MieterEcho 330/Oktober 2008: Alte Probleme im „neuen“ Neukölln

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MieterEcho 330/Oktober 2008

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Alte Probleme im „neuen“ Neukölln

Trotz einer sich wandelnden Bewohnerstruktur droht Neukölln laut einer neuen Studie eine weitere Zunahme von Erwerbslosigkeit, Einkommensarmut und Segregation

Christian Linde

In Berlin gibt es 21 Wohngebiete, die einen niedrigen sozialen Status haben sollen und für die ein weiterer Abwärtstrend prognostiziert wird. Acht dieser Gebiete liegen in Neukölln. Trotz neuer Bewohnerschaft und Wirtschaftsaufschwung bleibt die Erwerbslosigkeit im ehemaligen Arbeiterbezirk hoch. Schulabgänger finden keinen Ausbildungsplatz, die Verschuldung privater Haushalte steigt und der Wegzug „stabiler“ Familien entmischt die Sozialstruktur. Gleichzeitig ändert sich durch den Zuzug insbesondere von Single-Haushalten und kinderlosen Paaren die Mieterstruktur. Die Bildungseinrichtungen können von dieser positiven Entwicklung deshalb nicht profitieren.

Noch nie hat man das Wort „Projekte“ so oft im Berliner Bezirk Neukölln gehört wie derzeit. Entweder steht ein Vorhaben kurz vor dem Start, wird gerade umgesetzt oder hat sich verzögert. Insbesondere in den Abend- und Nachtstunden vermittelt sich Werkstatt-Atmosphäre, nimmt der an Kreuzberg angrenzende Bezirk ein jüngeres Gesicht an. Dann bestimmen die 25- bis 40-Jährigen – ohne Migrationshintergrund – das Straßenbild. In dem Stadtteil mit dem ehemals größten Sozialamt Deutschlands hat sich in den zurückliegenden Jahren etwas getan. Der Sanierung von Häusern und der Ansiedlung von Kleingewerbe folgte der Zuzug von jungen Leuten. Trotz schlagzeilenträchtiger Berichte über Gewalt an den Schulen und Straßenkriminalität hat das weithin als Problemgebiet wahrgenommene Stadtviertel an Anziehung gewonnen.

Hinter bröckelnden Fassaden

Doch trotz neuer Bewohnerschaft, Wirtschaftsaufschwung und Aufbruchstimmung beschäftigen den Bezirk auch weiter die alten Probleme. Denn weder Kaufkraft der angestammten Wohnbevölkerung noch kapitalkräftige Selbstständige beleben die Einkaufszeilen in dem über 300.000 Einwohner starken Stadtteil. An den beiden Hauptverkehrsadern Karl-Marx- und Hermannstraße beherrschen Billigläden und Imbissbuden die Szene. Das in den Seitenstraßen unweit des Hermannplatzes aufblühende Leben ist Ergebnis der Arbeit einer „Zwischennutzungsagentur“. Die Einrichtung vermittelt Interessenten Kontakte zu den Hauseigentümern. In überlassenen Ladenwohnungen können Gewerbetreibende befristet mietfrei eine Geschäftsidee in Angriff nehmen. Die Effekte: Die Immobilie ist nicht mehr verwaist, der Nutzer ist von Kosten entlastet und der Eigentümer profitiert von der Imageaufwertung für das Einzugsgebiet. Nichtsdestotrotz leben sowohl hinter den bröckelnden, aber auch mittlerweile frisch getünchten Fassaden überwiegend Menschen mit geringem Einkommen, prekär Beschäftigte, Langzeiterwerbslose und Senioren mit Kleinstrenten. Dies können auch die Neuansiedlungen nicht ausgleichen. Hinzu kommt, dass insbesondere erwerbstätige und einkommensstarke Eltern spätestens zum Zeitpunkt der Einschulung ihrer Kinder aus dem Bezirk abwandern.

Dominanz von Erwerbslosigkeit und prekärer Beschäftigung

Die Probleme in Neukölln nehmen sogar noch zu. Das ist das Ergebnis einer im Auftrag des Bezirks erstellten Untersuchung* der Humboldt-Universität. Die Bevölkerungswanderung, der Anteil ausländischer Kinder und die Arbeitslosigkeit im Zeitraum zwischen 2001 und 2006 standen im Mittelpunkt der Erhebung. Die Kernaussage lautet: Die Wohnviertel in Neukölln driften auseinander. Sowohl der Neuköllner Norden als auch der Britzer Norden stellen sich als „Gebiete mit Ausgrenzungstendenz“ dar. Dort lebt mit 150.000 Menschen aus 160 Nationen nahezu die Hälfte der gesamten Bevölkerung Neuköllns. „Nach hohen Wanderungsverlusten in den nördlichen Gebieten in den 90er Jahren gewinnen diese wieder Einwohner durch Umzüge. Dies ist vor allem auf den Zuzug von Bewohnern mit ausländischer Staatsangehörigkeit zurückzuführen, die dazu beigetragen haben, den Wohnungsleerstand abzubauen“, heißt es in der Studie. Positive Effekte für deren Lebenssituation haben sich allerdings nicht eingestellt. Vielmehr haben sich die sozialen Verhältnisse in den weitgehend von Zuwanderern geprägten Teilen von Neukölln seit 2001 deutlich verschlechtert. Fast 50% aller Bewohner beziehen Transferleistungen. 138 von 1000 Einwohner müssen vom Arbeitslosengeld II (ALG II) leben. Bei den unter 25-Jährigen sind es sogar 60%, die „Hartz IV“ beziehen müssen. In einzelnen Wohnquartieren leben bereits drei Viertel aller Kinder bis 15 Jahre von „Hartz IV“. Nahezu zwei Drittel (65%) liegen mit ihrem Einkommen unterhalb der Armutsgrenze. Jeder dritte Beschäftigte (33,5%) muss aufgrund der schlechten Bezahlung zusätzliche staatliche Leitungen in Anspruch nehmen. Mehr als jeder Fünfte (22%) ist verschuldet.

Soziale Mischung in den Kiezen – Konzentration in den Schulen

Die Wissenschaftler unter Federführung des Stadtsoziologen Hartmut Häußermann prognostizieren: Wenn heute die Hälfte der Neuköllner am Rand der sozialen Ausgrenzung lebt, werden künftig bis zu drei Viertel der Bewohner zur Unterschicht gehören, die nicht mehr integrationsfähig sei. Häußermann warnt davor, „dass Neukölln das Armenhaus Berlins wird“. Das Schlüsselproblem sei die Integration der heute auf dem Arbeitsmarkt und im Bildungssektor ausgegrenzten Gruppen unter den Einwanderern. „Angesichts der zunehmenden Konzentration von Problemlagen in den genannten Gebieten von Neukölln sollte die Situation in den Schulen einer genaueren Analyse unterzogen werden“, fordert Häußermann. „Denn dort ist die Segregation erheblich stärker als in den Wohngebieten – und dort entscheidet sich die langfristige Perspektive für die Bewohner.“ Deren Struktur verändert sich zwar durch den kontinuierlichen Zuzug neuer Mieter/innen. Auf die Situation in den Kitas und in den Schulen hat die Entwicklung allerdings kaum Auswirkungen. Denn bei der Mehrzahl der Zuzügler/innen handelt es sich um Single-Haushalte oder kinderlose Paare. Effekte auf das Gefüge in den Klassen der Grund- und weiterführenden Schulen bleiben deshalb aus. Kinder mit Migrationshintergrund sind weiterhin überproportional in den Bildungseinrichtungen vertreten, die selbst zu den vernachlässigten Sorgenkindern des Bezirks gehören. „Eine Verbesserung ihrer Lebenschancen ist nicht ohne eine Verbesserung ihrer Bildungschancen zu erreichen“, urteilt Hartmut Häußermann.

Maßnahmen-Katalog angekündigt

Der Bezirk will als Konsequenz aus den Ergebnissen der Studie in Nord-Neukölln und Britz-Nord flächendeckend Quartiersmanagements (QM) einrichten – obwohl sich dieses Instrument in der Vergangenheit nicht als Lösung der Probleme erwiesen hat. So wurden in den zurückliegenden neun Jahren rund 800 Projekte mit insgesamt 25,7 Millionen Euro an QM-Geldern in Nord-Neukölln finanziert, ohne dass dies den Wegzug der „bildungsorientierten“ (deutschen) Familien verhindern konnte. In einem entsprechenden Bericht heißt es, dass die „Segregation so gut wie abgeschlossen“ sei. Außerdem ist beabsichtigt, sämtliche Schulen in den belasteten Gebieten in Ganztagsschulen umzuwandeln. Zusätzlich sollen alle Grundschulen, die zu mehr als 40% von Kindern aus Einwandererfamilien besucht werden, mit Schulstationen ausgestattet werden. Stadtexperte Häußermann schlägt sogar vor, Kinder und Jugendliche mit Bussen aus privilegierten Bezirken in benachteiligte Schulen zu bringen und so für soziale Durchmischung auch in den Bildungseinrichtungen zu sorgen.

Neuköllner Sozialstruktur in Zahlen

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