MieterEcho 321/April 2007: Ohne Eigentumswohnung weniger Staatsbürgerrechte

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MieterEcho 321/April 2007

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Ohne Eigentumswohnung weniger Staatsbürgerrechte

Folgen der Totalprivatisierung in Russland

Interview mit Maria Shamaeva

Maria Shamaeva

Maria Shamaeva, 1981 in Sibirien geboren, lebt in Nowosibirsk. Sie unterrichtet Verwaltungswissenschaften und Mediengestaltung und promoviert an der Sibirischen Akademie für öffentliche Verwaltung im Bereich Wohnungswirtschaft.


In Deutschland und auch in Berlin wird die Politik nicht müde, das Hohelied von der Eigentumswohnung zu singen. Zugleich wird privatisiert, was das Zeug hält, und die Wohnungsversorgung marktwirtschaftlich ausgerichtet. Ein Blick über den Tellerrand zeigt, welche Folgen daraus entstehen können. In Russland hat der Wohnungsmarkt seit 1990 eine radikale Veränderung erfahren. Die ehemals staatlich geprägte Wohnungsmarktversorgung wurde fast vollständig privatisiert. Heute herrscht nicht nur ein enormer Wohnungsmangel, sondern die frischgebackenen Eigentümer/innen sehen sich mit ungeahnten Steigerungen der Wohnkosten konfrontiert. Zahlreiche Wohnungssuchende haben keine Chance, überhaupt eine Wohnung zu bekommen. Und wer eine Wohnung hat, lebt oft in beengten Verhältnissen. Die Gebäude selbst verfallen dabei zusehends. Das Wohnen zur Miete wurde soweit an den Rand gedrängt, dass Mieter/innen eine amtliche Meldebestätigung und damit u.a. die Wahlberechtigung versagt wird.

MieterEcho (ME): Die Probleme der Wohnungsversorgung in Russland sind nicht ohne die gesellschaftlichen Veränderungen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu verstehen. Was veränderte sich damals konkret?

Maria Shamaeva (MS): Anfang der 90er Jahre gehörten in Russland zwei Drittel des Wohnungsbestands dem Staat. In Großstädten war der Anteil der staatlichen Wohnungen mit über 90% noch sehr viel größer. Die gesetzlich festgelegten Mieten waren seit 1928 nicht wesentlich geändert worden und betrugen 1990 etwa 2,5% des durchschnittlichen Gehalts. 80 bis 90% der Kostenmiete wurde vom Staat finanziert. Mit dem politischen Umbruch und der marktwirtschaftlichen Orientierung sollte nun auch die zentralstaatlich gesteuerte Wohnungswirtschaft reformiert werden. 1991 bekamen alle Mieter die Möglichkeit, ihre Wohnungen kostenlos zu erwerben. Dadurch sollte die Effizienz der Wohnungswirtschaft steigen und der privatwirtschaftliche Wohnungsmarkt entstehen.

ME: Wie viele Mieter/innen haben sich denn für den Erwerb ihrer Wohnung entschieden und welche Auswirkungen hatte diese Privatisierung?

MS: Von den ehemals 67% staatlichen Wohnungen sind heute nur noch 6% übrig. 22% der Wohnungen gehören den Kommunen - alles andere wurde privatisiert. Die Eigentumsquote ist von knapp einem Drittel auf drei Viertel gestiegen. Wir können also von einer umfassenden, einer Totalprivatisierung sprechen. Die allermeisten Privatisierungen fanden 1992 und 1993 statt, doch einige Nachzügler haben bis heute noch keinen Gebrauch von der Übertragung ihrer Wohnung in Einzeleigentum gemacht. Es waren ursprünglich auch keine Fristen für den Wohnungserwerb vorgesehen. Erst 2005 nannte die Regierung eine Deadline für die kostenlose Privatisierung. Dieser Beschluss hat wieder Dynamik in die Privatisierung gebracht, da viele Mieter/innen noch innerhalb der Frist versuchten, sich ihre Wohnungen übertragen zu lassen. Als Endpunkt der Privatisierung war zunächst der 1. Januar 2007 vorgesehen, doch dieser Termin musste wegen der Überlastung der Ämter auf das Jahr 2010 verschoben werden. Momentan gehören über 70% des Wohnungsbestands Privatpersonen, doch die derzeit hohe Privatisierungsaktivität lässt einen Anstieg auf über 90% erwarten.

ME: Hat sich die Wohnungsversorgung in Russland durch diese Totalprivatisierung verbessert?

MS: Mit der Privatisierung entstand und entwickelte sich zunächst ein Wohnungsmarkt - durch den Weiterverkauf der privatisierten Wohnungen vor allem im Eigentumssektor. Die Zahl der Verkäufe nahm wesentlich zu. Die Erwerber verfügen in der Regel über höhere Kapitalbeträge oder haben durch die Privatisierung einen Einstieg in den Wohnungshandel gefunden. Doch dieser Bereich des Wohnungsmarkts ist nur für Haushalte mit höheren Einkommen zugänglich, denn die Wohnungen sind sehr teuer. In der sibirischen Metropole Nowosibirsk müssen Wohnungssuchende durchschnittlich 1200 Euro/qm bezahlen. Bei Hypothekenzinsen von 12 bis 15% ist das für die meisten Haushalte nicht bezahlbar. Das durchschnittliche Einkommen liegt umgerechnet bei etwa 320 Euro monatlich. Das Mindesteinkommen für einen Wohnungskredit wird von den meisten Banken aber bei 1000 Euro angesetzt.

ME: Diese Bedingungen dürfte ja nur ein kleiner Teil der Wohnungssuchenden erfüllen. Welche Möglichkeiten gibt es denn für die anderen?

MS: Das ist das größte Problem: Durch die Eigentumsorientierung, die mit der Privatisierung durchgesetzt wurde, fehlt es in Russland an einem Mietwohnungsmarkt. Eine im Jahr 2002 durchgeführte Volkszählung ergab, dass nur 3,7% aller Haushalte Russlands in privaten Mietwohnungen leben. Das Mieten einer Wohnung findet dabei entweder zu schwer kontrollierbaren Konditionen und rechtlich unsicheren Bedingungen in der Grauzone der Untervermietung statt oder wird als zeitlich begrenzte Übergangslösung angesehen. Diese Situation und das geringe Angebot verursachen zudem extrem hohe Preise. In Nowosibirsk betragen die monatlichen Mieten auf dem freien Markt etwa 1% des Kaufpreises, das sind sieben bis acht Euro/qm. Preise, die also durchaus vergleichbar sind mit den Mieten in Berlin. Die Mieten sind damit sechs- bis siebenmal höher als die Kostenmieten für Sozialwohnungen bzw. als die Wohnkosten, die Bewohner/innen einer privatisierten Wohnung zahlen müssen. Also ist auch die Mietwohnung für die Durchschnittsbürger/-innen keine wirkliche Alternative. Vor allem ausländische Geschäftsleute, die zeitweilig in Russland arbeiten, oder auch Studierende mit einem begrenzten Aufenthalt in einer Stadt greifen auf Mietwohnungen zurück. Insgesamt hat das Mieten jedoch einen Exotenstatus, für den es praktisch auch keine rechtlichen Rahmenbedingungen gibt. Mietspiegel und Kündigungsschutz sind in Russland nach wie vor Fremdworte. Die mangelnde rechtliche Verankerung der Mietwohnungen zeigt sich auch in der Praxis der Meldebehörden. Nur mit einer ordentlichen Meldebestätigung in einer Stadt erhalten die Bürger ihre vollen Staatsbürgerrechte. Für Mieter/innen gibt es nur eine provisorische Meldebestätigung, weil sie ja in einer "Behelfs- und Übergangslösung" logieren. Wer nur zur Miete wohnt, hat zum Beispiel keine Wahlberechtigung.

ME: Was bleibt Menschen, die sich keine Eigentumswohnung leisten können, denn als Alternative? Gibt es staatliche Förderprogramme oder einen sozialen Wohnungsbau?

MS: Ja schon, aber der soziale Wohnungsbau ist leider nicht besonders wirkungsvoll. Etwa 10% aller Haushalte in Russland stehen auf der Warteliste für Sozialwohnungen. Jährlich werden nur etwa 5% des Bedarfs befriedigt. Die Wartezeit beläuft sich damit auf 15 bis 20 Jahre. Die Zahl der jährlich fertiggestellten Wohnungen erhöhte sich zwar innerhalb der letzten fünf Jahre, liegt aber immer noch deutlich unterhalb der Bauleistung von 1992. Aber das soll sich in den nächsten Jahren ändern, denn die aktuellen Regierungspläne sehen vor, den Neubau von Sozialwohnungen bis 2010 zu verdoppeln und die Wartezeiten für Wohnungen auf fünf bis sieben Jahre zu verkürzen.

Doch der Schwerpunkt der Wohnungspolitik liegt nach wie vor in der Eigentumsförderung. Unter dem pathetischen Namen "Bezahlbares und komfortables Wohnen - den russischen Bürgern" wurde ein Förderprogramm beschlossen. Ziel ist es, mit staatlicher Hilfe möglichst viele Haushalte beim Kauf einer Eigentumswohnung oder eines Eigenheims zu unterstützen. Die Zahl der Darlehen soll auf das Zwanzigfache erhöht und die Hypothekenzinsen sollen auf 8% reduziert werden. Etwa 730.000 Haushalte sollen mit einer direkten staatlichen Unterstützung ihre Wohnverhältnisse verbessern können und Haushalte mit niedrigen Einkommen sollen möglichst schnell Sozialwohnungen zur Verfügung gestellt bekommen. Das Gesamtbudget der ersten Projektphase (2006/2007) beträgt etwa 6,3 Milliarden Euro. Mit Blick auf die hohen Erdölpreise und dem damit verbundenen wirtschaftlichen Aufschwung sind diese Pläne der russischen Regierung durchaus realistisch. Den Mietwohnungsmarkt betreffen sie jedoch nicht.

ME: Die Mehrheit der russischen Haushalte wohnt in Eigentumswohnungen, in den Städten sind das ja meist Mehrfamilienhäuser. Wie werden Reparaturen und Investitionen, die über die einzelnen Wohnungen hinausgehen, organisiert?

MS: Das ist das nächste Problem: Mit der Privatisierung und der Zerstückelung in Einzeleigentum wurde eigentlich kein handhabbares Instrument für die effektive Verwaltung und Pflege der Wohnungsbestände eingerichtet. Trotz der Einzelprivatisierungen, blieben die Wohnungsbestände meist in der Verwaltung der kommunalen Wohnungsunternehmen. Der Wohnungserwerb betraf schließlich nur den Raum zwischen den Wänden.

Noch bis vor Kurzem trugen die kommunalen Wohnungsunternehmen die gesamten Verwaltungskosten und waren auch für Instandhaltungsmaßnahmen und Reparaturen in den Häusern zuständig. Die Kosten wurden jedoch nur zum Teil auf die Bewohner/innen umgelegt. Wie auch in den nicht privatisierten Mietwohnungen wurde nur ein kleiner Teil der tatsächlichen Kostenmiete eingenommen. Die Wohnkosten blieben so lange Zeit sehr niedrig, aber die kommunalen Unternehmen arbeiteten unter wirtschaftlich außerordentlich schlechten Bedingungen. Durch die fehlenden Einnahmen und die drastische Reduzierung staatlicher Fördermittel zu Beginn der 90er Jahre reduzierten die Kommunen nach und nach ihre Aktivitäten in den Wohnungsbeständen. In der Folge verschlechterte sich der sowieso schon desolate Zustand vieler Wohnungen. Wohneigentum ist in Russland alles andere als ein Qualitätsmerkmal für eine gute und schöne Wohnung.

Erst jetzt, nach fünfzehn Jahren Privatisierung, gibt es ernsthafte Bemühungen, diesen Zustand zu verändern. In einem Stufenplan sollen die verdeckten Subventionen in Form der verringerten Kostenmiete zurückgefahren werden. Seit Beginn dieses Jahres sollen eigentlich alle kommunalen Verwaltungen die volle Kostenmiete erheben. Dies stellt die Eigentümer/innen natürlich vor enorm steigende finanzielle Belastungen. Eigentümer/innen in Mehrfamilienhäusern sind darüber hinaus aufgefordert, sogenannte Wohngemeinschaften zu bilden oder eine kommunale oder private Firma mit der Verwaltung des Hauses zu beauftragen. Das Gesetz wurde 2005 beschlossen und sollte eigentlich schon umgesetzt sein. Doch schon die Gründung der Wohngemeinschaften ist noch längst nicht abgeschlossen. Laut Umfragen wissen etwa 40% der Einwohner nicht, dass die Eigentümer eine Wohngemeinschaft gründen dürfen.

ME: Wie sind diese Reformen einzuschätzen? Ist damit eine tatsächliche Verbesserung der Wohnungsqualität zu erwarten?

MS: Die zentralen Probleme des russischen Wohnungsmarkts, also die schlechte Qualität und mangelhafte Bewirtschaftung eines Großteils der ehemals staatlichen Wohnungsbestände sowie die Schwierigkeiten für junge Haushalte, überhaupt eine Wohnung zu finden, werden mit den aktuellen Reformen keineswegs gelöst. Die Privatisierung in Einzeleigentum hat beide Probleme deutlich verschärft und eine Abkehr der Politik von dieser Eigentumsorientierung ist nicht zu erwarten. Was in Russland wirklich fehlt, ist ein breites und preiswertes Mietwohnungsangebot, weil es dort weniger Zugangsschwierigkeiten gibt. Ideen und Vorschläge in diese Richtung spielen in den aktuellen wohnungspolitischen Diskussionen leider nur eine untergeordnete Rolle.

ME: Vielen Dank für das Gespräch

Das Interview führte Andrej Holm.

Nowosibirsk

Nowosibirsk ist die größte Stadt Sibiriens und die drittgrößte Stadt Russlands. Einschließlich der Vororte leben in Nowosibirsk ca. zwei Millionen Menschen. Mit 114 Jahren ist Nowosibirsk vergleichsweise jung. Die Mehrzahl der Wohnungen wurde in den letzten 40 Jahren errichtet. Im Stadtbild ist Nowosibirsk daher deutlich sozialistisch geprägt. Zurzeit werden jährlich etwa 550.000 qm Wohnfläche fertiggestellt, was ca. 2% des Gesamtbestands entspricht.

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