MieterEcho 329/August 2008: Aufwertung beginnt trotz Milieuschutz

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MieterEcho 329/August 2008

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Aufwertung beginnt trotz Milieuschutz

Eine neue Studie von Topos-Stadtplanung entdeckt besonders im Kiez rund um die Reichenberger Straße in Kreuzberg einen Gentrifizierungsdruck

Christoph Villinger

„Der Kiez um die Reichenberger Straße ist ein Zuzugsgebiet einkommensstarker Haushalte, die Tendenz zur Gentrifizierung ist deutlich.“ So fasste Sigmar Gude vom Stadtplanungsbüro Topos die Ergebnisse seiner neuesten Untersuchungen zur Mietentwicklung und Sozialstruktur in „SO 36“ zusammen. Als er Anfang Juni seine Studie den Bewohner/innen des Kiezes um die Reichenberger Straße vorstellte, horchten diese besonders bei einer Zahl auf: Bei Vermietungen ist das Einkommen der neuen Mieter/innen in den letzten drei Jahren um rund 50% angestiegen. Damit bestätigte Gude, der seit 1993 als Stadtforscher im Auftrag des Bezirksamts die Situation in Kreuzberg beobachtet und ansonsten Gentrifizierungs-Befürchtungen eher skeptisch gegenübersteht, die von vielen Alt-Mieter/innen im Kiez gefühlten Veränderungen.

„Besorgt berichteten Mieter/innen in den letzten Jahren immer wieder, dass sich die Bewohnerstruktur in ihren Häusern verändert“, sagte zu Beginn der Veranstaltung Iwona Chwialkowska vom Kreuzberger Stadtteilzentrum in der Lausitzer Straße 8. Deshalb hatte sie den Stadtplaner Sigmar Gude eingeladen, der sich selbst als „sanierungsvertriebener Kreuzberger“ vorstellte und der seit 15 Jahren die sozialen Veränderungen (nicht nur) in „seinem Heimatbezirk“ wissenschaftlich untersucht. Seine neueste, vom Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg in Auftrag gegebene Studie über den früheren Postbezirk „SO 36“ umfasst die Altbaugebiete zwischen dem Moritzplatz im Westen und Treptow im Osten sowie der Spree im Norden und dem Landwehrkanal im Süden. Ausgespart sind nur die Neubaugebiete rund um den Wassertorplatz und entlang der Köpenicker Straße. Insgesamt leben dort 45.000 Menschen in 20.000 Haushalten. Weitere Studien verfasste Gude in den letzten Jahren über die Milieuschutzgebiete Bergmannstraße-Nord, Graefe-Kiez, die Hornstraße und den Kiez um den Chamissoplatz sowie über Milieuschutzgebiete in Prenzlauer Berg, Charlottenburg und Tiergarten.

Milieuschutz-Verordnung soll Zusammensetzung der Wohnbevölkerung erhalten

Grundlage der neuen Studie ist die im Untersuchungsgebiet seit Anfang der 90er Jahre geltende Milieuschutz-Verordnung, welche die Zusammensetzung der Wohnbevölkerung erhalten soll. Damit gilt es zu verhindern, dass Bewohner/innen durch Luxus-Modernisierungen und modernisierungsbedingte Mieterhöhungen aus ihrem Wohngebiet verdrängt werden bzw. dass nur „Besserverdienende“ in der Lage sind, dort eine Wohnung zu mieten. Gleichzeitig soll damit garantiert werden, dass die durch den Einsatz öffentlicher Mittel erreichte Verbesserung der Wohnverhältnisse auch der angestammten Bevölkerung zugutekommt. Deshalb muss ein Hausbesitzer die Modernisierung von Häusern oder einzelner Wohnungen sowie die Umwandlung von Wohnraum in Gewerberaum und den Abriss von Gebäudeteilen vom Bezirksamt genehmigen lassen. Zu den genehmigungspflichtigen Modernisierungen gehören z. B. Heizungseinbau, Einbau von Isolierglasfenstern, Balkonanbau, Grundrissänderung oder Einbau eines Badezimmers. „Doch die Festlegung einer Mietobergrenze greift nur bei Modernisierungen, nicht bei normalen Mietsteigerungen“, sagte dazu Gude und betonte, dass „das Anfang der 90er Jahre ganz passable Instrument heute recht schwach ist“. Es sei eine Sache des Baurechts, nicht des Sozialrechts.

Durchschnittseinkommenum 30% gestiegen

Die Topos-Untersuchung, die nach den Sommerferien offiziell vorgestellt werden soll, basiert auf der Auswertung von über 800 Fragebögen. Sein Untersuchungsgebiet unterteilte der Stadtforscher in vier Teilbereiche, neben dem Kiez um die Reichenberger Straße (Reiche-Kiez) sind dies die Gebiete ums Kottbusser Tor und um den Lausitzer Platz sowie der Wrangelkiez.

Besonders ins Auge springt beim Reiche-Kiez, dass die Anzahl der Haushalte mit Kindern von 1993 bis 2008 von damals 31% auf nun 18% abgenommen hat. „Gentrifizierung passiert in der Regel durch junge, kinderlose Haushalte“, sagte dazu Gude. Ein weiteres Merkmal ist der Anstieg der Durchschnittseinkommen. Diese haben im Reiche-Kiez in den letzten drei Jahren um 30% zugelegt und erreichen nun mit rund 1300 Euro fast den Berliner Durchschnitt. Dagegen liegt das Durchschnittseinkommen in den Nachbarquartieren bei rund 1000 Euro im Monat. „Mitberücksichtigt sind da die teuren Wohnungen am Paul-Lincke-Ufer, denn die gab es auch 1995 schon“, betonte Gude. Noch deutlicher ist die Steigerung bei Neuvermietungen: Hier nahmen in den letzten drei Jahren die Durchschnittseinkommen der Neu-Mieter/innen gar um 50% zu, von rund 1000 Euro im Jahr 2005 auf rund 1500 Euro in 2008.

Gude beobachtet „eine zunehmende Polarisierung zwischen jungen, einkommensstarken und kinderlosen Haushalten versus alten, einkommensschwachen Haushalten mit vielen Kindern“. Gleichzeitig ist das Durchschnittseinkommen aber in den drei anderen Vergleichsgebieten nur sehr leicht angewachsen, selbst im durch Mediaspree gefährdeten Wrangelkiez. Und rund ums Kottbusser Tor sank das Durchschnittseinkommen sogar leicht. „Auch wenn sich die klassische Kreuzberger Bevölkerung im Reiche-Kiez am längsten gehalten hat“, gab dazu Gude zu bedenken, „war Kreuzberg nie ein reines Arbeitergebiet, im Reiche-Kiez gibt es auch einen attraktiven Altbaubestand mit gutbürgerlichen 5-Zimmer-Wohnungen“.

Mieten in „SO 36“ fast bei 6,00 Euro

Ebenso setzt sich die weit über der Inflationsrate liegende Steigerung der Durchschnittsmieten fort: Lag die Nettokaltmiete im gesamten „SO 36“ 1993 noch bei 3,50 Euro/qm, hat sie inzwischen eine Höhe von fast 6,00 Euro/qm erreicht. Dazu kamen im Jahr 2007 kalte Betriebskosten von durchschnittlich 1,25 Euro/qm.

Gleichwohl gab sich Gude kämpferisch. „Ich glaube nicht, dass es so totale Umschwünge geben wird wie am Helmholtzplatz im Prenzlauer Berg, aber die Tendenz ist deutlich.“ Zum einen würde Kreuzberg von seiner Bevölkerung stark wertgeschätzt, obwohl es als eines der schlechtesten Wohngebiete der Stadt gelte. „Vielleicht ist deshalb SO 36 auch nicht so abgestürzt wie Neukölln-Nord“, sagte dazu der Stadtforscher. Und zum anderen verfüge SO 36 über eine ganz andere Widerständigkeit und Widerstandspotenziale, dies sei ein wichtiger Unterschied zum Prenzlauer Berg. „Hier ist ein sehr lebendiger Kiez mit vielen türkischen Familien, gerade deshalb werden hier bestimmte Leute des Bionade-Biedermeiers* in absehbarer Zeit nicht hinziehen“, hofft Gude. Und Berlin habe zurzeit einfach nicht die Kraft, alle Stadtviertel aufzuwerten. Doch zugleich warnte er: „Keine sozialen Erfolge sind für die Ewigkeit gemacht.“

„Schleichende Attraktivitäts-steigerung viel gefährlicher“

Deshalb riet Gude in der anschließenden Diskussion davon ab, sich zu sehr auf Mediaspree als den großen Motor der Gentrifizierung einzuschießen. Gerade die geplante Verkehrserschließung habe zwei Seiten und erlaube den dort arbeitenden Mittelständlern, sich schnell mit dem Auto oder der S-Bahn zu ihrem Häuschen ins Grüne zu begeben. „Ich halte diese schleichende Attraktivitätssteigerung für viel gefährlicher“, warnte Gude. „Aber meine Kreuzberger Mieter nehmen nicht alles sofort hin“, schwärmte Gude dann und erinnerte daran, wie in den 70er Jahren der Abriss des Kiezes verhindert wurde. „Als ersten Schritt können die Mieter“, riet Gude, „bei geplanten Baumaßnahmen das Bezirksamt informieren und nachfragen, ob überhaupt eine Genehmigung vorliegt“. Zuständig ist dafür das Amt für Stadtplanung, dessen Mitarbeiter Herr Bernhardt und Herr Thiele unter 90298-2243 und -2242 erreichbar sind.

Weitere Informationen: www.topos-planung.de

*)Unter der Überschrift „Bionade-Biedermeier“ veröffentlichte das Magazin Die Zeit am 8. November 2007 einen Beitrag über Prenzlauer Berg.

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