Christoph Villinger
Etwa 10 Kilometer südöstlich vom Alexanderplatz befindet sich einer der ehemaligen zentralen Industriestandorte Berlins. Unzählige leer stehende und zum Teil verfallende Produktionsstätten prägen das Gebiet zwischen Spree und Wuhlheide. In den denkmalgeschützten Gründerzeit-Gebäuden aus rotem Backstein, in denen früher Zehntausende Arbeiter Kabel flochten, schwitzen heutzutage die Bewohner/innen höchstens in einem der vielen Fitness-Clubs. Insbesondere um die Abwanderung der Bevölkerung zu stoppen, setzte der Senat 1999 ein Quartiersmanagement ein. Viele Probleme wurden angefasst, doch die meisten Probleme sind geblieben.
Eigentlich war das Quartiersmanagement (QM) in Oberschöneweide eines der erfolgreichsten der Stadt. „Denn seine Hauptaufgabe bestand darin, den Wegzug zu stoppen“, erzählt Theo Killewald, einer der langjährigen Mitarbeiter des QM. In den letzten Jahren nahm die Bevölkerung im Quartier wieder um rund 28% zu, was vor allem auf die Sanierung und Neuvermietung der vielen leer stehenden Altbauten zurückzuführen ist. So beschloss der Senat für Stadtentwicklung für alle Beteiligten überraschend, das QM-Gebiet zum Jahresende 2007 aufzuheben „und in eine Phase der Verstetigung zu überführen“. Verbunden war dies mit dem Wegfall vieler Fördergelder des Programms „Soziale Stadt“. Seitdem ersetzt ein von den Bewohner/innen getragener und vom Bezirk Treptow-Köpenick finanzierter Kiezrat die Funktionen des QM. Der von weit über 30 Leuten getragene Rat fühlt sich nicht nur für das ursprüngliche QM-Gebiet mit seinen rund 6500 Bewohner/innen zuständig, sondern für ganz Schöneweide links und rechts der Spree mit etwa 27.000 Einwohner/innen.
Auch jetzt, ein Jahr später, hat Killewald „seine Zweifel, ob die Entscheidung des Senats, das QM-Gebiet zum Jahresende 2007 aufzuheben, richtig war“. Denn trotz des Bevölkerungszuwachses sind die sozialen Probleme geblieben. Dabei ist Killewald klar, dass „ein QM ein endliches Vergnügen ist“ und sich gerade einem QM-Team die Aufgabe stellen muss, „sich selbst überflüssig zu machen“. Nur hätte man den Übergang nicht so abrupt gestalten müssen, meint der heute als Geschäftsführer bei Stattbau arbeitende Killewald, „sondern das QM langsam ab- und den Kiezrat parallel ebenso langsam aufbauen müssen“. Gründe für die Entscheidung des Senats waren die positiven wirtschaftlichen Prognosen wegen der Nähe zum neuen Großflughafen Berlin-Brandenburg International sowie die für 2009/2010 geplante Ansiedlung der Fachhochschule für Technik und Wirtschaft. Ob die rund 6000 Studierenden in den sanierten Fabrikgebäuden sowie den zwei Neubauten entlang der Spree auf dem „Campus Wilhelminenhof“ wirklich die Sozialstruktur vor Ort verbessern, muss sich aber erst noch zeigen.
Um die heutige Zusammensetzung der Bevölkerung zu erklären, holt Killewald kurz zur Geschichte von Oberschöneweide aus. Begünstigt durch die gute Verkehrsanbindung mittels Wasser, Straße und Schiene siedelten sich nach der Reichsgründung 1871 in rascher Folge industrielle Großbetriebe entlang der Spree an. Für die Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft (AEG) entwickelte sich Oberschöneweide zum Hauptstandort. Der Gründerzeit entstammt die heute zum großen Teil unter Denkmalschutz stehende Industriearchitektur. Waren zum Industrialisierungsbeginn bereits über 1400 Arbeiter/innen in der flächenintensiven Kabelproduktion beschäftigt, stieg deren Zahl vom Kaiserreich über die Weimarer Republik und die Zeit des Nationalsozialismus bis zum Ende der DDR auf 25.000 bis 30.000 Menschen. Während für die leitenden Angestellten und Beamten in Richtung Wuhlheide großzügige und komfortable Wohnsiedlungen entstanden, drängten sich die Wohnblöcke der Arbeiter/innen mit geringer sanitärer Ausstattung entlang der Wilhelminenhof- und Edisonstraße. „Zum Ende der DDR waren die ganzen Wohnblöcke entlang der Wilhelminenhofstraße leergezogen“, berichtet Killewald, „weil sie zur Straßenverbreiterung abgerissen werden sollten“. Doch stattdessen brach die DDR-Industrie zusammen, es blieb weniger als ein Zehntel der Arbeitsplätze übrig, die Facharbeiter zogen weg und die Wohnungen füllten sich mit Menschen mit Wohnberechtigungsscheinen. Eine entsprechende „soziale Monokultur“ sei entstanden, so Killewald. „Dabei ist die ethnisch zu beschreibende Migration nicht das Problem von Schöneweide, der Migrantenanteil liegt konstant bei unter 10%“, berichtet Killewald weiter, sondern bei den muttersprachlich Deutschen gebe es viele Zu- und Wegzüge. So machten vor Jahren einzelne Schulen in Schöneweide Schlagzeilen, weil die Schüler/innen in manchen Klassen innerhalb eines Jahres komplett wechselten und deshalb kein Unterricht mehr möglich war. Die vielen „auffälligen Kinder und Jugendlichen“ sind für Killewald noch heute das drängendste soziale Problem im Stadtteil.
Doch Killewald freut sich auch über die vielen Erfolge in den letzten Jahren. „So haben das Stadtteilfest und der Lichtermarkt vor der Christuskirche heute bereits eine achtjährige Tradition.“ Darüber hinaus entstand in der Griechischen Allee ein Marktplatz, Ende 2007 wurde mit dem Kaisersteg ein neuer Verbindungsweg zwischen den beiden Stadtteilen eröffnet, dazu kommt ein neuer Stadtplatz an der Spree, und mit den „Schauhallen Berlin“ werden denkmalgeschützte Industriehallen zu einem Ort für Kunst und Kultur umgebaut. „Heute sieht der Stadtteil viel besser aus“, meint auch Lutz Längert, Projektleiter im Kiezladen. „Die sozialen Probleme haben sich sehr differenziert entwickelt, die Gegend Richtung Wuhlheide entwickelt sich ganz gut, aber in den besonders von DDR-Bauten geprägten Gebieten leben immer noch 60% der Kinder in Familien mit Sozialtransfer.“ Auch kämen die ersten Verdrängten aus Neukölln hier an. „So wachsen die Probleme immer nach“, sagt Längert. Darüber hinaus sieht er ein Image-Problem. „Obwohl mit der S-Bahn nur 20 Minuten vom Alex entfernt“, so Längert, empfänden viele Menschen Schöneweide als „weit draußen“. Auch existiere die Vorstellung von Schöneweide als einer Industriebrache mit Nazis.
Der Projektleiter im Kiezladen hofft jedoch auf die für ihn positiv besetzten „Strategien zur Aufwertung“ seines Viertels. Derzeit versuchen die drei Mitarbeiter/innen vom Kiezladen, die vielen Einzelinteressen zusammenzuführen und eine „strategische Ausrichtung“ für den Stadtteil zu entwickeln, in dem so viel „ungenutztes Potenzial brachliegt“. Doch selbst in den letzten Jahren brach immer wieder ein Teil der neuen Industrie weg, so etwa das Fernsehröhrenwerk von Samsung. „Die 100 Arbeitsplätze der Silicon-Sensor AG reichen bei Weitem nicht“, sinniert Längert. Selbst das Mitte der 90er Jahre mit viel Hoffnung gegründete Gewerbe- und Freizeitzentrum „Spreehöfe“ stehe zum Teil unter Zwangsverwaltung. Aber vor allem soll vom Kiezladen aus die Lebensqualität gesteigert werden, und damit ist zuerst gemeint, offener zu werden. „Mir kommen viele immer noch zu verschlossen und verbiestert vor“, sagt Längert. Doch auch wenn viele soziale Prozesse zuerst im eigenen Handeln begründet liegen, verzweifeln viele Menschen auch „am fehlenden Übergang von Absichtserklärungen der Politiker zu realem Handeln. Damit keine Müdigkeit eintritt, wollen wir den Senat weiter piesacken.“
Weitere Informationen:
www.qm-osw.de
www.kiez-sw.de