MieterEcho 325/Dezember 2007: Die weite Welt der Derivate

MieterEcho

MieterEcho 325/Dezember 2007

Quadrat PRIVATISIERUNG

Die weite Welt der Derivate

Um an Geld zu gelangen, gehen verschuldete Städte und Gemeinden immer größere Risiken ein

Christian Linde

Im Düsseldorfer Rathaus ließen die Hausherren am 12. September 2007 die Sektkorken knallen. Anlass war ein historischer Moment. Exakt um 17.15 Uhr sprang die Schulden-Uhr der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt auf Null. Rechnerisch waren zu diesem Zeitpunkt sämtliche Schulden der Rheinmetropole in Höhe von 1,6 Milliarden Euro getilgt. Zur Feier des Tages spendierten die Rathausherren Freibier und Würstchen.

Möglich geworden war die komplette Entschuldung durch die Veräußerung von öffentlichem Eigentum. Allein der Verkauf der Mehrheitsanteile der Stadtwerke und des Stadtbahn-Schienennetzes hatte 1,15 Milliarden Euro in die Kasse gespült. Damit konnten Restkredite abgezahlt werden. "Verglichen mit 1999 sparen wir etwa 100 Millionen Euro Zinsen, und zwar jährlich, die wir damals zur Finanzierung unserer Schulden brauchten", so Oberbürgermeister Joachim Erwin (CDU) stolz gegenüber dem "manager-magazin". Die Stadthistoriker hatten aus gegebenen Anlass ermittelt, dass Düsseldorf zuletzt 1540/41 schuldenfrei war.

Dramatische Finanzlage der Kommunen

Damit ist Düsseldorf nach Dresden die zweite deutsche Großstadt, die den Abbau sämtlicher Schulden vermelden konnte. Im sächsischen Elbflorenz hatte man den gleichen Weg gewählt und im vergangenen Jahr die städtischen Wohnungsbestände vollständig an den ausländischen Investor Fortress verkauft.

Zwar hat sich die Finanzlage vieler Städte im Jahr 2006 durch einen starken Zuwachs der Gewerbesteuereinnahmen leicht verbessert, die Schuldenberge konnten jedoch nicht abgetragen werden. Im Gegenteil: Dramatisch hoch bleiben die Kredite, die von den Kommunen aufgenommen werden müssen, um den Haushalt zu decken. Das geht aus der Jahresprognose der kommunalen Spitzenverbände zur Finanzlage der Städte, Gemeinden und Landkreise hervor, die der Deutsche Städtetag im Februar veröffentlicht hat. "Alarmierend hoch sind nach wie vor die Kassenkredite der Kommunen. Ihr explosionsartiger Anstieg auf 27,6 Milliarden Euro seit dem Jahr 2000 zeigt, dass viele Städte trotz eines strikten Sparkurses nach wie vor nicht in der Lage sind, ihre laufenden Ausgaben aus ihren Einnahmen zu bezahlen", so Christian Uhde, Präsident des Städtetags. Diese Kredite seien "die schlimmsten Schulden", da sie nicht für Zukunftsinvestitionen, sondern für die Erfüllung laufender Zahlungspflichten aufgenommen werden müssten. "Viele Städte überziehen mit riesigen Beträgen ihr Konto", beklagt Uhde. Das Statistische Bundesamt hat die Prognose Ende September durch harte Fakten präzisiert. Danach sind durchschnittlich rund ein Viertel der Haushaltsausgaben der Kommunen nicht gedeckt und das Defizit hat sich auf mittlerweile 29,2 Milliarden Euro erhöht.

Dubiose Finanzgeschäfte als Sanierungsszenario

Vom Bund alleingelassen, stehen Städte und Gemeinden deshalb unter Handlungsdruck. Wo Veräußerungen von öffentlichem Eigentum bereits abgeschlossen oder Verkäufe politisch (noch) nicht durchsetzbar sind, geht man unkonventionelle Wege, um die Schuldenberge in den Griff zu bekommen. Immer häufiger lassen sich die politisch Verantwortlichen auf dubiose Finanzierungsmodelle ein. Mit unabsehbaren Folgen. Hoch im Kurs stehen sogenannte Derivate, die die Kommunen im Schuldenmanagement einsetzen. Der Begriff Derivat kommt vom lateinischen "derivare" und bedeutet "ableiten". Derivate sind folglich Produkte, die sich von anderen Finanzinstrumenten, den Grundgeschäften, ableiten. Sie beziehen sich auf deren künftige Entwicklung, etwa auf den Kurs einer Anleihe oder auf die Zinsen eines Geldmarktpapiers. Da sie kaum kalkulierbaren Schwankungen unterworfen sind, gleichen sie fast einer Wette. Banken bieten Kommunen Derivate in der Erwartung an, damit selbst Geld zu verdienen. Beide Seiten spekulieren also auf eine unterschiedliche Kursentwicklung in der Zukunft. Liegt die Stadt mit ihrer Einschätzung richtig, fließt Geld in die öffentliche Kasse. Schlägt die Spekulation fehl, erhöht sich der Schuldenstand.

Flächendeckendes Phänomen

Zu den gängigsten Derivatgeschäften der Kommunen gehören sogenannte Zinsswaps (Zinstauschgeschäfte): Eine Bank "kauft" der Stadt den Zins zu einem festen Satz über eine mehrjährige Laufzeit ab. Im Gegenzug entrichtet die Stadt der Bank als "Gebühr" in regelmäßigen Abständen einen variablen Zins. Je nachdem, ob dieser an den Stichtagen unter oder über dem vertraglich vereinbarten Satz liegt, macht die Stadt entweder einen Gewinn oder einen Verlust. "Die Banken wetten gegen die Kommunen und die Kommunen gegen die Banken", so beschreibt es Rainer Elschen von der Universität Duisburg-Essen, der sich mit den Spekulationen der Kommunen beschäftigt. "Eigentlich müssten die Kommunen besser sein als die Banken, um in diesem Geschäft wirklich zu gewinnen", aber Sachbearbeiter einer Kommunalverwaltung haben gegen Bänker natürlich keine Chance.

Die Stadt Neuss hat sich auf ein solches Geschäft eingelassen. Doch statt eines Gewinns droht nun ein Verlust in Höhe von 16 Millionen Euro. Auch Mainz verwendet seit nunmehr drei Jahren Zinskontrakte. Der Finanzdezernent hatte zwar zunächst Bedenken angemeldet, aber man hat sich dann doch zum Einsatz von Zinsderivaten entschlossen. Trotz Verlustgeschäfte hat die Stadt diesen Kurs fortgesetzt. Die Finanzverantwortlichen drängen nun sogar auf den Eintritt in langfristigere Engagements. Die Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion von Rheinland-Pfalz hat bisher aufgrund des Risikos lediglich Laufzeiten von bis zu drei Jahren genehmigt.

Essen verzeichnet ein jährliches Haushaltsdefizit von 350 Millionen Euro. Insgesamt schiebt die Stadt einen Schuldenberg in Höhe von insgesamt 1,3 Milliarden Euro vor sich her. Deshalb soll das Spekulieren mit Derivaten zumindest die Zinslast reduzieren. Auch Hagen versucht den auf Pump finanzierten Haushalt durch Derivatgeschäfte zu entlasten. Die Schulden der Stadt im Südosten des Ruhrgebiets belaufen sich auf knapp 710 Millionen Euro. Hagen ist dennoch volles Risiko gegangen und hat nicht nur auf die Entwicklung eines Zinssatzes, sondern gleich auf mehrere Zinstrends und auf hohe Unterschiede zwischen kurz- und langfristigem Zins gesetzt. Der Stadt drohen nach Angaben der Stadtratsfraktion "Bürger für Hagen" aufgrund der Unkündbarkeit der Verträge bereits jetzt Schäden in Höhe von 48 Millionen Euro. Bis zum Jahr 2010 soll der Betrag sogar auf über 100 Millionen Euro steigen. Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der Untreue zulasten der Steuerzahler/innen. Pikant an dem Vorgang ist die Tatsache, dass die Stadt es nicht einmal für erforderlich gehalten hatte, einen unabhängigen Berater hinzuzuziehen. Denn hier fungierte die Deutsche Bank sowohl als Vermittlerin als auch als Beraterin. Die Stadt versucht nun ihrerseits durch eine Klage der drohenden Pleite zu entgehen. Die Liste der Städte und Gemeinden, die sich auf solcherart Risikogeschäfte eingelassen haben, ließe sich beliebig fortsetzen. Von der Öffentlichkeit kaum registriert, weist bisher lediglich der Bund der Steuerzahler auf die Gefahren der alternativen Geldbeschaffungsprogramme hin und stuft diese Finanzprodukte als "hochspekulativ und einer Zinswette vergleichbar" ein. Inzwischen sollen sich Hunderte deutsche Städte auf Zinswetten eingelassen haben. Geschätzter Schaden bis zu einer Milliarde Euro. Genaue Zahlen existieren noch nicht.

Mangelnde Kontrolle durch die Länder

Denn während eine Anleihe der Genehmigungspflicht durch eine Landesbehörde unterliegt, verfügen die Kommunen bei der Schuldenverwaltung über ein erhebliches Maß an Autonomie. In Mainz etwa bedarf ein Derivatgeschäft keiner grundsätzlichen Genehmigung. Es existieren lediglich allgemeine Richtlinien. Auch sind in Sachsen-Anhalt entsprechende Vorschriften für den Einsatz von Derivaten erlassen worden. Allerdings unterliegen die Geschäfte der Kommunen keiner detaillierten Kontrolle durch das Land. Die Verantwortung für diese Risiken liegt bei den Stadtverwaltungen. Experten gehen allerdings davon aus, dass die Kompetenz in den städtischen Finanzabteilungen höchst unterschiedlich ausfällt und die meisten Behörden nicht über das erforderliche Know-how verfügen. Branchenkenner befürchten sogar, dass zahlreiche Kommunen kaum überblicken, welche Risiken Derivatprodukte in sich bergen. "Gewöhnlich raten wir nur dann zum Einsatz von Derivaten, wenn Spezialisten zur Verfügung stehen und angemessene Kontrollen eingerichtet sind", warnt Gerhard Schleif, einer der Geschäftsführer der Deutschland Finanzagentur GmbH, die als bundeseigenes Unternehmen seit 2001 das Großkundengeschäft in der Kreditaufnahme des Bundes führt. Beides ist in zahlreichen Kommunen offenbar nicht der Fall. Vor allem aufgrund der Haushaltskürzungen seien Derivatexperten für viele städtische Finanzabteilungen unerschwinglich.

Experten fordern Gesetzesänderungen

Dass die Bankinstitute dieses Defizit und die Autonomie der Städte und Gemeinden bei deren Schuldenmanagement im Rahmen ihrer "Akquiseaktivitäten" nutzen, versetzte bereits im Jahr 2000 das Finanzministerium in Brandenburg in Alarmbereitschaft. "Von den Geldinstituten werden den Gemeinden und Gemeindeverbänden in letzter Zeit verstärkt sogenannte derivative Finanzierungsinstrumente, insbesondere Zinsderivate, angeboten", warnt das Ministerium in einem Rundschreiben. "Sie dürfen nur der sparsamen und wirtschaftlichen Gestaltung bestehender oder neu einzugehender Verbindlichkeiten dienen und nur zur Optimierung der Kreditkonditionen und zur Begrenzung von Zinsänderungsrisiken abgeschlossen werden. Ein Zinsderivat muss deshalb immer in einem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit einem Basisgeschäft stehen", heißt es mahnend in dem Papier.

Verschuldung erhöht Druck auf Privatisierungsgegner

Ihre Popularität gewannen Derivate in der Zeit konstant steigender Aktienmärkte. Diese Phase gehört längst der Vergangenheit an. Dennoch gibt es mittlerweile rund 200.000 solcher Optionen. In der Studie "Anlagezertifikate im Härtetest", die von der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz in Zusammenarbeit mit dem Institut für Vermögensaufbau im Juli 2007 vorgelegt wurde, wird vor allem Kritik an der mangelnden Transparenz der Derivate geübt. So sei den potenziellen Kunden eine Beurteilung einzelner Produkte kaum möglich. Die Verfasser der Studie fordern deshalb vom Gesetzgeber "klare gesetzliche Vorgaben". Für verschuldete Städte und Gemeinden, die sich am Aktienmarkt verspekuliert haben, kommt diese Forderung zu spät. In Italien hat das Finanzministerium den Risikogeschäften durch die Kommunalverwaltungen bereits 2004 ein Ende gesetzt. Die Stadtverwaltungen unterliegen nun bei Derivatgeschäften bestimmten Beschränkungen. Wirtschaftszeitungen bezifferten seinerzeit das Volumen von Derivattransaktionen auf über zehn Milliarden Euro. Außerdem wurden Vorwürfe laut, wonach Politiker für den Eintritt in entsprechende Geschäfte Schmiergelder erhalten hätten.

Und so wird der Druck auf Privatisierungsgegner immer größer: In den Debatten um Entschuldungsszenarien für die deutschen Kommunen wird den parlamentarischen Verteidigern der öffentlichen Daseinsvorsorge aller Voraussicht nach der Verkauf von öffentlichem Eigentum als alternativloser Ausweg dargestellt werden - jede Wette.

Zurück zum Inhalt MieterEcho Nr. 325