MieterEcho 331/Dezember 2008: Russisch in Spandau

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MieterEcho 331/Dezember 2008

Quadrat BERLIN

Russisch in Spandau

Der einstige Vorort für gutverdienende Facharbeiterfamilien hat sich in den letzten 15 Jahren zum sozialen Brennpunkt entwickelt

Christoph Villinger

Im Jahr 1920 wurde Spandau widerwillig nach Groß-Berlin zwangseingemeindet, doch zum Einkaufen oder ins Kino fuhr man weiterhin „nach Berlin“. Aus der Perspektive des Westberlins der Nachkriegszeit war Spandau der Vorort der gutverdienenden Facharbeiter von Siemens und BMW. In den Spandauer Hochhausvierteln und Eigenheimsiedlungen lebten sie in einer gefühlten eigenen Stadt mit einer viertel Million Einwohner/innen. Heute kennen zwar die meisten Berliner/innen den neu gebauten riesigen Spandauer ICE-Bahnhof vom Durchfahren, doch die enormen sozialen Probleme des Stadtteils sind vielen unbekannt. Drei Quartiersmanagementgebiete hat der Senat seit 2005 dort etabliert, Falkenhagener Feld Ost, Falkenhagener Feld West und Heerstraße.

Der kleine Lieferwagen hält zwischen den Hochhäusern auf der einen Straßenseite und den wohl aus den 60er Jahren stammenden Einfamilienhäusern auf der anderen Seite. Vielen der kleinen Häuser in der Nähe der Falkenseer Chaussee haftet etwas Morbides an, man sieht, dass hier nicht das große Geld wohnt. Drei Frauen warten schon plaudernd am Straßenrand, und als der Fahrer seine Seitenklappe öffnet, erblickt man einen Verkaufsstand. Brot, zwei Sorten Wurst, drei Sorten Käse und die nötigsten Dinge des täglichen Bedarfs. Doch etwa die Hälfte seines Angebots machen Bücher, CDs und Videos aus – auf Russisch.

Zunehmende Verarmung

Für Karl-Heinz Fricke, Geschäftsführer des Quartiersmanagements (QM) Falkenhagener Feld West, das in einer Parterrewohnung in einem der Hochhäuser untergebracht ist, symbolisiert der Lieferwagen mit seinem Angebot zwei der vielen Probleme in seinem Viertel. Die Siedlung wurde in den 60er und 70er Jahren als reine Schlafstadt erbaut, „mit allen Vor- und Nachteilen“: „viel Grün, kaum Verkehr und nichts wirkt verwahrlost“. Doch „es gibt große Gebiete ohne Läden“, beklagt Fricke, „und damit fehlt die soziale Infrastruktur und Orte der Kommunikation“. Nicht einmal ein Ladenlokal für das QM konnte gefunden werden, „weil es einfach keine gibt“, so der Spandauer. Hinzu komme die relative Verarmung des Viertels „hervorgerufen durch den industriellen Niedergang von Spandau“. Seit dem Abbau vieler Arbeitsplätze bei Siemens und BMW greife Arbeitslosigkeit um sich und „die Besserverdienenden mit guten Jobs ziehen weg“. In die freien Wohnungen ziehen viele russisch sprechende Spätaussiedler und ALG-II-Beziehende, doch von Hartz IV kann sich kaum jemand das von den Stadtplanern wie selbstverständlich vorgesehene eigene Auto leisten. So stecken sie in ihren Wohnungen fest und es entsteht eine Tendenz zur Gettoisierung. Außerdem betrage das Wanderungssaldo minus 1,6% pro Jahr, so Fricke. Zu vielen anderen Problemen fehlen ihm die konkreten Zahlen, „dazu bräuchte man eine qualitative Sozialuntersuchung, doch wer soll die bezahlen?“

Auch Veronika Zimmer, zuständig bei der S.T.E.R.N. GmbH für das QM Falkenhagener Feld Ost, kann die Zahlen nur ungefähr benennen, aber sie sind deutlich. Von den rund 20.000 Bewohner/innen, die im Falkenhagener Feld Ost und West wohnten, „ist die Hälfte seit dem Mauerfall weggezogen“, sagt sie, „vor allem die Mittelschichtsfamilien ins Stadtumland“. Zugezogen seien im gleichen Umfang vor allem Migrant/innen und Spätaussiedler/innen. „Heute hat etwa die Hälfte der Bevölkerung einen Migrationshintergrund, davon sind zwei Drittel russischsprachig“, betont Zimmer. „Dieser große Bevölkerungsaustausch führt zu vollständig überforderten Nachbarschaften“, erzählt sie. „Man grenzt sich voneinander ab, statt sich aufeinander und die jeweilige Geschichte einzulassen.“ Dabei zog auch die angestammte Bevölkerung erst Ende der 60er Jahre hierher, die heute sechsspurig ausgebaute Verkehrsachse Falkenseer Chaussee war bis dahin ein kleiner Sandweg zwischen Bauernhöfen und Kleingartensiedlungen.

Die relative Armut der Bewohner/innen des Falkenhagener Felds zeigt sich an einem körperlichen Phänomen. Die seit 20 Jahren dort arbeitende Kinderärztin Dorothea Kroll berichtet, dass 24% der sieben- bis zehnjährigen Kinder in ihrer Praxis stark übergewichtig sind. Lehrer und Erzieher erzählen, dass immer mehr Kinder morgens ohne Frühstück zur Schule kommen, dafür mit Geld für Pommes oder Döner, da in den Elternhäusern nicht mehr gekocht wird. Die Pädagogen wissen von Kindern, die täglich sieben bis acht Stunden vor dem Fernseher sitzen, deren Familien das Geld für einen Schwimmbadbesuch fehlt. „Macht Armut dick?“, fragt daher die Stadtteilzeitung „Falkenhagener Express“ in ihrer September-Ausgabe.

Hoher Wohnungsleerstand und sinkende Mieten

Kaum anders stellen sich die Probleme im dritten Spandauer QM links und rechts der Heerstraße dar. Auch hier wurden in den 60er und 70er Jahren „Großsiedlungen des sozialen Wohnungsbaus“ mit „markanten 22-geschossigen Punkthochhäusern“ errichtet, wie das QM Heerstraße auf seiner Internetseite schreibt. Knapp 18.000 Menschen, viele davon arbeitslos, leben heute in dem Gebiet, davon „nur 11% Ausländer, aber sehr viele Spätaussiedler mit deutschem Pass ohne ausreichende Sprachkenntnisse“.

Kennzeichnend für alle drei QM-Gebiete ist der hohe Wohnungsleerstand, der im Straßenbild zu lustigen Werbeanzeigen führt. So bietet zum Beispiel die Ernst G. Hachmann Hausverwaltungen neuen Bewohner/innen ihrer Hochhäuser „ein ganzes Jahr lang frische Schrippen“, und die Gagfah-Group belohnt die Unterschrift unter einen Mietvertrag mit einem Gutschein für Einkäufe in Höhe von 200 Euro in einem Elektrofachhandel. Das Falkenhagener Feld ist eines der wenigen Gebiete in der Stadt, in dem die Mieten sinken, um ganze 7,5% bei neu vermieteten Wohnungen im letzten Jahr. Diese Situation führt inzwischen dazu, dass sich die Wohnungsverwaltungen gegenseitig die solventen Mieter abwerben. Im QM Falkenhagener Feld West sind nur noch 500 der rund 4500 Wohnungen im öffentlichen Besitz, den Rest teilen sich vor allem acht große Fondsgesellschaften wie Pirelli aus Italien und HPE Contest. „Bei den privaten Eigentümern hat sich noch nicht der Gedanke durchgesetzt, gemeinsam was zu machen“, formuliert es Karl-Heinz Fricke vom QM diplomatisch und beklagt, dass wegen der Privatisierungen kaum noch ein kommunaler Zugriff auf die Wohnungswirtschaft möglich sei. Denn eines seiner Hauptziele ist es, „weitere Wegzüge aufzuhalten“ und die Nachbarschaft zu stabilisieren.

Interventionen gesucht

Dafür passiert auch einiges. Mit viel Geld aus dem Programm „Stadtumbau West“ wird der sogenannte Spektegürtel über 5,5 Kilometer von der Altstadt Spandau bis hinaus ins Havelland zu einem 300 bis 500 Meter breiten Naherholungsgebiet ausgebaut. Viele Spielplätze entstehen, am Spektesee gibt es sogar inmitten der Hochhäuser eine Badestelle. Die evangelische Paul-Gerhardt-Kirchengemeinde baut ihre Kirche zu einem Mehrgenerationenhaus als soziale Begegnungsstätte mit Café und Gruppenräumen um, ab 2010 soll der Neubau einer Kita folgen. Und fast 3000 Leute besuchten Anfang September das Sommerfest im Falkenhagener Feld.

Doch ein wenig neidisch schaut Karl-Heinz Fricke nach Kreuzberg auf das dortige studentische Milieu. „Was es dort an Überangebot an Aktivisten gibt, fehlt hier völlig.“ Es sei sehr mühsam, Menschen zum Mitmachen zu bewegen. „Uns fehlen die vielen Kreativen und Künstler, die vielen Vereine, die vielen kleinen Handwerker“, meint auch Veronika Zimmer. „Hier gibt es noch nichts von dem, was ein städtisches Wohngebiet ausmacht.“ Doch solche Nachbarschaften zu entwickeln ist für Veronika Zimmer eines der Aufgaben ihres QMs. Für die Zukunft hofft sie, dass die Migrant/innen das Viertel als „ihre Heimat“ begreifen, dass sie dort bleiben und es kein Durchgangsquartier wird. „Und dass die Bewohner, wenn sie sich dort festgesetzt haben, weitere Neuankommende in ihre Gemeinschaft integrieren.“

Weitere Infos unter:

www.quartiersmanagement-berlin.de

www.falkenhagener-feld-ost.de

www.falkenhagener-feld-west.de

www.heerstrasse.net

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