MieterEcho

MieterEcho 333/April 2009

Quadrat TITEL

„Prekär statt prickelnd“

Interview mit Ulla Pingel, der Vorsitzenden des Erwerbslosenausschusses der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di-Berlin

MieterEcho (ME): Mit Kreativwirtschaft wird gemeinhin unternehmerische Freiheit und wirtschaftliche Unabhängigkeit verbunden. Deckt sich dies mit der tatsächlichen sozialen Realität der Kreativen?

Ulla Pingel: Wir müssen zwischen drei Gruppen innerhalb der Kreativwirtschaft unterscheiden, den mittleren und großen Unternehmen, den Kleinstunternehmen mit maximal zehn Beschäftigten und den 1-Personen-Unternehmen. Während die Beschäftigten in größeren Unternehmen von halbwegs berechenbaren Arbeitszeiten und einem relativ gesicherten und garantierten Einkommen ausgehen können, gilt dies für Arbeitnehmer in Kleinstunternehmen schon nicht mehr. Am schwierigsten ist die Situation für die Solo-Unternehmer/innen. Als Arbeitskraftunternehmer müssen Personen aus diesem Kreis von der Auftragsakquise bis zum fertigen Produkt bzw. der erstellten Dienstleistung alles erledigen. Das bedeutet u. a. keine festen Arbeitszeiten und auch kein garantiertes Einkommen. Ein ständiger Kampf um die Gage oder das Honorar bestimmt den Alltag. Außerdem ist die Situation der Beschäftigten in den unterschiedlichen Branchen, die man dem Kreativsektor zurechnet, höchst unterschiedlich.

ME: Welche Bedeutung haben die Arbeitsmarktreformen samt Einführung des Arbeitslosengelds II (ALG II) für den Boom in der Kreativwirtschaftsindustrie?

Ulla Pingel: Grundsätzlich muss man feststellen, dass der Bezug von Arbeitslosengeld II mit dem Zwang gekoppelt ist, jede Beschäftigung annehmen zu müssen. Dies hat das Lohn- und Gehaltsniveau generell gedrückt. Ob über die Umwandlung von regulärer Beschäftigung in Minijobs, die Einführung der sogenannten 1-Euro-Jobs oder die Maßnahmen im Rahmen des öffentlichen Beschäftigungssektors sind die Tätigkeiten von Selbstständigen vor allem im kulturellen Bereich verdrängt worden. Hier hat sich eine Umwandlung von selbstständiger Arbeit in öffentlich geförderte Beschäftigung vollzogen. Ein Indiz allein für die Einkommensentwicklung ist das Ergebnis einer Anfrage an die Bundesregierung. Danach hat sich die Zahl der Selbstständigen, die ergänzend ALG II beziehen, seit Einführung des ALG II von 34.000 auf 108.000 (Stand September 2008) erhöht.

ME: Ist der Prozess des weiteren Abbaus von ehemals gültigen Einkommens- und Sozialstandards zu stoppen?

Ulla Pingel: Die befinden sich praktisch im freien Fall. Für die klassischen Branchen der Kulturwirtschaft würde dies bedeuten, dass eine weitere Privatisierung nicht stattfinden dürfte und die bereits vollzogenen Privatisierungen rückgängig gemacht werden müssten. Dies wäre die Voraussetzung dafür, wieder angemessene Bedingungen für die Beschäftigten zu schaffen.

ME: Ver.di hat in Berlin rund 150.000 Mitglieder. Die Zahl der im Kreativbereich Tätigen in Berlin bewegt sich in der gleichen Größenordnung. Sehen Sie Möglichkeiten, die gewerkschaftsfernen prekär Beschäftigten in den Kleinstbetrieben und die Solo-Unternehmer/innen der Kreativwirtschaft in einen politisch-gewerkschaftlichen Organisationszusammenhang zu bringen?

Ulla Pingel: Für eine kollektive Interessenvertretung ist es grundsätzlich schwer, mehr oder weniger individuelle Akteure zu erreichen. Bezogen auf die Ansiedlung der Unternehmen in bestimmten Quartieren sollten sich die Gewerkschaften auf eine stadtteilorientierte Arbeit ausrichten. Neu entstandene Berufsbilder in diesem Bereich und eine junge Generation von Erwerbstätigen erfordern auch neue Formen der Kommunikation. Auf diese Herausforderungen sind noch keine hinreichenden Antworten gefunden worden.

ME: Im kommenden Juni findet auf Initiative der Bundesregierung ein Kongress zur Kreativwirtschaft in Berlin statt. Mit welchen Botschaften sollten Gewerkschaften diesem Ereignis begegnen?

Ulla Pingel: Dass neben dem Abfeiern von Wachstumszahlen ein realistisches Bild von der Arbeitswelt der Kreativindustrie die Grundlage für Handlungsoptionen sein muss. Dazu gehört auf jeden Fall der Mindestlohn ebenso wie die Frage des Verdienstausfalls im Krankheitsfall und die Absicherung im Alter. Für den Großteil der Selbstständigen sind soziale Standards die Ausnahme und nicht die Regel. Kreativ sein ist in hohem Maße prekär statt prickelnd.

ME: Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Christian Linde.

Weitere Infos:

http://erwerbslose.berlin.verdi.de/

http://erwerbslose.verdi.de

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