MieterEcho 331/Dezember 2008: „Rückbau“ in der Finanzkrise?

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MieterEcho 331/Dezember 2008

Quadrat WOHNEN INTERNATIONAL

„Rückbau“ in der Finanzkrise?

Die Glasgower Gorbals, ein Quartier mit sozialem Wohnungsbau nahe der Innenstadt, werden zum wiederholten Mal abgerissen

Gesa Helms und Jens Sambale

Gesa Helms lebt und arbeitet als Geografin in Glasgow. Jens Sambale ist Politikwissenschaftler in Berlin.

Seit dem Ende der öffentlichen Wohnungsbauförderung sind in Westeuropa häufig Stimmen zu hören, die unter euphemistischen Bezeichnungen wie „Rückbau“ oder „Umbau“ den Abriss öffentlich geförderter Großsiedlungen fordern. Man will, nur unzulänglich ummantelt, das Wohnungsangebot insgesamt verknappen, um einerseits die Eigentumsquote erhöhen und andererseits höhere Mieten realisieren zu können. Das Hauptargument, ein „Rückbau“ – in vielen Fällen gleichgesetzt mit großflächigem Abriss – sei notwendig, da der Wohnungsbestand unattraktiv und nicht gefragt sei, wird immer wieder vorgetragen. Wer so argumentiert, stellt sich genauso eindeutig auf die Seite der Investoren wie jene, die die staatliche Förderung einer Altersvorsorge befürworten, die auf dem spekulativen Erwerb von Wohneigentum zur Weitervermietung basiert.

Aus der Sicht der liberalen urbanen Entscheidungseliten stellt der soziale Wohnungsbau stets einen Missstand dar, der zu beseitigen ist. Der Staat interveniere in vermeintlich unzulässiger Weise in das rationale Walten des Markts, wenn er breite Schichten der Bevölkerung mit Transferleistungen in Form von Wohnraum versorge. Entsprechend war in der Bundesrepublik der öffentlich geförderte Wohnungsbau nie auf Dauer angelegt, sondern stets befristet. Auch war er nie explizit ein Instrument, um Armut zu bekämpfen, sondern stets für die Mehrheitsbevölkerung vorgesehen.

Glasgow überträgt kommunale Wohnungen

Anders als in der Bundesrepublik war öffentlicher Wohnungsbau in Schottland immer eine kommunale Aufgabe, d. h. die Stadt trat als Vermieterin auf und zwar bis in die jüngste Vergangenheit. Während Berlin die öffentlich geförderten Wohnungen gar nicht schnell genug an windige Investoren verkaufen und damit politische Steuerungsmöglichkeiten aus der Hand geben konnte, hatte Glasgow mit einer Veräußerung gezögert. Erst 2003 wurde auf Druck der britischen Zentralregierung der gesamte öffentliche Wohnungsbau in eine Wohnungsbaugesellschaft überführt (Glasgow Housing Association). Nur so wäre der städtische Haushalt sanierungsfähig, wurde es der hoch verschuldeten Kommune Glasgow nahegelegt. Wir beschreiben im Folgenden, was dieser Wechsel für die Siedlung namens Gorbals bedeutet, die in der angelsächsischen Welt als paradigmatischer Slum bekannt ist.

Frühere Slumbekämpfungsprogramme

„Seit sehr langer Zeit werden die Vorstellungen über Glasgow von einem Gebiet knapp außerhalb des Zentrums namens Gorbals geprägt, das schon immer heruntergekommen war. Wir müssen das beenden und betonen: Das ist das Glasgow der Vergangenheit.“ (Mitarbeiter, Stadtmarketing Glasgow)

Die gleich an das Stadtzentrum angrenzenden Gorbals galten seit je als einer der gefährlichsten Wohnorte der britischen Insel. Die Mietskasernen aus den 1930er Jahren wurden in verschiedenen Slumbekämpfungsprogrammen durch Punkthochhäuser und Laubenganghäuser ersetzt. Die Armut war damit jedoch nicht überwunden, sondern wurde bloß gestapelt. Mit den Jahren wurden Rasiermesser durch Macheten als Waffen der Wahl ersetzt, der Schnaps durch Heroin und der magere Lohn durch noch kargere Transferleistungen. Die ersten Neubauten waren schon nach drei Jahren unbewohnbar, und nach etlichen Jahren der Mieterproteste wurden sie 1983 abgerissen. Zehn Jahre später begann eine weitere Abrisswelle, die bis heute anhält. Gleichzeitig wurden Neubauten mit Eigentumsanteil (der Mietanteil lag noch 1991 bei 96%) in das Viertel gesetzt und die kulturelle Infrastruktur ausgebaut. Für Teilgebiete ist dies bereits die dritte umfassende Erneuerung seit 1945 und sie scheint endlich in dem Sinne erfolgreich, dass die Bevölkerung nun nicht mehr mit dem Abrissbagger durch das Gebiet getrieben wird, sondern endgültig verschwindet – könnte man meinen.

Lange Wartelisten für Sozialwohnungen

Die verfügbaren Daten für ein Teilgebiet zeichnen ein differenziertes Bild. Zu Beginn der 1990er Jahre wurde den Gorbals eine strategische Funktion für die Glasgower Stadtentwicklung zugeschrieben. Eine Allianz aus öffentlichen, privaten und gemeinwohltätigen Akteuren formulierte ihre Vision für das Quartier: soziale Durchmischung, Erhöhung des Eigentumsanteils, Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Kriminalität. Man begann, diese Vision mit lokalen, nationalen und EU-Mitteln umzusetzen. Insbesondere das Crown-Street-Projekt gilt als Erfolg. Hier wurden seit 1990 unter Einbeziehung der Bewohner/innen mehr als 200 Millionen britische Pfund (davon 140 Millionen private Investitionen!) aufgebracht, um bis heute u. a. fast 1000 Neubauten zu errichten (75% Eigentum und 25% Mietanteil). Auf der Warteliste für 250 neue Sozialwohnungen drängelten sich im September 2008 nach Aussage der Wohnungsbaugesellschaft jedoch über 1000 Interessent/innen. Dies ist sicherlich ein Beleg für die neue Attraktivität des Gebiets, aber mehr noch für die Notwendigkeit, auch zukünftig günstige, öffentliche geförderte Mietwohnungen zu errichten, zumal in Quartieren wie den Gorbals. Hier verdienen nach wie vor nur 50% der arbeitsfähigen Bevölkerung Geld, die Hälfte der Bevölkerung ist dauerhaft erkrankt, jeder dritte Schulabsolvent wird sofort arbeitslos und Heroinsucht, Alkoholismus und Gewaltverbrechen sind „epidemisch“, so ein EU-Bericht.

No Mean City, Glasgow Kiss, Tongs Ya Bass

„Es ist beschissen, Schotte zu sein. Wir sind der Abschaum der verdammten Erde. Die meisten Leute hassen die Engländer. Ich nicht. Das sind bloß Wichser. Wir, auf der anderen Seite, sind von den Wichsern kolonisiert. Wir können nicht mal eine anständige Kultur finden, die uns kolonisiert. Das ist ein elender Zustand ...“ (Trainspotting, 1996)

Die Begriffe „No Mean City“, „Glasgow Kiss“, „Tongs Ya Bass“ und einige weitere stehen in der anglofonen Welt für das (sub-)proletarische Glasgow und generieren ein Image der Stadt, das der beabsichtigten post-industriellen Erneuerung im Wege zu stehen schien. Das Buch „No Mean City“ (1935) handelt vom Glasgow während der Depression und zeichnet ein Bild von Banden, die sich mit Rasiermessern und ohne Mitleid bekämpfen. Den Glasgower Kuss hat Zinedine Zidane im Endspiel der Fußball-WM 2006 berühmt gemacht. „Tongs Ya Bass“ schließlich war der Schlachtruf einer lokalen Gang in den Stadterneuerungsgebieten der 1960er und avancierte in den 1970er Jahren zum inoffiziellen Motto der Stadt. Es ist dem deutschen Publikum durch den Film „Small Faces“ bekannt, auf den eine Vielzahl weiterer Filme wie „Rat Catcher“ und zuletzt „Red Road“ und auch Bands, Bücher usw. folgten. Dieses bezeugen einerseits die Kreativität der Stadt am westlichen Rand Europas, andererseits rücken sie aber ihre nach wie vor existierende proletarische Realität ins Licht. Die Mehrzahl dieser kulturellen Artefakte seit „No Mean City“ bezieht sich dabei auf einen Stadtteil, dessen slumähnlicher Zustand scheinbar eine Stadterneuerung nach der anderen seit 1866 unbeschadet überstanden hat – die Gorbals am Südufer des Flusses Clyde.


„Die Yuppies haben übernommen“

Keine gesicherten Daten existieren zu den Verdrängungsprozessen als Resultat der Abrisse. Die Akteure des Umbaus betonen in ihren Broschüren und Präsentationen den Zuspruch, den die Veränderungen durch die ansässige Bevölkerung erfahren. Von den Bewohner/innen hört man anderes: „Die Yuppies haben übernommen. Wir können nicht einmal einen chinesischen Schnellimbiss ansiedeln, ohne dass sie mit einer Petition anrücken, um das aufzuhalten. Wir haben kein Gemeindezentrum, keine Kulturprojekte für Arbeitslose, keine Läden, Kneipen oder Spielplätze.“

Der enorme Rückgang des sozialen Wohnungsbaus in den Gorbals von einst 96% auf 40% hat verschiedene Ursachen: Erstens liegen die Gorbals an einer für die Stadtentwicklung strategisch wichtigen Stelle nah am Stadtzentrum. Zweitens findet der Umstrukturierungsprozess bereits seit 20 Jahren statt und drittens wird er mit einer Unsumme öffentlicher und privater Mittel betrieben. Der „Rückbau“ des sozialen Wohnungsbaus ist als Reaktion auf eine ernsthafte Krise entstanden – und kann die aktuelle Misere dennoch nicht bewältigen. Die aktuelle Finanzkrise schränkt den Handlungsspielraum der staatlichen und privaten Akteure ein. Darüber hinaus beruhte der erleichterte Zugang zu Eigentumswohnungen für Mieter/innen in den vergangenen Jahren vor allem auf der Möglichkeit, stets neue Schulden zur (Re-)Finanzierung anzuhäufen, und dies ist nicht mehr im bisherigen Umfang möglich.

Krisen treffen aufeinander

Für all diejenigen, die keinen der zigtausend Jobs bekommen haben, die die Glasgower Ökonomie seit Mitte der 1990er Jahre geschaffen hat, gab es diese Option jedoch nie. Deshalb ist die Verknappung des sozialen Wohnungsbaus ein Bestandteil von Verarmung und Verelendung – genau wie die Tatsache, dass in den Außenbezirken Glasgows und in den deindustrialisierten Kleinstädten der Umgebung nicht nur ganze Familien, sondern mehrere Generationen an der Nadel hängen.

Immerhin hat Glasgow die von der Londoner Regierung erpresste Veräußerung der Sozialwohnungen u. a. in den Gorbals in die Hände eines kompetenten, gemeinnützigen Trägers gelegt und sie nicht wie Berlin an den Bieter mit den buntesten Broschüren verschleudert. Fraglich ist zwar, ob die Nachfrage nach den Eigentumswohnungen so exzellent bleibt, wie ein Sprecher der Wohnungsbaugesellschaft noch Anfang September meinte. Aber man kann wohl davon ausgehen, dass spektakuläre Pleiten von Immobilienfonds wie in Berlin vorläufig ausbleiben.

In Glasgow ist zumindest soziale Verantwortung noch insoweit vorhanden, dass sowohl der Altbestand wie auch neu errichteter sozialer Wohnungsbau qualitativ nicht hinter die privaten, spekulativen Eigentumsneubauten zurückfallen, deren Standard allerdings insgesamt bescheiden ist.

Auch wenn der Mythos von den „gefährlichen“ Gorbals vor allem dank der attraktiven innenstadtnahen Lage zunehmend verblasst, treffen dort derweil mehrere Krisenphänomene aufeinander – stärker als in Deutschland: soziales Leid, die Abwicklung des sozialen Wohnungsbaus und die „Finanznot“ der öffentlichen Haushalte. Dazu kommt, dass durch das Platzen der angelsächsischen Immobilienblase und die globale Finanzkrise das Geld knapp wird, und zwar sowohl für die Wohnungsbaugesellschaft, als auch für die aktuellen oder künftigen Wohnungseigentümer/innen und Mieter/innen.

Sozialer Wohnungsbau in Großbritannien

Ähnlich wie in Deutschland reichen die Wurzeln des sozialen Wohnungsbaus in Großbritannien auf das Wirken wohltätiger Philantrophen zurück, die für ihre Arbeiter Siedlungen bauten – u. a. um die Beschäftigten an die Firmen zu binden. In Schottland schuf der Frühsozialist Robert Owen bereits ab 1799 eine Reformsiedlung, New Lanark, ohne Kinderarbeit, mit Schulbildung, Kranken- und Rentenversicherung. Der Staat erließ erst 1890 ein Gesetz zur Wohnraumversorgung der Arbeiterklasse und ermutigte die Kommunen, diese Aufgabe zu übernehmen, machte dies aber erst 1919 zur Pflicht und stellte Fördermittel zur Verfügung. Damit entstanden zwar neue Siedlungen, aber die slumähnlichen Lebensbedingungen in den bestehenden Arbeiterunterkünften blieben.

Die Zerstörung von fast vier Millionen Wohneinheiten durch Luftangriffe Nazi-Deutschlands (in Clydebank nahe Glasgow blieben von 12.000 Häusern ganze sieben unbeschädigt!) und die Beseitigung von Slums nach dem Zweiten Weltkrieg führten zu einem Boom des sozialen Wohnungsbaus. Für die britischen Arbeiter bedeutete dies nicht nur den erstmaligen Zugang zu privaten Toiletten und Waschräumen, sondern überwiegend auch zu Gärten – 150 Jahre nach Owens und ohne dessen sozialistische Vision.


Auch wenn bis Ende der 1960er Jahre vermehrt Punkthochhäuser minderer Qualität entstanden, war während dieser gesamten Periode der soziale Wohnungsbau für konservative wie für sozialdemokratische Regierungen zentraler Bestandteil der Sozialpolitik. 80% der schottischen Bevölkerung lebten als Mieter/innen in Gebäuden des sozialen Wohnungsbaus. Die Thatcher-Administration bereitete diesem Zustand ein Ende: Sie schränkte die Mittel für die Kommunen ein und ermunterte die Mieter/innen, Eigentümer zu werden. Es wurde den Kommunen verboten, die durch Mieteinnahmen erzielten Erlöse in die Bestände zu reinvestieren. Nach knapp 30 Jahren ist der soziale Wohnungsbau beinahe zur Residualkategorie des Wohnens geworden (mit dennoch ca. 20% der britischen Haushalte) – ein Abschiebecontainer für „verhaltensauffällige“ oder anderweitig „marktunfähige“ Mieter/innen, die mit einer Verordnung gegen unsoziales Verhalten (Anti-Social Behaviour Order) nach der anderen diszipliniert werden. Schließlich werden nach und nach auch den letzten Kommunen die Wohnungsbestände entzogen und an Wohnungsbaugesellschaften übertragen, die gegenwärtig die meisten neuen Sozialwohnungsbauten errichten und dabei der Ideologie der sozialen Mischung folgen, sprich: einen hohen Anteil an Eigentumswohnungen in die Projekte einbauen.

Zum Weiterlesen drei von Bewohnern der Gorbals verfasste Bücher:

Jeff Torrington: Schlag auf Schlag

Colin MacFarlane: The Real Gorbals Story

Alexander McArthur und Kingsley Long: No Mean City. A Story of the Glasgow Slums

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