MieterEcho 326/Februar 2008: Die scheinselbstständige Schule

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MieterEcho 326/Februar 2008

Quadrat PRIVATISIERUNG

Die scheinselbstständige Schule

Der "Zwang" zur Privatisierung macht vor dem Bildungswesen nicht Halt

Hermann Werle

Wie öffentliche Dienstleistungen zunehmend privatisiert und Bürger/innen zu Kunden degradiert werden, war Thema im MieterEcho Nr. 323 (Der privatisierte Staat). Nicht nur kommunale Unternehmungen, sondern gleich die gesamten Verwaltungen stehen unter dem Druck betriebswirtschaftlicher Ausrichtung und drohen privatisiert zu werden wie in Würzburg. Privatisierungstendenzen zeichnen sich auch im Bildungswesen immer deutlicher ab und werden durch entsprechende Gesetze flankiert.

Mit dem Hinweis auf leere Haushaltskassen hat der öffentliche Dienst in Berlin nunmehr über zehn "Reform- und Kürzungsjahre" hinter sich. Seit 2001 wurden über 31.000 Stellen abgebaut und bis 2011 sollen jährlich 2750 weitere folgen. Auch an den Berliner Schulen ist diese Entwicklung nicht spurlos vorbeigegangen. Vielerorts herrscht der Bildungsnotstand, verursacht durch jahrelangen Sanierungsstau, Finanzmittelknappheit und vor allem durch akuten Personalmangel.

Mit dem Berliner Schulgesetz von 2004 wurde die Verantwortung für diese Misere auf die Schulen übertragen. Das Leitbild, unter dem dieser Verantwortungstransfer stattfindet, ist die "eigenverantwortliche" oder auch die "selbstständige" Schule, wie sie im Schulgesetz festgeschrieben wurde. Zunächst konnte mit diesem Leitbild das positive Ziel von mehr Freiheit im Sinne pädagogischer Entwicklungsmöglichkeiten assoziiert werden. Die Erfahrungen, die viele Lehrer/innen in den letzten Jahren machen mussten, spiegeln aber ein ganz anderes Bild wider. Die Eigenverantwortung wird zur Verwaltung des Mangels und die Selbstständigkeit entpuppt sich als Scheinselbstständigkeit.

Dass das Schulgesetz kaum zukunftsfähig ist, prognostizierte Thomas Isensee in der Berliner Lehrerzeitung 2/2004. Unter dem Titel "Geisterfahrt ins Jahr 2020" ist zu lesen: "Die SPD setzt mit der PDS ein Schulgesetz fast unverändert durch, das für die Große Koalition mit der CDU und vor den Erkenntnissen der PISA-Studie konzipiert war. Die pädagogische Lyrik der ersten Paragrafen lässt das Herz gestandener Reformpädagog/innen in freudiger Erwartung schneller schlagen. Dann kommt aber das Kleingedruckte, die schulische Alltagsprosa: In den nachfolgenden Paragrafen wird alles gleich wieder ausgehebelt."

Sicherheit statt Pädagogik

Bereits zwei Jahre bevor die Rütli-Schule für Schlagzeilen sorgte, schrieb Isensee, dass den Kolleg/innen nur noch bliebe, Wetten darauf abzuschließen, "wann die harten sozialen Realitäten im Land Berlin die erste Novellierung des Schulgesetzes erzwingen werden". Auf eine Wette möchte man jedoch nur ungern eingehen angesichts der völligen Ignoranz des Berliner Senats gegenüber den wachsenden Problemen in den Schulen. Anstatt über Ursachen nachzudenken, wird an den Symptomen herumgedoktert, und anstelle von Ursachenbekämpfung und pädagogischen Konzepten setzt die Politik auf Repression. Als Krönung der politischen Inkompetenz bewacht seit Dezember der private Sicherheitsdienst "Germania" renitente Schüler/innen in Neukölln.

Die Probleme einiger Schulen Neuköllns, einem der ärmsten Bezirke der Stadt, sind allerdings nur die Spitze des Eisbergs der Krise in den Berliner Bildungseinrichtungen. In einer Pressemitteilung vom Dezember 2007 schrieb der Gesamtpersonalrat der Lehrer/innen und Erzieher/innen: "Es ist geradezu unglaublich, in welcher Parallelwelt Bildungssenator Zöllner lebt, wenn es um die aktuelle Personalausstattung der Berliner Schulen geht. Das Herunterfahren der Schulen auf eine Ausstattungsgröße von 100% führt dazu, dass jede Abwesenheit einer Lehrkraft sich sofort auf den Unterricht auswirkt." In einem Brandbrief der Robert-Blum-Oberschule in Tempelhof-Schöneberg an den Bildungssenator heißt es dementsprechend: "Unsere Schule gleicht einem Verschiebebahnhof für Lehrkräfte. (...) Gewachsenes Vertrauen in die Kontinuität von Lehren und Lernen? Fehlanzeige - Hauptsache, die Zahlen stimmen!"

Schulen als Unternehmen und Werbeträger

Das Berliner Schulgesetz von 2004 beinhaltet jedoch nicht nur die personelle und finanzielle Mittelbegrenzung. Im Kern seiner Ausrichtung führt es zur Umwandlung der Schulen in betriebswirtschaftlich ausgerichtete Unternehmen. Die geforderten Qualitäten der durch das Schulgesetz gestärkten Schulleitungen liegen somit nicht mehr im Bereich des Pädagogischen, gefragt ist vielmehr modernes Unternehmensmanagement. Im Tagesspiegel brachte Hinrich Lühmann, Schulleiter des Humboldt-Gymnasiums in Tegel, die Sache auf den Punkt: "Die Sarrazine dieser Republik wollen die Zahl der Lehrer nicht vermehren, nur wenige Sozialarbeiter, keine Schulpsychologen und Krankenschwestern einstellen, keine Bibliothekare, keine technischen Helfer (...). Deutschlands Schule soll finnische Resultate ohne finnische Ressourcen erbringen. Wie das gelingen kann? Unternehmensberater lieferten den entscheidenden Tipp: Ökonomisiert die Schule, leitet sie wie ein Unternehmen."

Zur Unternehmensführung gehören sowohl Programme zur Kosteneinsparung als auch Qualitätskontrollen. Auf Letzteres spezialisiert ist die Bertelsmann-Stiftung, die sich gerne als unabhängige Beratungsinstanz zur Verfügung stellt (siehe unten: "Bertelsmannisierung"). Vom früheren Bildungssenator Böger (SPD) wurde das Angebot der Stiftung angenommen und in einem Kooperationsvertrag die Einführung des Evaluierungsinstrumentariums SEIS (Selbstevaluierung in Schulen) für Berliner Schulen festgelegt. Seither wird an Berliner Schulen evaluiert, was das Zeug hält. Bei den Evaluierungen unerwähnt bleiben jedoch die finanziellen und sozialen Bedingungen, mit denen die Schulen konfrontiert sind. Damit wird ausgeschlossen, dass sich die Ergebnisse der Evaluierungen gegen die politischen Entscheidungsträger wenden. Im Gegenteil, der Druck lastet nun verstärkt auf den Kollegien, die im Zweifelsfall immer die Schuldigen sind, und auf den Schulleitungen. Diese sind angehalten, sich private Sponsoren und Bildungsträger zu suchen, um die bestehenden Finanz- und Bildungsdefizite zu kompensieren. Die Öffnungen zur privaten Wirtschaft und damit zur Kommerzialisierung der Bildung ergeben sich also zwangsläufig. Bezahlen müssen die Eltern und die Beschäftigten, Leidtragende sind die Schüler/innen, die etwas besseres verdient haben als kaputtgesparte Schulen, die zunehmend zu Werbeträgern verkommen.

Kernelemente der "Bertelsmannisierung" im Schulbereich

Auszüge aus einem Thesenpapier von Eberhard Pfleiderer, Lehrer, GEW Bremerhaven:

- "Bertelsmannisierung soll der Oberbegriff für die Rationalisierungs- und Ökonomisierungsoffensive im Schulbereich sein, die seit ca. 15 bis 20 Jahren wesentlich durch die Bertelsmann-Stiftung vorangetrieben wird. Es geht um eine völlig revidierte Arbeitsorganisation auf verschiedenen Ebenen der Schulorganisation durch teilautonome Finanzverwaltung mittels Datensystemen und Kennziffern, Public-Private-Partnership, Ziel-Leistungsvereinbarungen zwischen den Schulen und der Behörde sowie Qualitätsmanagement, alles auf der Grundlage von Sozialtechniken aus der Großindustrie. Bertelsmannisierung bedeutet, die neoliberale Verwaltungsreform auf das Schulwesen anzuwenden.

- Pisa ist nicht der Grund für die Bertelsmannisierung, sondern die Legitimationsformel für einschneidende Maßnahmen in der Öffentlichkeit.

- Die Bildungshaushalte werden zunächst wie alle anderen heruntergefahren, um einen Rationalisierungsdruck zu erzeugen. Jedoch ohne den Druck der Unterfinanzierung wäre es nicht möglich, zunehmend private Finanzierung ins Spiel zu bringen und privaten Geldgebern einen Einfluss zu ermöglichen. Wie auch im Gesundheitswesen und in der Rentenfinanzierung wird auf eine Sockelfinanzierung hingearbeitet. Diese soll das Unternehmen Schule zwingen, die Finanzierungslücke mit Unterstützung von außerstaatlichen Geldgebern zu schließen. (...)

- Qualitätsmanagement ist das Steuerungselement, über das Mehrarbeit eingefordert und die Motivationen des Schulpersonals gesteigert werden soll. Das Bertelsmannsche Evaluationstool SEIS oder andere wurden den Schulen aufgezwungen, um die Selbstrationalisierung durchzuführen. (...)

- Die Evaluationen haben eine weitere Steuerungsfunktion. Mit ihrer Hilfe werden Schulen in Rankings gegeneinander vergleichbar. Schulen, die bei den Tests gut abschneiden, werden verstärkt nachgefragt und können sich ihre Schülerinnen und Schüler aussuchen. Durch die Selektion werden bereits im Kindesalter die gesellschaftlichen Rollen festgeschrieben. Der Blick nach England zeigt, welche verheerenden sozialen Auswirkungen Rankings haben: Die englische Umgangssprache unterscheidet bereits zwischen "star schools" und "sink schools" (Ausguss-Schulen).

- Employability ist der neue Bildungsbegriff, der die Befähigung für das Funktionieren auf dem Arbeitsmarkt in den Mittelpunkt stellt. Schüler/innen werden nicht mehr gebildet, sondern qualifiziert. Dazu dient neben anderen Maßnahmen die Standardisierung von Abschlüssen. (...)

- Für die betroffenen Lehrer/innen bedeuten die zahlreichen Maßnahmen eine Steigerung von Arbeitsumfang und Arbeitsintensität. Der Lohn wird im Verhältnis zum erwarteten Einsatz der Mitarbeiter enorm gesenkt."

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