MieterEcho 315/April 2006: Noch vier Jahre bis 2010

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MieterEcho 315/April 2006

 BUCHREZENSION

Noch vier Jahre bis 2010

In ihrem "Schwarzbuch Hartz IV" lotet die Gruppe Agenturschluss die Linien zwischen Armutspolitik und Erwerbslosenwiderstand aus

Christoph Villinger

Ein Jahr Hartz IV - Zeit eine erste Zwischenbilanz zu ziehen. In ihrem im Januar erschienenen "Schwarzbuch Hartz IV" versucht die Gruppe Agenturschluss, eine umfassende Einordnung und Bewertung der Agenda 2010. Der bundesweite Zusammenschluss mehrerer Erwerbsloseninitiativen wirft weniger einen Blick zurück, um zu beweisen, wie schlimm die neuen Gesetze der staatlichen Armutsverwaltung sind. Auf den knapp 200 Seiten richten sie ihren Blick eher nach vorne, auf die Bruchlinien in der durch die Agenda 2010 entstandenen neuen Wirklichkeit. Und sie begeben sich auf die Suche, wo die Widerstandslinien gegen den sozialen Angriff von oben verlaufen können.

Am Anfang steht ein Traum aus dem Jahr 2010: "Die Prüfdienste der Arbeitsämter werden seit Januar 2006 regelmäßig von freundlichen Nachbarn mit einer Kissenschlacht empfangen. Zahnbürsten regnen auf die Sozialschnüffler herab, im Ehebett tummeln sich die Bedarfsgemeinschaften. Zwangsumzüge scheitern, weil der Möbelwagen nicht kommt, denn viele Freunde blockieren die Zufahrten."

Soweit die Träume der Gruppe Agenturschluss im Jahr 2006. Zusammengefunden hatten sie sich im Herbst des Jahres 2004 zur Verhinderung der Hartz IV Gesetze. So organisierten sie am 03.01.2005 Proteste in insgesamt über 80 Orten in der BRD gegen die so genannten Reformen. Im Berliner Wedding kam es z.B. zu einer Blockade des Arbeitsamts in der Müllerstraße durch mehrere hundert Demonstrant/innen. Zwar lösten die Aktionen ein breites Medienecho aus, doch gleichzeitig war die Zahl der Teilnehmer/innen in Relation zur Zahl der von den Hartz IV Gesetzen existenziell betroffenen Menschen ernüchternd. Dies war Anlass genug, die neuen durch die Hartz-IV-Gesetze geschaffenen Wirklichkeiten genauer zu untersuchen. Was passiert da genau? Warum wehren sich so wenig Menschen und suchen stattdessen nur die nächsten Mauselöcher? Wie kann man auf diesem Feld der sozialen Auseinandersetzung "wieder eine explizit linke Antwort entwickeln?", fragen sich die Herausgeber/innen. Wie können Prozesse der Selbstorganisierung innerhalb der Sozialproteste aussehen?

Breit schildern Menschen aus Beratungsstellen vor allem in Nordrhein-Westfalen ihre Erfahrungen aus dem ersten Jahr mit Hartz IV. Wie die Arbeitsagenturen im Frühjahr 2005 vor allem mit der Stabilisierung ihrer neuen Strukturen beschäftigt sind und dann seit dem Sommer zu einer "Verfolgungsbetreuung" übergehen. Aber immer noch richtet sich der Blick der Autor/innen zu sehr auf die Repression, leicht übersehen sie dabei den durchaus erfolgreichen Widerstand von unten. Viele Menschen wehren sich nur wenig gegen die neue Sozialgesetzgebung, aber andererseits wird begonnen, Arbeitslosengeld II (ALG II) als eine Art Grundsicherung zu begreifen. ALG II zu beziehen ist nicht mehr schambesetzt wie früher die Sozialhilfe. Die vielen unabhängigen Beratungsstellen zu Hartz IV leisteten im letzten Jahr erfolgreiche Arbeit: der Arbeitsagentur gelang es nur, etwa 5% statt den geplanten 20% aus dem Leistungsbezug zu werfen. Gleichzeitig kollabierte der Arbeitsmarkt weiter. Dies führte im Herbst 2005 dazu, dass der rot-grünen Regierung die Kosten für Hartz IV völlig aus dem Ruder liefen, von 14,6 Milliarden Euro auf ungefähr 26 Milliarden Euro. Damit war der VW-Manager Peter Hartz mit seinem Projekt gescheitert und wurde von den herrschenden Eliten verstoßen. Der "Stern" sorgte daraufhin mit den Enthüllungen aus seiner Intimsphäre für den gesellschaftlichen Absturz. Seither ist innerhalb der Eliten des Landes die Frage, mit welchem Konzept die Ansprüche von unten auf ein "schönes Leben für alle" eingedämmt werden können, wieder offen.

Mehrere Beiträge im Buch setzen sich differenziert mit den neuen so genannten 1-Euro-Jobs auseinander, auch mit der von vielen Betroffenen spontan geschilderten "Freiwilligkeit". Doch diese "Freiwilligkeit" relativiert sich bei einem längeren Gespräch schnell. Andere Beiträge berichten vom Widerstand gegen "die kapitalistische Deregulierung" in Großbritannien und Frankreich.

Zusätzlich erhält der Band eine Reihe konkreter Tipps und Tricks für Erwerbslose und Hinweise auf die wichtigsten Infoseiten im Internet sowie Beratungsstellen. Und wie inzwischen im Fernsehen üblich, läuft unten auf den Seiten eine Banderole durch das Buch, auf der chronologisch die Ereignisse und Widerstandsaktionen in Erinnerung gerufen werden. Vom August 2002, als die "Arbeitsmarktreformen" erstmals vorgestellt wurden bis hin zu den Aktionen der "Überflüssigen" im November 2005 gegen die Wahl des "Reformers des Jahres" durch den Unternehmerverband Gesamtmetall.

Am Ende des Buches träumt der sozialrevolutionäre Theoretiker Detlef Hartmann aus Köln mal wieder von der "one big union" aller Armen, nicht nur auf ein Land beschränkt, sondern ihre "weltweite Sprengkraft aus der Gleichzeitigkeit von Migration und Globalisierung" gewinnend. Er hat ja Recht, aber man kann es auch weniger pathetisch ausdrücken. Die Gesetze rund um das ALG II schaffen in einer inzwischen sehr individualisierten kapitalistischen Gesellschaft wie in der BRD für etwa fünf Millionen Menschen wieder vergleichbare soziale Bedingungen. So haben die 'oben' unfreiwillig eine der Grundvoraussetzungen geschaffen, damit die 'unten' gemeinsam kämpfen und sich neu als "kollektives Subjekt" erleben können.

Schwarzbuch Hartz IV

Hg.: Agenturschluss
Verlag Assoziation A
11 Euro
188 Seiten
ISBN 3-935936-51-6

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