicht allein auf die Organisierung von prekär Beschäftigten setzen könne. Die IG Metall müsse vor allem dort aktiv werden, wo gewerkschaftliche Organisationsmacht vorhanden ist, das heißt in gut organisierten Betrieben von Entleiherfirmen: „Wir werden nur erfolgreich sein können, wenn wir in den Betrieben, in denen wir stark sind, deutlich machen: Solche Beschäftigungsverhältnisse dulden wir nicht.“ Auf dem 18. Bundeskongress des DGB im Mai 2006 wurde „prekäre Beschäftigung“ erstmals in einem Antrag als ein neuer Arbeitsschwerpunkt und ein „wichtiges Zukunftsthema von Gewerkschaften“ beschrieben. Höhepunkt im nationalen Rahmen war bisher die am 17. Dezember 2007 gestartete Mindestlohnkampagne des DGB: „Deutschland braucht den Mindestlohn – kein Lohn unter 7,50 Euro“.

„Auslöser neuer Arbeiterbewegungen“

„Wenn die deutschen Gewerkschaften eine Trendwende vollziehen wollen, kann ihnen eine Politik des Organizing eine große Stütze sein“, sagt Susanne Kim, die sich beim DGB-Bildungswerk mit diesem Thema befasst. Das Organizing-Prinzip stammt aus den USA. In den letzten Jahren wurde dort vor allem im Gesundheitswesen, in Alten- und Pflegeheimen, bei Sicherheitsdiensten, im Reinigungs- und Cateringgewerbe, bei Transportunternehmen, im Bildungssektor und im öffentlichen Dienst gewerkschaftlich organisiert. Gewerkschaften gingen bewusst in bislang nicht organisierte Betriebe, um Haustarife abzuschließen. In wenigen Branchen ist es gelungen, die führenden Unternehmen gleichzeitig zu organisieren und dadurch eine vertragliche Bindung von Unternehmen zu erreichen, die den Charakter eines Flächentarifs hat.

Hierzulande hätten es die Gewerkschaften zunächst „verschlafen“, gegen die Ausbreitung prekärer Arbeitsverhältnisse anzugehen, sagt Klaus Dörre. „Prekarisierungsprozesse werden politisch höchst unterschiedlich verarbeitet“, warnt der Sozialwissenschaftler von der Universität Jena. „Sie können rechtspopulistische Tendenzen fördern, sie können aber auch zum Auslöser neuer Arbeiterbewegungen werden.“

Organizing

Der Begriff Organizing bezeichnet gebündelte Aktivitäten und Praktiken zur Mitgliedergewinnung und zur Steigerung des Organisierungsgrads.

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