MieterEcho 312/Oktober 2005: Wohnen wie vor 100 Jahren

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MieterEcho 312/Oktober 2005

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Wohnen wie vor 100 Jahren

Eindrücke aus Baku, der aserbaidschanischen Ölmetropole am Kaspischen Meer

Hermann Werle

Gemeinsam mit Armenien und Georgien wurde Aserbaidschan im Juni 2004 in die Nachbarschaftspolitik der EU einbezogen. Mit diesem Schritt wird die verstärkte Integration der Kaukasusstaaten in den europäischen Wirtschaftsraum angestrebt. Konzerne wie BP oder Siemens (letzterer konnte im August einen Auftrag im Wert von 260 Mio. Euro begrüßen) profitieren von vielfältigen Investitionsanreizen durch diese Politik. Soziale Sicherungssysteme sind jedoch nicht vorgesehen.

"Alt von Geburt an und doch noch gealtert, bilden scheußliche Häuser Spalier auf den Wegen, die zu den Erdölfeldern von Baku führen. Häuser? Kaum Hütten sind das! Ein unregelmäßiges Stück Erde, von Wänden aus Holz und Teig jämmerlich umfriedet, mit zwei Löchern an Fensterstatt, steht in einer Pfütze brauner Jauche, ein Dach ist des Landes nicht der Brauch, windschief die Grundmauern, Giebel oft mit der Hand erreichbar. So hatten die reichsten Leute der Welt die Arbeiter der reichsten Stadt untergebracht!" Mit diesen Worten beschreibt der "rasende Reporter" Egon Erwin Kisch die Wohnverhältnisse der Arbeiter in der Hauptstadt Aserbaidschans zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der Zeit des ersten großen Ölbooms in Baku. Wie dem Reisebericht Kischs zu entnehmen ist, änderte sich die Situation erst mit der Machtübernahme der Bolschewiki: "Jetzt sind auf den Hügeln, die bei Bibi-Eybat den See umrahmen, 25 große Wohngebäude aufgeführt, 3000 Häuser und Baracken remontiert worden. Die Straßenbahn ist elektrisch, die Fahrt von und zur Arbeitsstätte, wie überall in der Sowjetunion, unentgeltlich."

Neue Abhängigkeit

An alte Zeiten erinnern die vielen Grünanlagen und die Strandpromenade Bakus, die der Bevölkerung noch heute als Orte der Entspannung und Zerstreuung dienen. Kinder fahren Karussell oder essen Eis aus großen Waffelhörnchen, junge - und weniger junge Männer - messen ihre Kräfte am "Hau den Lukas", junge Paare passieren die Promenade in geschmückten Kutschen, lassen sich fotografieren oder knutschen an verborgenen Plätzen. Doch diese heile Welt kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit der Unabhängigkeitserklärung vom 30.08.1991 die ökonomische Basis Aserbaidschans zusammengebrochen ist. Allerorten finden sich Industriebrachen und verrottende Plattenbauten, die vergeblich auf eine Sanierung warten. Der auf die Erfordernisse der Sowjetunion ausgerichteten Landwirtschaft und breit gefächerten Industrie fehlten nun die traditionellen Handelspartner, so dass die Mehrzahl der Betriebe stillgelegt wurde. Verstärkt wurde die Krise durch den Krieg gegen Armenien um Berg-Karabach, der bis heute nur durch den Waffenstillstandsvertrag vom Mai 1994 eingedämmt ist. Über 800.000 aserbaidschanische Flüchtlinge aus Armenien und dem armenisch besetzten Karabach leben bis heute unter teilweise widrigsten Wohn- und Lebensumständen. Unter der Regierung Haidar Aliews trat seit 1993 eine Phase der politischen Stabilisierung und ökonomischen Neuausrichtung ein. Letztere ist einerseits auf die Situation nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und andererseits auf die Begehrlichkeiten der westlichen Industrienationen auf die Erdöl- und Gasressourcen zurückzuführen. Geopolitisch gelang es Aliew, dem früheren KGB- und KP-Funktionär, den Einfluss der USA auf Kosten Russlands in der Region zu stärken, ohne den russischen Nachbarn völlig zu missachten. Der Preis für die Anbindung an den Westen ist eine neuerliche Abhängigkeit insbesondere von westlichem Kapital und Technologietransfer.

Gewerkschaft gegen BP

Mit Abstand das größte Investitionsvorhaben stellt die 1768 km lange Ölpipeline dar, deren Kurzbezeichnung "BTC" auf den Verlauf von Baku über Tiflis (Georgien) nach Ceyhan (Türkei) verweist. Unter Umgehung russischen Territoriums soll ab Ende des Jahres der aserbaidschanische Ölschatz auf diesem Wege über das Mittelmeer auf den Weltmarkt gelangen. Hauptbetreiber des Geschäfts ist der britische Ölkonzern BP, der von dem 1994 geschlossenen "Jahrhundertvertrag" profitiert, in dem der aserbaidschanische Staat unter der Führung Aliews den Zugang zu seinen Ressourcen für ausländisches Kapital öffnete - natürlich nicht ohne eigene Vorteile. Mit der staatlichen Ölgesellschaft SOCAR, die zweitgrößter Anteilseigner im BTC-Konsortium ist, verdienen auch die betuchten (Regierungs- und Familien-) Kreise Aserbaidschans an der Ausplünderung der natürlichen und menschlichen Ressourcen. Der Kampf gegen Korruption und Bestechung ist eines der Hauptarbeitsfelder des Komitees zur Verteidigung der Rechte der Ölarbeiter (OWRPC), der einzigen vom Staat und BP unabhängigen Gewerkschaft im Land, so deren Vorsitzende Mirvary Gahramanly. Zwar gebe es durch die Verfassung garantierte Arbeitsrechte, diese würden aber vielfältig unterlaufen. In einem Bericht des OWRPC an die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) vom Juni 2005 werden diverse Fälle von Korruption und Verletzungen von Arbeitsrechten aufgelistet, die vom BP-Konzern zu verantworten sind. "Diskriminierung einheimischer Arbeiter, Missachtung der Sicherheit am Arbeitsplatz, Verhinderung der Organisierung der Arbeiter" seien alarmierende Probleme und die Bank wird aufgefordert, diese Vorfälle zu untersuchen und den weiteren Verlauf des Ölprojekts genauer zu beobachten. Eine Antwort der Bank, die verschiedene Öl- und Erdgasprojekte in Aserbaidschan mit mehreren Hundert Millionen Euro mitfinanziert, lag bis August noch nicht vor, was Mirvary Gahramanly nicht verwundert: "Bisher hat die Bank immer hinter den Interessen von BP gestanden."

Wohnung mit Meeresblick

Ganz im Kontrast zu den gewerkschaftlichen Erfahrungen heißt es im EBWE Jahresbericht 2004: "Ziel der Initiative ist es, die Armut in diesen Ländern (des Kaukasus, H.W.) auf nachhaltiger Grundlage anzugehen, und zwar durch Vermehrung der Investitionen und durch die Unterstützung der laufenden Reformen. (...) Die Initiative schafft die Grundlage für eine rechenschaftspflichtige Regierung und zielt darauf ab, dass die gesamte Bevölkerung Aserbaidschans von den gewaltigen Bodenschätzen des Landes profitieren kann."

Dass Wirtschaftswachstum und Rekordgewinne der Konzerne nicht zu verwechseln sind mit allgemeiner Wohlstandsmehrung, müssen also nicht nur die Menschen in den westlichen Industrienationen erfahren. Das Ausbleiben einer dramatischen sozialen Krise ist in Aserbaidschan bislang lediglich dem Umstand zu danken, dass rund 2 Mio. Arbeitsmigranten in Russland, bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 8,5 Mio., mit regelmäßigen Überweisungen das Überleben ihrer Familien sichern.

Ein Teil der Gewinne aus dem Ölgeschäft, so sie denn nicht ins Ausland transferiert werden, findet sich wieder in einem gewaltigen Bauboom, der Baku seit zehn Jahren erfasst hat und an Berliner Erfahrungen erinnert. Es drängt sich unweigerlich die Frage auf: Wer soll dort wohnen? Die einzige Erklärung ortskundiger Gesprächspartner ist jene - und auch das erinnert an Berlin -, dass es sich um Spekulations- und Geldwäscheprojekte handelt. Ein Blick in den englischsprachigen Zeitungsmarkt belegt umgehend, dass der neugeschaffene Wohnraum lediglich für eine ausgewählte Kundschaft erschwinglich ist. Eine vollmöblierte Zwei-Zimmer-Wohnung "mit Panorama-Meeresblick" und "allen BP-Sicherheitsstandards" kann für 1400 (US-)$ pro Monat angemietet werden, drei Räume kosten bereits 2000 $. Bei einem durchschnittlichen Verdienst, der 2004 nach offiziellen Angaben bei 98 $ lag, wobei Ölarbeiter mit 100 bis 500 $ zu den Spitzenverdienern gehören, zeigt sich die soziale Kluft, die sich seit 1991 herausgebildet hat.

Für einige wenige gibt es Panorama-Meeresblick und BP-Sicherheitsstandard, die Mehrzahl der Bevölkerung hat nur Zugang zu verfallenden Plattenbauten oder Baracken mit Blick auf Ölpfützen und verrostete Bohrtürme in Nachbarschaft zu den Flüchtlingen aus Karabach. So bringen die reichsten Leute der Welt die Menschen der reichsten Stadt Aserbaidschans unter, kann in Analogie der Reportagen Egon Erwin Kischs resümiert werden. EU-Nachbarschaftspolitik, Entwicklungsprojekte der EBWE und auch die am 06.11.2005 anstehenden Präsidentschaftswahlen versprechen keine Besserung.

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