MieterEcho 310/Juni 2005: Pleite hat Konjunktur

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MieterEcho 310/Juni 2005

 SOZIALES

Pleite hat Konjunktur

In Berlin steigt die Zahl der Schuldner/innen durch privaten Konsum, gescheiterten Existenzgründungen und Wohneigentum

Christian Linde

Auch in Berlin stecken immer mehr Privathaushalte in der Schuldenfalle. Die Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung, ein Zusammenschluss der 20 Berliner Schuldnerberatungsstellen, registrierte 2004 insgesamt 10.744 Klient/innen mit fast 480 Mio. Euro Verbindlichkeiten. Im Vorjahr waren es noch 9157 Personen mit insgesamt 458 Mio. Euro Schulden. Der Anteil der Beratungsgespräche stieg von 13.570 im Jahr 2003 auf 15.707 im Jahr 2004.

Dies ist allerdings nur die Spitze des Eisbergs, denn nach Angaben der Expert/innen gibt es insgesamt 170.000 überschuldete Haushalte in der Hauptstadt. Obwohl ein erheblicher Bedarf besteht, wendet sich aber nicht einmal jeder zehnte Betroffene an eine Beratungsstelle.

Arbeitslosigkeit ist Hauptgrund für Überschuldung

Vor allem die Gruppe der Konsumschuldner/innen wächst rasant an. Ganz oben auf der Schuldenliste stehen Ratenkredite, Versandhausrechnungen und überzogene Konten. Auch sind Haushalte zunehmend nicht mehr in der Lage, ihre Kosten für Energie- und Wasserversorgung zu begleichen. Wie schon im Jahr 2003 hat die Bewag auch im Jahr 2004 rund 25.000 Kunden den Strom abgestellt. Bei der Gasag erhöhte sich die Zahl im gleichen Zeitraum von 1500 auf 3600 Haushalte. Die Berliner Wasserbetriebe verhängten im zurückliegenden Jahr 469 Sperren gegen Eigenheimbesitzer.

Als Hauptursache für die prekäre finanzielle Situation wird von den Schuldnerberater/innen Arbeitslosigkeit angeführt. Wer Verbindlichkeiten abtragen muss und in dieser Zeit von Jobverlust betroffen ist, gerät schnell von der Verschuldung in die Überschuldung. Die Situation verschärft sich, weil anscheinend viele der Betroffenen nicht zu einer angemessenen Haushaltsführung in der Lage sind. "Unsere Berater nehmen einhellig wahr, dass der Bedarf für Haushaltsberatung anwächst. Immer mehr Menschen kommen mit dem verfügbaren Einkommen nicht mehr aus und brauchen Hilfestellung dabei, im Rahmen des begrenzten finanziellen Spielraums zu wirtschaften." Deshalb geht das Hilfeangebot weit über die Frage der Regulierung der Schulden hinaus", sagt Sven Gärtner, Leiter der Beratungsstelle "Neue Armut" im Bezirk Neukölln. Neben der Existenzsicherung beinhaltet das Angebot auch rechtliche und psychosoziale Aspekte. "Überschuldung ist nicht nur ein einzelnes, finanzielles Problem, sondern zieht vielfach soziale und psychische Probleme nach sich. Um den sozialen Abstieg aufzuhalten, müssen Probleme wie etwa Sucht gleichermaßen in die Beratung einbezogen werden", betont Gärtner. "Wir wollen vor allem das Selbsthilfepotenzial der Betroffenen stärken."

Tabelle Primärschulden
Jeder vierte Klient ist Immobilienschuldner

Zwar stellen die Verbraucher mit Schulden auf Grund von privatem Konsum mit zwei Dritteln nach wie vor die größte Gruppe, in den Wartezimmern der Beratungsstellen sitzen jedoch immer häufiger gescheiterte Existenzgründer/innen. Durchschnittlich 92.810 Euro Schulden weist ein aus der Selbstständigkeit in die Schuldenfalle geratener Haushalt auf. Hinzu kommen immer mehr Haushalte, die Schulden aus der Finanzierung meist selbst genutzter Eigenheime und Wohnungen angehäuft haben. "Der Wunsch nach den eigenen vier Wänden verstellt oft den Blick für das finanziell Machbare. In vielen Fällen war der Wechsel von einer Mietwohnung in eine Eigentumswohnung von vornherein zum Scheitern verurteilt", sagt Claus Richter, Leiter der Landesarbeitsgemeinschaft Schuldner- und Insolvenzberatung Berlin (LAG SIB). Ursache hierfür seien häufig abenteuerliche Finanzierungen mit überteuerten "Schrottimmobilien" als Steuersparmodelle, bei denen die finanziellen Desaster vorprogrammiert sind. Wird die Immobilie durch eine Zwangsversteigerung veräußert, verlieren die Betroffenen die Wohnung, der Schuldenberg bleibt ihnen jedoch erhalten. Denn der daraus erzielte "Gewinn" beträgt auf Grund des Überangebots durchschnittlich gerade einmal ein Viertel des ursprünglichen Kaufpreises. Allein die Wohnungseigentümer, die den Weg in eine Beratungsstelle gefunden haben, sitzen derzeit auf einem Schuldenberg von über 112 Mio. Euro (s. Tabelle links). Im Jahr 2004 war jeder vierte Klient einer Beratungsstelle Immobilienschuldner.

Tabelle Immobilienschulden
Anstieg der Verbraucherinsolvenzen

Insbesondere das Instrument des Verbraucherinsolvenzgesetzes ermöglicht es, dass die Schuldner nicht mehr bis an ihr Lebensende auf ihrem Schuldenberg sitzen bleiben müssen. Das Gesetz, das seit dem 01.01.1999 in Kraft ist, sieht vor, dass auch Privathaushalte Insolvenz anmelden können. Damit können Familien und Einpersonenhaushalte, die nach alter Rechtsprechung bis zu dreißig Jahre vom Gerichtsvollzieher verfolgt werden konnten, einen neuen Anfang machen. Danach ist der Schuldner nach sieben Jahren entschuldet, wenn in dem zurückliegenden Zeitraum nachweislich alle Anstrengungen unternommen worden sind, eine Schuldentilgung zu erreichen.

Nach Auskunft des Statistischen Landesamts stieg im Jahr 2004 die Zahl der überschuldeten Haushalte, die ein Insolvenzverfahren beantragt haben, von 1521 (2003) um 44% auf 2200 an. Mehr als 2100 Insolvenzverfahren wurden von den Amtsgerichten eröffnet. Dies bedeutet eine Steigerung von 46% gegenüber dem Vorjahr. Die Summe der voraussichtlichen Forderungen der Gläubiger nahm gegenüber dem Vorjahr um gut ein Fünftel zu und erreichte insgesamt 163,4 Mio. Euro. Damit fallen auf jedes Verfahren einer Verbraucherinsolvenz etwa 74.000 Euro. Die Bezirke mit den meisten Insolvenzen waren Neukölln (13,7%), Lichtenberg (12,6%) und Marzahn-Hellersdorf (12,3%). Am niedrigsten lag der Anteil in Friedrichshain-Kreuzberg (5%) und Mitte (6%).

Tabelle Verbraucherinsolvenzen
Lange Wartezeiten begünstigen private "Schuldenregulierer"

Überschattet wird der Versuch, den Schritt aus der Schuldenfalle zu vollziehen, von den Praktiken kommerzieller "Schuldenregulierer". Zwar verfügen diese weder über eine Erlaubnis nach dem Rechtsberatungsgesetz, noch sind sie als so genannte geeignete Stellen im Verbraucherinsolvenzverfahren anerkannt. Dennoch fallen zahllose Überschuldete den privaten Firmen zum Opfer. Dies hat zur Folge, dass der Schuldenberg der Betroffenen weiter wächst. Für ihre Dienstleistungen verlangen die Betreiber Gebühren und Honorare in einer Größenordnung zwischen 300 und 1200 Euro. "Die Dienstleistungen sind für den geschädigten Haushalt völlig wertlos", warnt Sven Gärtner. Die Anbieter locken vor allem mit dem Argument der Soforthilfe. Immerhin muss ein Rat Suchender in einer seriösen Schuldnerberatungsstelle derzeit durchschnittlich sechs Monate auf einen Beratungstermin warten. Einige Beratungsstellen haben Wartezeiten von bis zu einem Jahr.

Nicht nur in Berlin gehen Experten von einem erheblichen Anstieg der Betrugsfälle im Bereich der Schuldenregulierung und Umschuldung aus. Bundesweit beziffern die Ermittlungsbehörden die Zahl der Geschädigten auf über 65.000 Personen. Dabei wird von einer weitaus höheren Dunkelziffer ausgegangen. Nach übereinstimmender Auffassung von Ermittlern kommen auf eine Strafanzeige durchschnittlich rund 150 weitere Geschädigte, die aus Unkenntnis, Scham oder Angst keinerlei zivil- oder strafrechtliche Schritte einleiten. Vor allem durch eine aggressive Werbestrategie knüpfen unseriöse "Schuldnerberater" Kontakt zu ihren Opfern. Das vorherrschende Werbeinstrument sind Direktschreiben an Personen, die eine Eidesstattliche Versicherung abgelegt haben. Das Netz der unseriösen "Schuldenregulierer" ist international gespannt. Allein in Neukölln sind derzeit neun Betreiber aktiv, die nicht nur aus dem Bundesgebiet, sondern auch aus der Schweiz und Liechtenstein agieren. "Zu vermuten ist, dass die Betreiber über rechtswidrige Zugriffsmöglichkeiten auf Schuldnerlisten, etwa der Schuldnerverzeichnisordnung, verfügen", sagt Sven Gärtner. "In Einzelfällen lagen die Schadenssummen zwischen 2000 und 6000 Euro", heißt es im Jahresbericht der "Neuen Armut". Weil unseriöse Finanzdienstleister versuchen, aus der finanziellen Not von Schuldnern noch Kapital zu schlagen, fordern Experten verstärkte Aktivitäten im Bereich der Prävention. "Das Thema muss in die Schulen", verlangt die Landesarbeitsgemeinschaft Schuldner- und Insolvenzberatung in Berlin. Zwar habe der Senat in den vergangenen Jahren Anstrengungen unternommen, um die Angebotssituation zu verbessern, jedoch schränkt der LAG-Vorsitzende Claus Richter ein: "Es reicht aber immer noch nicht aus. Je kürzer die Wartezeiten für die Betroffenen sind, umso größer ist die Chance, den unseriösen ‚Schuldenregulierern' das Handwerk zu legen. Unterm Strich rechnet sich das auch für den Landeshaushalt."

Einspareffekte für die öffentlichen Haushalte

Investitionen in die Schuldner- und Insolvenzberatung würden sogar zu einer spürbaren Entlastung der öffentlichen Haushalte führen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Untersuchung der Evangelischen Fachhochschule in Berlin. Danach ergibt sich der wirtschaftliche Nutzen aus vermiedenen Aufwendungen, insbesondere für Sozialhilfeleistungen und Gerichtskosten beim Insolvenzverfahren. Die Auswertung der insgesamt 150 Beratungsfälle aus vier Berliner Hilfeeinrichtungen in Charlottenburg-Wilmersdorf, Lichtenberg-Hohenschönhausen, Pankow und Reinickendorf hat ergeben, dass auf Grund außergerichtlicher Einigungen mit den Gläubigern durch die Hilfestellung der Berater nicht nur der Gang zum Insolvenzrichter entfallen ist. Auch die Erwerbstätigkeit der Betroffenen konnte erhalten, das Einkommen aus selbstständiger Arbeit gesichert oder die Aufnahme einer neuen Beschäftigung erreicht werden.

Einsparvolumen von 14 Mio. Euro

Hochgerechnet auf die im Untersuchungszeitraum insgesamt 4399 landesweit abgeschlossenen und untersuchten Beratungsfälle ergibt sich nach Schätzungen von Marianne Meinhold, Verfasserin der Studie, bei 5 Mio. Euro Zuschüsse für sämtliche Beratungsstellen ein Einsparvolumen von 14 Mio. Euro. Auch wenn die Unterschiede zwischen einzelnen Bezirken etwa hinsichtlich des Anteils erwerbstätiger Überschuldeter beträchtlich sein dürften, geht Meinhold davon aus, dass sich die Ergebnisse auf sämtliche Beratungsstellen übertragen lassen. Mehr noch: "Wir sind davon überzeugt, dass bei einer systematischen Erfassung aller Einspareffekte ein wesentlich höherer Einspareffekt nachzuweisen wäre", so Marianne Meinhold.

Adressen Schuldnerberatung

Weitere Informationen zu Schuldner- und Insolvenzberatung sowie Adressen der anerkannten und seriösen Beratungsstellen im Internet:

Sie können auch die Adressen bei den Bürgerämtern Ihres Bezirks erfragen.

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