MieterEcho 326/Februar 2008: Schuldenkarussell kommt in Schwung

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MieterEcho 326/Februar 2008

Quadrat SOZIALES

Schuldenkarussell kommt in Schwung

Die Zahl der verschuldeten Haushalte hat in den vergangenen Jahren um fast eine Million Haushalte bundesweit zugenommen - ein Ende des Anstiegs ist nicht abzusehen

Christian Linde

"Der Aufschwung ist auch unten angekommen", behauptet Bundeskanzlerin Angela Merkel gegenüber den Befürworter/innen des Mindestlohns. Die CDU-Politikerin verweist auf die rückläufigen Arbeitslosenzahlen und die positive konjunkturelle Entwicklung. Staatliche Interventionen in die Autonomie der Tarifpartner seien deshalb allenfalls in einzelnen Branchen überlegenswert.

Dass die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt längst von der Lohntüte der Arbeitnehmer abgekoppelt ist, belegt die steigende Zahl der sogenannten Aufstocker - also diejenigen, die aufgrund ihres geringen Erwerbseinkommens Anspruch auf Arbeitslosengeld II haben. Die Rechnung, wer einen Erwerbsarbeitsplatz hat, lebt sorgen- und schuldenfrei, geht längst nicht mehr auf. Das bestätigen auch die Ergebnisse des Schuldneratlas 2007. "Die Analyse belegt einen bedenklichen Trend: Trotz des konjunkturellen Aufschwungs gibt es keine Entspannung der Verbraucherüberschuldungsproblematik. Zwar mildert die zurückgehende Arbeitslosigkeit den Anstieg der Schuldnerquoten. Allerdings müssen Jahr für Jahr mehr Bürger Privatinsolvenz anmelden, und die Zahl der überschuldeten Personen steigt weiter", so die Creditreform, die den jährlichen Schuldneratlas vorlegt.

Mehr als jeder Zehnte betroffen

Danach hat die Überschuldung von Privatpersonen in Deutschland seit 2004 um über 800.000 Haushalte zugenommen. Allein im vergangenen Jahr waren es 150.000. Zum Stichtag 1. Oktober 2007 hat die Creditreform eine Schuldnerquote von 10,9% ermittelt. Das heißt, rund 7,3 Millionen Menschen (mehr als jeder zehnte Erwachsene) können ihre Zahlungsverpflichtungen nicht mehr erfüllen. Zum Vergleich: Im Jahr zuvor waren es noch 10,7% oder 150.000 Menschen weniger. Dabei liegt die Quote der Überschuldeten in den neuen Bundesländern mit 11,5% (ohne Berlin) höher als in den alten Bundesländern (10,7%). In der ehemaligen Bundesrepublik sind 6 Millionen Haushalte überschuldet und in Ostdeutschland rund 1,3 Millionen. Den höchsten Anstieg verzeichnen Bremen, Hamburg und das Saarland. Berlin rangiert auf dem achten Platz. Im Gegenzug ist die Zahl der beantragten Verbraucherinsolvenzverfahren seit 1999 bis zum 1. Quartal 2007 vergleichsweise gering. Gerade einmal 343.000 private Haushalte, also rund 5% der Schuldner, haben von der Möglichkeit des Restschuldenerlasses Gebrauch gemacht. Das Schuldenvolumen beziffert die Creditrefom auf mindestens 208 Milliarden Euro. Im Jahr 2004 waren es noch 186 Milliarden Euro. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts wies ein einzelner Haushalt einen mittleren Schuldenbetrag von rund 36.800 Euro auf.

Armer Norden - reicher Süden

Dass sich regionale Unterschiede auf die Einkommen- und Schuldensituation privater Haushalte auswirken, belegt die Wohnort-Rangliste bei der Verschuldung. Die Spitzenplätze nehmen, wie auch im zurückliegenden Jahr, Bremen mit 15,5% (2006: 15,3%) und Berlin mit 15,3% ein (2006: 15,2%). Die wenigsten verschuldeten Haushalte leben mit 7,8% (2006: 7,7%) in Bayern und mit 8,1% (2006: 8,1%) in Baden-Württemberg (siehe Tabelle). Die Spannbreite der Überschuldung reicht nach Auswertung von 439 Kreisen und kreisfreien Städten von der niedrigsten gemessenen Quote im bayerischen Landkreis Eichstätt (0,2%) bis zur höchsten gemessenen Schuldnerquote in der Stadt Offenbach (20,9%). Brennpunkte der klammen Kassen privater Haushalte bleiben die Großstädte. Aus einem Ranking der Städte mit über 400.000 Einwohnern ist Duisburg mit einer Schuldnerquote von 16,8% (2006: 16,3%) als Spitzenreiter hervorgegangen, gefolgt von Berlin und Düsseldorf.


Tabelle Schuldnerquoten 2004 bis 2007
Ursache von Ver- und Überschuldung

Dass Menschen in finanzielle Schwierigkeiten bis hin zur Überschuldung geraten, liegt - anders als häufig dargestellt - nur nachrangig an einem unangemessenen Konsumverhalten. Mehr als jede zweite Überschuldung, nämlich 52%, ist zurückzuführen auf Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Scheidung. Eine sogenannte unwirtschaftliche Haushaltsführung ist nur in 16% der Fälle Ursache für die Verschuldung. In 9,4% der Fälle hat die Untersuchung Einkommensarmut und in 4,6% Drogenkonsum als Ursache für die Ver- oder Überschuldung festgestellt. Summarisch könne davon ausgegangen werden, dass etwa 2,2 Millionen Überschuldungsfälle auf Arbeitslosigkeit zurückzuführen sind. Rund eine Million Schuldner gerieten durch einen übermäßigen Konsum in die Schuldenfalle.

Polarisierungstendenzen und Verfestigung von Armut

Mit steigender Tendenz erfasst das Überschuldungsproblem auch die Mittelschicht. So treibt beispielsweise das meist durch Arbeitslosigkeit verursachte Scheitern einer Immobilien- bzw. Baufinanzierung - oft in Zusammenhang mit einer Trennung oder Scheidung - zunehmend auch Bessergestellte in den finanziellen Ruin. Nachwirkungen der Börsenkrise aus dem Jahr 2000 und die darauf folgende wirtschaftliche Stagnation haben insbesondere Mittelschichtsangehörige in eine private Schuldenkrise katapultiert.

Innerhalb der Betroffenengruppen zeichnet sich laut Creditreform ein weiterer "besorgniserregender Trend" ab: Während bei den Verschuldeten in der Altersgruppe der 40- bis 49-Jährigen ein leichter Rückgang zu verzeichnen ist, nimmt die Zahl unter den Jüngeren drastisch zu. So ist mittlerweile mehr als 1% der unter 20-Jährigen überschuldet. Bei den 20- bis 29-Jährigen nähert sich die Schuldnerquote mit 8,6% dem zweistelligen Bereich. "Junge Erwachsene sind von einer anhaltenden Zahlungsunfähigkeit im sozialen Umfeld stark betroffen. Diese negativen Erfahrungen, verbunden mit einer mangelnden Teilhabe an Bildungsangeboten, werden generationsübergreifend weitergegeben", warnen die Autoren der Studie. Nach Auswertung aller Daten und Informationen kommt der Schuldneratlas zu dem Befund: Durch die Konzentration und Verfestigung von sozialen Problemen - wie Arbeitslosigkeit, Ausbildungsplatzmangel, Einkommens- und Bildungsarmut, Überschuldung als Sozialisationserfahrung bis hin zur Ausgrenzung als Bevölkerungsgruppe - vollziehe sich eine "partielle Verschuldungsverdichtung" bis hin zu "Schulden-Ghettos". Den Ergebnissen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung im Rahmen der Armutsforschung zufolge vollziehe sich die "Spaltung der Gesellschaft" als ungleiches Verhältnis der Aneignungschancen von Einkommen und Bildung auch in Form der beobachtbaren Überschuldungsverdichtung.

Blick in die Zukunft

Für die kommenden Jahre zeichnen die Ersteller des Schuldneratlas ein düsteres Bild. Selbst bei einem langfristigen konjunkturellen Aufschwung mit einem nachhaltigen Abbau der Arbeitslosigkeit, insbesondere der Dauerarbeitslosigkeit, sei keine Verminderung der Überschuldeten zu erwarten. "Vielmehr ist von einer dauerhaft-nachhaltigen Zahlungsunfähigkeit großer Teile der der Schuldnergruppe zuzurechnenden Personen auszugehen, da Überschuldungsprozesse meist im Rahmen von sich selbst verstärkenden, negativen Wirkungsketten ablaufen und damit den Bestand sowie auch die ‚Neurekrutierung' von überschuldeten Personen perpetuieren." Überschuldung präge Lebensstil und Verhaltensmuster der betroffenen Personen und übertrage negative Lebenserfahrung auf die Kinder und das soziale Umfeld. "Zudem bestätigt sich eine Hypothese des Vorjahresberichts, dass Überschuldung und politische Partizipation, zumindest mittelbar, korrelieren."


Verschuldete haushalte nach Bundesländern
Wissensvermittlung und Armutsprävention

Zur Entschärfung der Situation fordern die Schulden-Analysten Handlungsansätze von allen gesellschaftlichen Akteuren: der Politik, der Wirtschaft und den Verbrauchern. Hierzu gehört der Abbau von Arbeitslosigkeit bzw. die Schaffung neuer und sicherer Arbeitsplätze, "die zudem den Lebensunterhalt der Arbeitnehmer gewährleisten". Darüber hinaus seien höhere Bildungsinvestitionen erforderlich, die auch den Bereich der Förderung der Finanzkompetenz umfassen. Eine Stärkung und ein Ausbau der Schuldner- und Insolvenzberatung sowie Veränderungen bei der Kreditvergabe von Finanzdienstleistern seien ebenso notwendig wie eine qualifizierte Informationsoffensive zur Überschuldungsproblematik und zu ihren Folgewirkungen. An die Adresse der Politik gerichtet fordert die Creditreform, dass die Schuldnerforschung stärker in die Armuts- und Bildungsdebatte eingebunden werden soll. Ziel müsse es sein, "dem Stellenwert von Überschuldungsprozessen als Armutsauslöser und -verstärker gerecht zu werden und die vorhandenen Informationen im Sinne einer kleinräumigen Sozialplanung nutzbar zu machen".

Schuldneratlas 2007 im Internet: www.creditreform.de

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