MieterEcho 310/Juni 2005: Ausstellung Zuwanderung im Kreuzberg Museum

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MieterEcho 310/Juni 2005

 BERLIN

"... ein jeder nach seiner Façon?"

Eine Ausstellung über die Geschichte der Zuwanderung in das Gebiet des heutigen Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg im Kreuzberg Museum

Christoph Villinger

Links und rechts der "Orangenstraße", der heutigen Oranienstraße, siedelten sich vor 300 Jahren die ersten "Kreuzberger" an, rund 1000 Hugenotten aus Frankreich. Ihnen folgten Flüchtlinge und Migrant/innen aus allen Ländern der Welt. Angefangen von den hugenottischen und böhmischen Glaubensflüchtlingen im 18. Jahrhundert über die Arbeitsmigrant/innen aus Schlesien und der Türkei im letzten Jahrhundert bis hin zu den Kriegsflüchtlingen und Asylsuchenden unserer Tage. Nicht zu vergessen die Zuwanderung seit den 1960er Jahren aus Süddeutschland. Zum Teil finanziell gelockt von der Berlinzulage, zum Teil um der Bundeswehr zu entkommen, stellen Süddeutsche heute einen bedeutenden Teil der Kreuzberger Bevölkerung.

Man solle endlich wegkommen von der "Defizitdiskussion rund um Migrant/innen", forderte Bezirksbürgermeisterin Cornelia Reinauer (PDS) bei der Eröffnungsfeier der neuen Dauerausstellung des Kreuzberg-Museums. Viel spannender sei es, den Blick darauf zu richten, wie die jeweils neuen Kreuzberger/innen "gemeinsam diesen Bezirk neu gestalten", so Reinauer. Sie selbst stammt von der schwäbischen Alb und kam Anfang der 1970er Jahre nach Berlin. In einem in der Ausstellung zu hörenden Interview erzählt sie, wie sie zum einen aus Lust auf Großstadt und zum anderen weil sie im Süden keine angemessene Arbeit fand nach "Weschdberlin" kam. Fünf der sechs Repräsentanten des Bezirksamts stammen nicht aus Berlin.

Auch abseits der Politik finden sich süddeutsche 'Institutionen' wie etwa die Aschinger-Bierhallen: Sie gelten zwar als "urtypisch-berlinerische Lokale" für den schnellen Hunger und Durst, sind aber eine Gründung der Brüder Karl und August Aschinger aus dem schwäbischen Oberderdingen.

Die Ausstellung bleibt auf der beschreibenden Ebene. "Wir wollen den Besucher/innen Material anbieten, dies aber nicht schon fertig vorkauen", sagt dazu der Museumsleiter Martin Duespohl. Ihm geht es darum, "Migration als normalen Prozess darzustellen".

So schildert die Ausstellung auf großen Tafeln die Wege der Hugenotten und Böhmen nach Berlin. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts sprach rund ein Viertel der Berliner Bevölkerung französisch, der Adel sowieso und viele weitere ein Gemisch aus Polnisch und schlesischem Deutsch. Erst allmählich setzten die Preußen Deutsch als Umgangssprache durch. Mit der Industrialisierung Berlins begann der Zuzug aus Osteuropa und viele Migrant/innen landeten in den Wohnquartieren rund um den Görlitzer und Schlesischen Bahnhof (heute Ostbahnhof). Den so genannten Ostjuden und den russischen Bürgerkriegsflüchtlingen in den 1920er Jahren folgten im Zweiten Weltkrieg die Zwangsarbeiter/innen. Für sie gab es 400 Unterkünfte allein im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg.

In den Jahren nach dem Krieg zogen die deutschen Flüchtlinge aus dem Osten durch Kreuzberg. Ab 1964 begann die "moderne" Arbeitsmigration, in Westberlin vor allem aus der Türkei auf Grund der Arbeitsplätze in der Elektro- und Textilindustrie. Wegen der für Türken offenen Grenzen nach Ostberlin folgten bald viele Familienangehörige nach.

In der bei der Warschauer Brücke gelegenen Glühlampenfabrik VEB Narva arbeiteten etliche der 60.000 Vietnames/innen, die in der DDR als Vertragsarbeiter/innen beschäftigt waren.

Seit Beginn der 1980er Jahre kamen viele Flüchtlinge aus Polen nach Kreuzberg, aus ideologischen Gründen lehnten die Westberliner Behörden damals kaum einen Asylantrag ab. Nicht zu vergessen sind auch die Übersiedler/innen aus der DDR.

Nach dem Fall der Mauer kamen Flüchtlinge aus aller Welt, insbesondere aus dem ehemaligen Jugoslawien, nach Kreuzberg.

Doch so hoch wie die Zuwanderungsquote ist auch die Abwanderungsquote, zum Teil weil viele der in Kreuzberg Ankommenden nicht lange bleiben. Früher ging es oft weiter nach Amerika - heute hingegen gehen viele Migrant/innen zurück in das Herkunftsland. Auch möchten Türk/innen das "Ghetto" verlassen und in die "besseren" Bezirke wie Charlottenburg und Wilmersdorf ziehen.

Und der gebildete Mittelstand möchte nach wilden Jahren in Kreuzberg die Kinder lieber im grünen Umland Berlins aufziehen.

Einmal in jeder Generation, statistisch alle 30 Jahre, tauscht sich die Kreuzberger Bevölkerung komplett aus. In die leeren Wohnungen ziehen dann wieder die nächsten Migrant/innen auf der Suche nach einem glücklichen Leben.

Die immer größere Anzahl von schwarzafrikanischen Läden in und um die Oranienstraße sind die Vorboten der nächsten Einwanderergruppe. Vom Nigerianischen Club und dem "Sunugaal" der Senegalesen in der Oranienstraße bis hin zu den afrikanischen Schmuckläden in der Dresdener Straße reichen die Neueröffnungen. Ihnen gegenüber sieht dann die türkische Änderungsschneiderei schon wie das "eigentliche Kreuzberg" aus.

Ausstellung

"… ein jeder nach seiner Façon? - 300 Jahre Zuwanderung nach Kreuzberg und Friedrichshain". Die neue Ausstellung im Kreuzberg Museum in der Adalbertstraße 95a, 10999 Berlin, vorerst bis zum Jahresende, Mittwoch bis Sonntag von 12 bis 18 Uhr. Weitere Infos unter http://www.kreuzbergmuseum.de

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