MieterEcho 327/April 2008: Wohnungsnöte statt Wohnungsnot

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MieterEcho 327/April 2008

Quadrat WOHNUNGSMARKT

Wohnungsnöte statt Wohnungsnot

Der soziale Wohnungsbau ist abgeschafft – ein neuer sozialer Wohnungsbau muss her

Jutta Blume

Die Zeiten der allgemeinen Wohnungsnot sind vorbei, der soziale Wohnungsbau ist quasi abgeschafft. Engpässe auf dem Wohnungsmarkt betreffen vor allem arme Bevölkerungsschichten. Wo der Staat sich zurückzieht, suchen Architekt/innen und Stadtplaner/innen nach Lösungen. Damit greifen sie eine 80 Jahre alte Fragestellung des Modernen Bauens auf.

In den 90er Jahren wurde die Wohnungsnot vom Staat für beendet erklärt und der soziale Wohnungsbau auf ein Minimum zurückgefahren, mehr noch, ein Großteil der kommunalen Wohnungen wurden privatisiert. An die Stelle der Objektförderung, d.h. der Förderung von günstigem Wohnraum, trat die Subjektförderung, nämlich die Unterstützung der bedürftigen Personen bei der Mietzahlung – durch Wohngeld oder als Erstattung der Kosten der Unterkunft durch die Jobcenter. Zwar herrscht längst keine neue Knappheit auf dem Wohnungsmarkt, Walter Prigge, Stadtsoziologe vom Bauhaus Dessau, spricht aber von "Wohnungsnöten". Bezahlbarer Wohnraum für Menschen mit niedrigem Einkommen sei Mangelware geworden.

Wohnungen für Menschen am Existenzminimum sind knapp

80 Jahre nach dem Internationalen Kongress für Modernes Bauen (CIAM = Congrès International d’Architecture Moderne) in Frankfurt am Main stellt die Stiftung Bauhaus Dessau erneut die Frage nach der "Wohnung für das Existenzminimum". Bis Ende März sammelte die Stiftung sowohl gestalterische als auch sozialwissenschaftliche Arbeiten zum Thema "Wohnungsnöte weltweit". Die Problematik erscheint auf den ersten Blick wenig anders als 1929. Damals schrieben die am CIAM beteiligten Architekten: "Das Problem der Errichtung von Wohnungen zu tragbaren Mieten für die mindestbemittelte Schicht der Bevölkerung steht heute im Vordergrund des Interesses in fast allen (...) Ländern." Anders als heute favorisierten sie jedoch eine technische Lösung des Problems. Unter dem Motto "Wohnung für das Existenzminimum" entwarfen Architekten wie El Lissitzky, Le Corbusier und Walter Gropius Kleinstwohnungen, die, standardisiert und in Fertigbauweise errichtet, zu einer kostengünstigen Massenproduktion taugten. Auf die Frage "Was braucht der Mensch?", antworteten die Architekten der Moderne mit "Licht, Luft, Raum und Wärme" und grenzten sich damit sowohl von den überbelegten und dunklen Mietskasernen als auch von repräsentativen bürgerlichen Wohnungen ab. Die moderne Wohnung hatte die Bedürfnisse des alltäglichen Lebens zu erfüllen, die Funktionen sollten aber bei rationaler Planung auf engstem Raum untergebracht werden. Das führte soweit, dass Le Corbusier Schlafzimmern nur sechs Quadratmeter Platz einräumte. Walter Gropius bezog auch gemeinschaftliche Lösungen ein. So entwarf er ein Wohnhaus für 60 Familien, das ein Schwimmbad und eine Turn- und Tanzfläche enthielt. Die Norm wurde aber die Wohnung für die Kleinfamilie, nicht für eine Gemeinschaft von Familien. "In den Richtlinien des Reichswohnungsprogramms von 1930 wurde die Grundfläche für eine Familie auf 48 qm reduziert", erzählt der Direktor der Stiftung Bauhaus Dessau, Omar Akbar. Der in Berlin tätige Architekt Bruno Taut habe in dem Zusammenhang von einer "fortschreitenden Psychose des Wohnungsbaus" gesprochen. Die Reduzierung auf das absolute Minimum an Platz war nicht immer im Sinne ihrer Erfinder. Die 1975 fertiggestellte Berliner Großsiedlung Gropiusstadt entstand zwar nach den Plänen des 1969 verstorbenen Walter Gropius, nach dem Mauerbau war sie aber weiter als ursprünglich vorgesehen verdichtet worden und Grünflächen fielen zudem Parkplätzen zum Opfer, da der Planer den Motorisierungsgrad der Bewohner nicht vorausgesehen hatte. Walter Prigge verweist darauf, dass die staatliche Wohnungsversorgung der Nachkriegszeit auch mit einer "Normalisierung" einhergegangen sei: Die Normalwohnung für die Normalfamilie mit einem Normalauto.

Individueller Wohnungsbau gesucht

Personen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen waren in der Wohnungsfürsorge noch nie vorgesehen. Erst heute ist die "Norm" verloren gegangen und unterschiedliche Lebens- und Wohnkonzepte finden gesellschaftliche Anerkennung. Dennoch ist der Markt allein nicht in der Lage, für jeden den passenden Wohnraum bereitzuhalten. "Es fehlen billige sanierte Wohnungen für Niedriglohnempfänger, kleine Wohnungen für Hartz-IV-Empfänger, Wohnungen für Asylbewerber, WG-geeignete Wohnungen für Obdachlose, Jugendliche und Studenten", meint Prigge.

Heute gibt es für ALG-II-Beziehende zwar staatlich bezahlten Wohnraum, aber wer sich Licht und Wärme bei steigenden Energiekosten nicht leisten kann, muss eben im Dunklen sitzen. Angesichts des Rückzugs des Staats aus der Wohnungsversorgung fragt das heutige Bauhaus nach individuellen Lösungen, die aber nicht auf Individualisierung setzen. "Neben individuellen Strategien werden vor allem Modelle, Ansätze oder Gestaltungen gesucht, in denen das Element der Gemeinschaft eine Rolle spielt", hieß es in der Ausschreibung. Das gemeinschaftliche Wohnen spart Energie, es ermöglicht Menschen ohne eigene Möbel die Gründung eines Haushalts und soziale Aufgaben wie etwa Kinderbetreuung können verteilt werden.

Beispiele: Baugruppen und Favelas

"Man könnte heute sagen, Selbstorganisation ist erste Bürgerpflicht", sagt Sabine Kraft, Redakteurin der Zeitschrift Archplus. Was bedeutet, dass selbst der Staat nicht mehr auf Individualisierung setzt, wie zu Zeiten als miteinander kommunizierende Arbeiter als politisch gefährlich galten. Der Staat entdeckt die Solidarität seiner Bürger untereinander heute als eine Möglichkeit, sich aus seinen Unterhaltspflichten herauszuziehen. Schnell wird zusammenlebenden Personen unterstellt, eine "Bedarfsgemeinschaft" zu bilden. Beliebt in Städten und Kommunen sind "Baugruppen", die in gemeinschaftlicher Anstrengung ihr Eigenheim, meist als Mehrfamilienhaus, errichten. Viele Kommunen schreiben Bauland für solche Eigentümergemeinschaften aus und auch Berlin möchte diese Bauherren verstärkt beraten und unterstützen. In der Bauhaus-Ausschreibung wurden sie als Beispiel der Selbstorganisation angeführt (neben Favela-Bewohner/innen aus Sao Paolo). Auf einem vom Bauhaus veranstalteten Kolloquium sind sich die Architekt/innen zumindest einig, dass Baugruppen marktkonform, mittelständisch und keineswegs beispielgebend für Gruppen ohne Eigenkapital sein können. Bleiben die Favela- oder Slumbewohner/innen als Vorbild? Schließlich lebt ein nicht unbedeutender Teil, vielleicht sogar ein Viertel der Menschheit, in städtischen Elendsvierteln.

Prinzip Selbstorganisation

Dass es auch unterschiedliche Klassen von "Slums" gibt, beschreibt der Architekt Eckhart Ribbeck von der Uni Stuttgart, der zur Entwicklung "informeller Stadtteile" in Mexiko-Stadt forscht. Dort erstehen arme Familien zumeist nicht erschlossene Grundstücke von inoffiziellen Bodenhändlern und ihre Häuser bauen sie ohne Baugenehmigungen und Architekten, wobei sich das Haus den verändernden Bedürfnissen der Familie anpasst. Die Infrastruktur des neuen Viertels entsteht zunächst in Nachbarschaftshilfe, bis der Stadtteil nach etwa 10 bis 15 Jahren legalisiert wird. Wenn sich aus dem mexikanischen Beispiel etwas lernen lässt, dann vielleicht soviel, dass Selbstorganisation nur funktioniert, wenn sie nicht durch strikte Reglementierungen (wie etwa des deutschen Baugesetzbuchs) beschränkt wird.

(Einklagbares) Recht auf Wohnraum

Der Frage, welche Möglichkeiten angesichts des Rückzugs des Staats aus der Wohnungsversorgung bestehen, kann rein gestalterisch nicht beantwortet werden. Konsequent wäre, kurz nach der Abschaffung des sozialen Wohnungsbaus, die Forderung nach einem neuen sozialen Wohnungsbau. Bei Selbstbau-Modellen müsste den Baugemeinschaften Zugang zu Boden, Baustoffen und fachlicher Unterstützung gegeben werden. Ganz neu wäre auch dieses Modell nicht. Von 1982 bis 2001 förderte der Berliner Senat die "wohnungspolitische Selbsthilfe", bei der zumeist Wohnprojekte ihre Häuser oder Wohnungen in Eigenregie sanierten. Dabei war eine bestimmte Stundenzahl an eigener Arbeitsleistung zu erbringen. Eine politische Lösung der neuen Wohnungsnöte strebt Frankreich an, indem es ab 2009 ein einklagbares Recht auf Wohnraum im Gesetz verankert. Ob es diesen Wohnraum auch vorhalten kann, wird sich zeigen. Ob Licht, Luft und Wärme dann wohl inklusive sein werden?

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