MieterEcho 329/August 2008: „Wir wehren uns“

MieterEcho

MieterEcho 329/August 2008

Quadrat TITEL

„Wir wehren uns“

Unter dem Motto „Heute erwerbslos – morgen Wohnung los?“ luden die Berliner MieterGemeinschaft und die Erwerbslosengruppen des DGB zu einer Veranstaltung über die Zukunft der „AV-Wohnen“

Christian Linde

„Es wird eine völlig neue Ausführungsverordnung Wohnen geben“, verkündete Berlins Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner (Die Linke) vor über einem Jahr am 11. Juli 2007. Der Augenblick war gut gewählt, denn am gleichen Tag präsentierte der Senat den neuen Mietspiegel, der erhebliche Mietsteigerungspotenziale einräumte. Taten folgten der Ankündigung von Knake-Werner zwar nicht, aber umso aktiver war die Bundespolitik. In einem am 5. März 2008 im Haushaltsausschuss des Bundestags eingebrachten Antrag kritisierte die Große Koalition die Wohnkostenübernahmepraxis in Berlin. Man rügte „die teilweise durch die Länder geschaffenen Rechtsgrundlagen, deren Vereinbarkeit mit dem Bundesrecht erhebliche Zweifel aufwerfen sowie die rechtswidrige Handhabung der Leistungen für Unterkunft und Heizung, insbesondere durch das Land Berlin sowie das Land Hessen“. Die Bundesregierung wurde deshalb aufgefordert, „im Rahmen ihrer Möglichkeiten die erforderlichen Schritte einzuleiten, um sicherzustellen, dass Landesrecht nicht gegen Bundesrecht verstößt“.

Auf einer Veranstaltung am 28. Juni 2008, zu der die Berliner MieterGemeinschaft und die Erwerbslosengruppen des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) unter dem Motto „Heute erwerbslos – morgen Wohnung los?“ ins DGB-Haus eingeladen hatten, wurden Strategien diskutiert, wie dem Angriff auf die AV-Wohnen in Berlin begegnet werden kann. Der Stadtsoziologe Andrej Holm stellte die vom Berliner Landesrechnungshof präsentierten Zahlen in Frage, mit denen die Behörde die jährlichen Mehrausgaben in zweistelliger Millionenhöhe zu begründen versucht. So habe der Rechnungshof eine auf lediglich 277 Hartz-IV-Haushalte gestützte, nicht repräsentative Stichprobe zur Grundlage seiner Bewertungen gemacht – mit dem Ergebnis, dass bei 40% der Mieter/innen überhöhte Wohnkosten ermittelt worden seien. Diese Zahl sei einfach hochgerechnet worden, wobei die Stichprobe die Vermutung nahe legt, dass hier Ausnahmefälle bewusst ausgewählt wurden, um die Berliner AV-Wohnen zum Politikum zu machen.

„Soziale Polarisierung auf dem Wohnungsmarkt spiegelt gesamtgesellschaftliche Entwicklung“

In seiner Bestandsaufnahme stellte Joachim Oellerich von der Berliner MieterGemeinschaft die Wohnungsmarktsituation für Hartz-IV- Mieter/innen dar (die Wohnungsmarksituation gilt im Wesentlichen auch für prekär Beschäftigte und Niedriglohnbeziehende). Danach sind zwischen 2005 und 2007 rund 44.000 „Hartz-IV-kompatible“ Wohnungen vom Markt verschwunden. Die weit verbreitete Annahme, wonach die „Platte“ das Ausweichreservoir für zum Umzug aufgeforderte Grundsicherungsbeziehende bilde, sei falsch. So liege in den Ostberliner Plattenbauquartieren die durchschnittliche Nettokaltmiete mit 4,79 Euro bereits über dem Berliner Durchschnittswert. Außerdem bilde sich durch den sprunghaften Anstieg der Energiepreise keine realistische Kostenstruktur mehr in den Mietobergrenzen für Langzeiterwerbslose ab. „Die Einkommenssituation im Verhältnis zu den Wohnungsmarktpreisen hat sich insgesamt negativ entwickelt. Die soziale Polarisierung, die sich auf dem Wohnungsmarkt darstellt, spiegelt die gesamtgesellschaftliche Entwicklung wider“, so Oellerich.

Elke Breitenbach (Die Linke), Mitglied des Abgeordnetenhauses, zeichnete ein positives Bild von den bisherigen Auswirkungen der Berliner Regelung zu den Wohnkosten. Zu den Wohnungsmarktzahlen und dem von ihrer Fraktion mitgetragenen vermieterfreundlichen Mietspiegel wollte sie sich nicht äußern, jedoch räumte die Politikerin ein, dass die Richtwerte „nicht mehr aktuell“ seien. Sie stellte aus der Sicht des rot-roten Senats jedoch klar, dass nach den offiziellen Zahlen in den beiden zurückliegenden Jahren gerade einmal 410 (2006) und 860 (2007) Haushalte von den Jobcentern zu einem Umzug aufgefordert worden seien.

Auf Distanz zum Verfassungs- und Sozialrecht

Dem widersprach Sigmar Gude vom Topos-Stadtforschungsinstitut. Nach der Datenlage der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg bezuschussen die Berliner Jobcenter pro Jahr rund 10.000 Umzüge von Langzeiterwerbslosen. Bei Scheidung, Aufnahme eines wohnortfernen Arbeitsverhältnisses, gesundheitlichen Gründen oder bei zu hoher Miete werde die Behörde aktiv. Gude wies darauf hin, dass der Begriff „Zwangsumzug“ unzutreffend sei, weil das Jobcenter aufgrund der verfassungsrechtlich verankerten Vertragsfreiheit nicht in Mietverträge intervenieren könne. Liegt die bestehende Miete über den Grenzen der AV-Wohnen, entscheide das Jobcenter – nach Ablauf der Schonfrist – nur noch die „angemessene Miete“ zu übernehmen. Die Zahl der Haushalte, die durch Hinzuverdienst oder aus dem Regelsatz die Differenz begleichen müsse, steige nach seiner Kenntnis kontinuierlich an. Sigmar Gude verwies darauf, dass – ohne Berücksichtigung der Sonderklauseln – die Mietkosten von bereits 70.000 Haushalten, also rund einem Fünftel aller ALG-II-Bezieher, über den Obergrenzen der jetzt existierenden AV-Wohnen lägen.

Bernhard Jirku, Mitglied der ver.di-Bundesverwaltung, schätzte die Auswirkungen der Berliner AV-Wohnen und die Praxis der Jobcenter – trotz der sich verschlechternden Situation für Wohnungssuchende – als „noch komfortabel“ ein. Dem Bundesrechnungshof, der die Debatte um die Unterkunftskosten mitangestoßen hatte, warf der Gewerkschafter „eine ideologisch motivierte Argumentation“ vor, die sich weit entfernt vom Verfassungs- und Sozialrecht bewege.

Für den Erhalt der „Fristenregelung“ in Berlin, die nach dem Willen der Bundesregierung der geplanten bundesweit einheitlichen Regelung zum Opfer fallen soll, sprachen sich alle Teilnehmer aus. In Berlin beginnt die Prüfung der Wohnkosten erst nach einem Jahr. Laut Bundesarbeitsministerium führe dies zu Mehrausgaben in Höhe von 30 Millionen Euro pro Jahr. Im Jahr 2006 lag der Anteil des Bundes an den in Berlin aufgebrachten 1,366 Milliarden Euro für Wohnkosten bei rund 400 Millionen. Tatsächlich liegt Berlin im bundesweiten Ver-gleich bei den Wohnkosten mit durchschnittlich 342 Euro jedoch erst auf Platz vier, hinter Nordrhein-Westfalen (357 Euro), dem Saarland (348 Euro) und Hessen (346 Euro).

Suche nach Alternativen

„Wir wehren uns“ sei ein richtiges Motto, betonte die Bundestagsabgeordnete Gesine Lötsch (Die Linke). Ihre Fraktion verteidige die Berliner AV-Wohnen und wolle sie zum Modell für alle Kommunen machen. „Eine Pauschalierung wird es definitiv nicht geben“, erklärte Ülker Radziwill, Mitglied der SPD-Fraktion. Die rot-rote Koalition habe bisher die AV-Wohnen insbesondere hinsichtlich der Arbeitsmarktintegration verteidigt. So liege der Anteil derer, die binnen zwölf Monate nach Beginn der Erwerbslosigkeit wieder in ein Beschäftigungsverhältnis gelangen, bei 43%. Demzufolge trage die Jahresfrist diesem Ziel Rechnung. In der Zeit ihrer höchstmöglichen Integrationschancen auf dem ersten Arbeitsmarkt sollten die Betroffenen ihre Energien allein auf die Arbeitsplatzsuche und nicht auf die Wohnungssuche lenken können, argumentiert der Senat.

„Wann beginnt die Schonfrist?“ Diese Frage richtete Andrea Draeger an die Adresse der politisch Verantwortlichen. Die Rechtsanwältin, die aus der Beratungs- und Gerichtspraxis berichtete, wies darauf hin, dass in der AV-Wohnen konkrete Hinweise darauf fehlten.

Senat soll Eigentümerfunktion wahrnehmen

In einer Resolution zum Abschluss der Veranstaltung lehnten die Berliner MieterGemeinschaft und die Erwerbslosengruppen eine Verschlechterung der bisherigen Regelungen ab. Zwei weitere Forderungen lauteten: „Insbesondere die Regelung, ein Jahr lang die tatsächlichen Wohnkosten zu übernehmen, muss erhalten bleiben. Ebenso wenig darf es in Berlin Beschränkungen der Wohnraumgröße geben.“ Der Senat wird aufgefordert, vor allem die zwölfmonatige Schonfrist aufrechtzuerhalten. Bei einer möglichen Neugestaltung der AV-Wohnen solle sich diese weiterhin an den Maximen einer sozial durchmischten Stadt orientieren und die Richtwerte der Angemessenheit seien angesichts der sich verschärfenden Wohnungsmarktbedingungen zu erhöhen. „Wir fordern den Senat ferner auf, seine Eigentümerfunktion gegenüber den kommunalen Wohnungsbaugesellschaften (und ihren etwa 270.000 Wohnungen) stärker zu nutzen, um eine segregationsvermeidende Vermietungspraxis für die Leistungsempfänger/innen durchzusetzen.“

Wie weiter mit der AV-Wohnen?
Informations- und Diskussionsveranstaltung der MieterEcho-Redaktion

Zur Entscheidung stehen zurzeit die in der AV-Wohnen festgelegten Regelungen der Unterkunftskosten für ALG-II-Berechtigte.

Wir informieren über den aktuellen Stand des Verfahrens und diskutieren die Konsequenzen.

Weil die Ergebnisse von großer Bedeutung für viele unserer Mitglieder sind, hoffen wir auf eine starke und engagierte Beteiligung.

Zurück zum Inhalt MieterEcho Nr. 329