MieterEcho 331/Dezember 2008: Bilanz der Liberalisierung und Privatisierung

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MieterEcho 331/Dezember 2008

Quadrat PRIVATISIERUNG

Bilanz der Liberalisierung und Privatisierung

Hunderttausende Arbeitsplätze wurden abgebaut, die Tarifstruktur ist zersplittert und die Arbeitsverhältnisse prekarisiert

Christian Linde

Die Privatisierungswelle der vergangenen eineinhalb Jahrzehnte hat in vielen europäischen Ländern zur Arbeitsplatzvernichtung, zur Zerschlagung der Tarifstruktur und zum Lohndumping geführt. Das geht aus einer Studie des wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung hervor. Die Gewerkschaften, so die Autoren, könnten den Legitimationsverlust von Liberalisierung und Privatisierung nutzen, um für eine neue tarifpolitische Regulierungsstrategie zu werben. Neue zivilgesellschaftliche Bündnisse könnten hierbei helfen, verloren gegangenen Handlungsspielraum zurückzugewinnen.

Ob Post oder Telekommunikation, Strom- oder Wasserversorgung, Bahn oder öffentlicher Nahverkehr, Krankenhäuser oder Müllentsorgung – immer mehr Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge werden dem Einflussbereich des Staats entzogen. Die auf Marktliberalismus fixierte EU-Kommission, auf Entstaatlichung orientierte Regierungen, verschuldete Kommunen und Unternehmen auf der Suche nach lukrativen Anlagefeldern trieben die Entwicklung voran, die zu höherer Wirtschaftlichkeit, sinkenden Preisen, besserer Qualität und Kundenorientierung führen sollte. Doch ob Serviceleistungen oder Verbraucherpreise bei Strom, Wasser und der Bahn: In sämtlichen Bereichen sind die Kosten explodiert. Gleichzeitig hat die seit 15 Jahren vonstattengehende Liberalisierung und Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen mehrere hunderttausend Arbeitsplätze gekostet. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse sind entstanden, Löhne wurden gekürzt und Dienstleistungen ausgedünnt. Der Einfluss des Staats ist zugunsten der Marktmacht transnationaler Unternehmen zurückgedrängt worden. „Statt ‚mixed economy’ steht Public-Private-Partnership auf der Agenda. Statt Interessenausgleich sind der Ausstieg aus der Tarifbindung und Unterbietungskonkurrenz angesagt“, heißt es in der Studie „Europa im Ausverkauf“ von der Hans-Böckler-Stiftung. „Viele Ökonomen und Politiker haben an diesen Prozess die Hoffnung geknüpft, größere Wachstums- und Beschäftigungspotenziale zu erschließen. Doch eine nüchterne Bilanz sind sie bis heute schuldig geblieben“, kritisieren die Autoren. Eine solche Bilanz der Auswirkungen von Liberalisierung und Privatisierung auf die Beschäftigten und die Dienstleistungsqualität in Deutschland ziehen die Wissenschaftler der Hans-Böckler-Stiftung. Danach hat der seit Anfang der 90er Jahre laufende Prozess mindestens 600.000 Arbeitsplätze gekostet. Konkret fielen zwischen 1991 und 2006 im öffentlichen Dienst 2,1 Millionen und damit mehr als ein Drittel der Beschäftigungsverhältnisse weg. Zwar seien auch neue Jobs in privaten Firmen entstanden, der Gesamteffekt sei jedoch insgesamt negativ.

Systematischer Abbau von Arbeitsplätzen

In der Energie- und Wasserwirtschaft sind im Zuge der Liberalisierung des Strommarkts und des Verkaufs kommunaler Versorgungsunternehmen von Anfang der 90er Jahre bis 2005 insgesamt 127.000 Stellen verloren gegangen. Zwischen 1994 und 2007 hat die Telekom 77.000 Arbeitsplätze gestrichen und damit fast die Hälfte ihrer Mitarbeiter/innen entlassen. Die Herstellung einer Wettbewerbssituation infolge der Marktöffnung blieb ohne wesentliche Effekte für den Arbeitsmarkt. Einen geradezu dramatischen Abbau von Erwerbsarbeitsplätzen hat die ehemalige Deutsche Post erlebt. Allein im Zeitraum zwischen 1989 und 1998 wurden 139.000 Stellen vernichtet. Dem stehen zwar etwa 30.000 bei Marktkonkurrenten entstandene Beschäftigungsverhältnisse gegenüber, aber die Hälfte davon sind gering bezahlte Minijobs. Die Deutsche Bahn hat seit 1994 rund 170.000 Jobs im Inland gestrichen. Zudem entfielen zwischen 1990 und 1993 rund 88.000 Arbeitsplätze bei der „Deutschen Reichsbahn“. Auch Krankenhäuser haben Personal abgebaut, 84.000 Vollzeit- durch Teilzeitstellen ersetzt und 48.000 Arbeitsplätze komplett gestrichen. Ebenfalls von Stellenstreichungen betroffen sind die Entsorgungswirtschaft sowie kommunale Sport-, Bildungs- und Kultureinrichtungen.

Zwei-Klassen-Tarifstruktur in EU-Ländern

Mit dem Arbeitsplatzabbau hat sich auch ein Umbau des Tarifsystems vollzogen. Zahlreiche Beschäftigte wurden vom Tarifsystem des öffentlichen Dienstes abgekoppelt. Neue Tarifstrukturen entstanden parallel. Wo sich neue, heterogene Tarifstrukturen etablieren, gehe die „klassische Funktion des Flächentarifvertrags, durch einheitliche Mindeststandards Lohn- und Arbeitskostenkonkurrenz zu begrenzen“ verloren, heißt es in der Untersuchung. So komme es oft zu einem „offenen sozialen Unterbietungswettbewerb“.

Ähnliche Entwicklungen seien auch in anderen europäischen Ländern festzustellen: „Die von der EU geäußerte Erwartung, die Liberalisierung der Wirtschaftszweige Telekommunikation, Post, Transport und Energie werde in Europa eine Million zusätzliche Stellen schaffen, habe sich nicht erfüllt. Mit dem durch Liberalisierung und Privatisierung ausgelösten Beschäftigungsabbau und Umstrukturierungen vollzog sich in vielen Ländern der EU eine Prekarisierung von Arbeitsbedingungen, die sich niederschlug in der Ausweitung von Arbeitszeiten, Lohneinbußen und der Zunahme atypischer Arbeitsverhältnisse.“

Privatisierung der Daseinsvorsorge

Nötig seien Tarifregelungen, um eine weitere Zersplitterung des Arbeitsmarkts zu verhindern. Gleichzeitig müsse mit einer weiteren Welle von Privatisierungen gerechnet werden. Denn auf kommunaler Ebene, aber auch im Sozial-, Kultur- und Bildungsbereich sowie bei den sozialen Sicherungssystemen stecke die „Vermarktlichung“ öffentlicher Daseinsvorsorge noch am Anfang.

Obwohl sich die EU als Liberalisierungsmotor erwiesen hat, sehen die Autoren Eingriffsmöglichkeiten auf kommunaler und nationaler Ebene. Schließlich seien es immer die nationalen Regierungen, die auf europäischer Ebene den Liberalisierungsprozess vorangetrieben hätten, insbesondere in den Fällen, in denen es um die „Marktchancen ihrer nationalen Champions“ gegangen sei. Auch hätten die Kommunen häufig unabhängig von EU-Vorgaben eine Vorreiterrolle in Sachen Privatisierung übernommen oder Private-Public-Partnership-Projekte auf den Weg gebracht. Das heißt, der Ausverkauf des öffentlichen Eigentums vollzieht sich auf verschiedenen politischen Ebenen. Die Autoren sehen deshalb drei Strategieoptionen, die dem Neoliberalismus entgegengesetzt werden könnten. Erstens: Die Abwehr weiterer Liberalisierungsmaßnahmen und Privatisierungen, die in zahlreichen Sektoren noch zu erwarten sind. Zweitens stünde in Bereichen, in denen der Rückzug des Staats nicht vermieden werden konnte, die sozial- und tarifpolitische Neuregulierung auf der Tagesordnung. Und drittens müsse in den vorhandenen Feldern der öffentlichen Daseinsvorsorge eine politische Stärkung und Demokratisierung angestrebt werden. Als positives Beispiel wird die Auseinandersetzung um die Einführung des Post-Mindestlohns angeführt.

Handlungsspielräume der Gewerkschaften

Der Umbruch der Tariflandschaft stellt auch die Gewerkschaften vor neue Herausforderungen. Im Gegensatz zu den traditionellen Industriebranchen, wo mithilfe von Flächentarifverträgen eine branchenweite Festsetzung bestimmter Mindeststandards gewährleistet wird, fehlt in den neuen liberalisierten und privatisierten Branchen bislang jegliche Regulierung. Stattdessen herrscht eine ausgeprägte Tarifkonkurrenz zwischen den verbleibenden öffentlichen Unternehmen sowie ehemaligen Staatsmonopolisten und den neuen privaten Unternehmen. Während die ehemaligen Staatsmonopolisten Haustarifverträge besitzen, die von den Lohn- und Sozialleistungen mit dem öffentlichen Dienst vergleichbar sind, ist dies bei den privaten Unternehmen nicht der Fall. Dies bedeutet, dass Lohnunterschiede entstanden sind, die, so die Studie, je nach Branche 30%, 40% oder sogar 60% betragen können. Vor dem Hintergrund des zersplitterten Tarifsystems bestehe die zentrale Herausforderung für die Gewerkschaften darin, „in den neuen liberalisierten Märkten einheitliche Branchen(mindest)standards durchzusetzen, die die Konkurrenz um Lohn- und Arbeitskosten und den damit verbundenen Absenkungsdruck begrenzen“. Die wichtigste Voraussetzung hierfür sei zunächst, dass sich die Gewerkschaften selbst in die Lage versetzen, ihre Tarifpolitik zu koordinieren. Der Boom von Bürgerbegehren und Volksentscheiden dürfte schließlich bei dem Ziel, gesamtgesellschaftlichen Widerstand gegen weitere Privatisierungen zu mobilisieren, auch den Blick der Funktionäre über die traditionelle Gewerkschaftspolitik hinaus lenken.

Zum Weiterlesen:

Europa im Ausverkauf – Liberalisierung und Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und ihre Folgen für die Tarifpolitik Torsten Brandt / Thorsten Schulten / Gabriele Sterkel / Jörg Wiedemuth (Hrsg.), VSA-Verlag, 2008, 400 Seiten 19,80 Euro, ISBN 978-3-89965-253-6

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