MieterEcho 310/Juni 2005: Die Überschuldung boomt

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MieterEcho 310/Juni 2005

 SOZIALES

Die Überschuldung boomt

Arbeitslosigkeit und Einkommensarmut zieht immer mehr private Haushalte in den Schuldenstrudel

Christian Linde

Das Risiko sich zu überschulden wird in Deutschland immer größer. Die Hauptursache hierfür bleibt nach wie vor die Arbeitslosigkeit oder der Arbeitsplatzverlust. Kritische Lebensereignisse wie Krankheit oder Trennung vom Partner führen ebenfalls häufig zu einem Missverhältnis von Einnahmen und Ausgaben bei privaten Haushalten.

Der jüngst vorgelegte 2. Reichtums- und Armutsbericht der Bundesregierung (MieterEcho Nr. 309 berichtete), der sich über den Erhebungszeitraum von 1998 und 2002 erstreckt, beziffert für das Jahr 2002 bundesweit 3,13 Mio. private Haushalte, die überschuldet waren. Das macht rund 8% aller Haushalte in Deutschland aus. Zwischen 1999 und 2002 hat sich ihre Zahl von 2,77 Mio. um 13% erhöht. In den neuen Ländern lag der Anteil bei 11,3%, im früheren Bundesgebiet bei 7,2%. Der Datenreport 2004 des Bundesamts für Statistik kommt zu vergleichbaren Größenordnungen. Die Ermittlung basiert auf einem Indikatorenmodell, das die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen, die Konsumentenkredite, die Kreditkündigungen, die Zahl der eidesstattlichen Versicherungen, die Mietschulden und die Klientenstatistik der Schuldnerberatungsstellen berücksichtigt. Ein Teil der überschuldeten Haushalte befand sich danach bereits beim Eingehen der Zahlungsverpflichtungen in instabilen ökonomischen Verhältnissen.

Erwerbstätige Mittelschicht betroffen

Betroffen sind zwar vorrangig marginalisierte Bevölkerungsgruppen, Überschuldung erreicht jedoch zusehends auch die Mittelschicht. So bildete im früheren Bundesgebiet bei immerhin 47% der Hilfesuchenden in Schuldnerberatungsstellen das eigene Erwerbseinkommen die Haupteinkommensquelle. In den neuen Ländern waren 43% der Betroffenen Bezieher von Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosenhilfe.

In den meisten Fällen gehörten Kreditinstitute zu den Gläubigern (bei 71% im früheren Bundesgebiet und 68% in den neuen Ländern), gefolgt von Versandhäusern (42% bzw. 41%), Behörden (40% bzw. 47%) und Versicherungen (30% bzw. 25 %). Schulden bei Telefongesellschaften gingen im früheren Bundesgebiet mit 24% im Vergleich zu 1999 mit 27%) leicht zurück. Im Unterschied zu den alten Bundesländern stiegen in den neuen Ländern die Schulden bei Telefonanbietern seit 1999 von 25% auf 32% an. Mit 32% stellten auch Mietschulden in Ostdeutschland immer noch ein größeres Problem dar als im früheren Bundesgebiet (18%). In den neuen Ländern hatten 52% der Klienten von Beratungsstellen "Verbindlichkeiten" unter 10.000 Euro, im früheren Bundesgebiet waren es 22%. Dagegen standen in den neuen Ländern 15%, in den alten Bundesländern aber 25% mit über 50.000 Euro in der Kreide. Eine Befragung des Instituts für Jugendforschung kam im Jahr 2003 zu dem Ergebnis, dass bereits 6% der Kinder und Heranwachsenden (in der Altersgruppe der 13- bis 17-Jährigen) mit einer durchschnittlichen Schuldenhöhe von 370 Euro belastet sind.

Arm trotz Arbeit

Führt der Bericht der Bundesregierung die Ursache für den Umfang der Armutsrisikogruppe von elf Mio. Haushalten auf den fehlenden Zugang zu Bildung, Ausbildung, Arbeitsmarkt und die mangelnde Versorgung mit Kindertagesstätten zurück, wird der Schritt von der Verschuldung in die Überschuldung - das heißt, zahlungsunfähig zu sein - insbesondere für erwerbstätige Menschen, seit Ende der 1990er Jahre durch einen alarmierenden Trend verstärkt: Ein geringes Einkommen aus Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt.

Eine Langzeituntersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg, die Mitte März veröffentlicht wur-de, kommt zu dem Schluss, dass die Ausdehnung des Billiglohnsektors für immer mehr Arbeitnehmer zur "Armutsfalle" wird. So ist bereits zwischen 1996 und 2001 (für diesen Zeitraum liegen gesicherte Daten vor) der Anteil der Niedriglohnbezieher/innen in Deutschland um knapp 200.000 auf rund 3,63 Mio. angestiegen. Damit gehörte 2001 mehr als ein Sechstel aller Vollzeit-Beschäftigten zu den Geringverdienern.

Ein Niedriglohn liegt laut OECD und EU dann vor, wenn die Höhe des Verdienstes eines Beschäftigten bei zwei Drittel des nationalen Medianlohns liegt. Die Vollzeit-Niedriglohnschwelle lag demnach 2001, umgerechnet auf ein Bruttomonatsgehalt, im Westen bei rund 1700 Euro und in Gesamtdeutschland bei 1630 Euro inklusive Weihnachts- oder Urlaubsgeld.

Ein überdurchschnittliches Risiko, in den Niedriglohnsektor zu geraten, tragen Frauen. Sie stellten 2001 nur knapp 35% aller Vollzeitbeschäftigten, aber 57% der Niedriglohnverdiener/innen. Überrepräsentiert waren auch Beschäftigte in Ostdeutschland. Dennoch wurde die Mehrzahl der Geringverdiener/innen mit knapp zwei Dritteln in den alten Bundesländern gezählt. Obwohl Geringqualifizierte das höchste Risiko tragen, hat laut Statistik des Nürnberger Instituts die Mehrheit der Geringverdiener/innen eine abgeschlossene Berufsausbildung. Angesiedelt waren die Jobs insbesondere in Kleinbetrieben, im Dienstleistungsbereich und im Handel.

Die Chance, in tariforientierte Bezahlung aufzusteigen, ist nach Einschätzung der Wissenschaftler dramatisch gesunken. So hat im Erhebungszeitraum lediglich ein knappes Drittel (32,5%) den Sprung über die Niedriglohnschwelle geschafft. Laut Vorgängerstudie gelang es im Zeitraum zwischen 1986 und 1991 in Westdeutschland noch über die Hälfte der Billigjobber/innen, die auch nach 1991 noch vollzeitbeschäftigt waren, wieder in reguläre Bezahlung zu kommen.

Besonders prekär ist die Lage in Ostdeutschland, wo der Anteil der Arbeitnehmer/innen, denen zwischen 1996 und 2001 eine Rückkehr in normalbezahlte Arbeit ermöglicht wurde, nicht nur um fünf Prozentpunkte niedriger lag, sondern das Verdienstniveau für Vollzeitbeschäftigte nur 71% des westdeutschen Durchschnitts betrug. Um aus dem Armutsstrudel von Geringverdienst und drohender Arbeitslosigkeit herauszukommen setzt nach den Untersuchungsergebnissen der Arbeitsmarktforscher drei Dinge voraus: Mann sein, im Westen arbeiten und mobil sein. "Von den Betriebswechslern schafften 40,4% den Sprung über die Niedriglohnschwelle, dagegen nur 31,5% derjenigen, die im selben Betrieb verbleiben", sagt Thomas Rhein, einer der Ersteller der Studie. "Wenn der beobachtete Trend anhält, dass immer mehr Beschäftigte in der Niedriglohnfalle festsitzen, steht zu befürchten, dass auch ihr Armutsrisiko dauerhaft steigt", so Rhein.

Geschäfte mit der Armut

Schuldnerberatungsstellen, regionale Untersuchungen zur Arbeitslosigkeit sowie Daten der SCHUFA Holding AG zu Zahlungsstörungen und Zahlungsausfällen diagnostizieren ebenfalls einen engen Zusammenhang zwischen Einkommensarmut und Überschuldung. So könnten Probleme mit der Haushaltsführung und der Umgang mit externen Anforderungen z.B. von Behörden, Vermietern, Banken etc. den Überschuldungsprozess auslösen oder verstärken. Doch die erforderliche Markt-, Produkt- und Verfahrenskenntnis, um eigenständig finanzielle Risiken abzuwägen, sei nicht spezifisch armutsprekären Haushalten zuzuordnen. Vielmehr trügen Banken durch ihr Geschäftsgebaren erhebliche Verantwortung im Prozess der Schuldenstrudel ihrer Kunden. "Aus Sicht der meisten Finanzdienstleister lohnt es sich nicht, bei armutsprekären Haushalten personalintensive Finanzdienstleistungen mit geringem Volumen anzubieten, sodass die Betroffenen häufig nur standardisierte Finanzprodukte vorfinden". Bei der Überschuldung infolge von Bürgschaftsverpflichtungen etwa geben laut der "Initiative bürgschaftsgeschädigte Frauen" 80% der Beratenen an, unzureichend über die Bedingungen und Folgen der Bürgschaftsübernahme aufgeklärt worden zu sein.

Prävention kein Ziel

Anstatt auf rechtlicher Ebene Einfluss auf die Finanzdienstleister in Bezug auf ihr Verhalten gegenüber den privaten Verbrauchern zu nehmen - immerhin sind die Klienten der Schuldnerberatungsstellen am häufigsten bei Kreditinstituten verschuldet - setzt die Bundesregierung beim Abbau der Schuldenberge auch zukünftig ganz auf das 1999 geschaffene Instrument des Verbraucherinsolvenzgesetzes. So sei die Zahl der Entschuldungsverfahren von 1634 im Jahr 1999 auf 32.131 Fälle im Jahr 2003 angestiegen. In der Folge sank nach einjähriger Beratung der Anteil der überschuldeten Privathaushalte, deren Mitglieder keiner Berufstätigkeit nachgingen, von 49,6% auf 39,2%. Der Anteil der überschuldeten Menschen, die den Weg in gesicherte Arbeitsverhältnisse fanden, erhöhte sich sogar von 27,7% auf 46,0%. "Auf struktureller Ebene nimmt die Schuldnerberatung in diesem Prozess eine Schlüsselrolle ein", resümiert der Bericht der Bundesregierung. Dem Ziel, Überschuldung durch bessere Beratung entgegenzuwirken, steht allerdings die Feststellung entgegen, wonach "die Finanzierungsproblematik der Schuldnerberatungsstellen durch Mittelkürzungen in einzelnen Bundesländern verschärft wird. Die ohnehin nicht ausreichende Kapazität an Schuldnerberatung, die sich in den Jahren 2003/2004 weiter reduziert hat, bietet unseriösen und am Rande der Legalität arbeitenden Anbietern von Schuldenregulierung und Kreditvermittlung eine Grundlage für Geschäfte mit der Armut."

Armutsrisikoquote

Für die Ermittlung der Armutsrisikoquote hat das Bundessozialministerium im Reichtums- und Armutsbericht die Personen herangezogen, die über weniger als 60% des mittleren Nettoäquivalenzeinkommens in den entwickelten Industrieländern verfügen. Die so errechnete Armutsrisikogrenze liegt demnach bei 938 Euro netto pro Monat.

Überschuldung

Überschuldung liegt vor, wenn Einkommen und Vermögen eines Haushalts über einen längeren Zeitraum trotz Reduzierung des Lebensstandards nicht ausreichen, um fällige Forderungen zu begleichen.

Medianlohn

50% der Beschäftigten verdienen mehr, 50% weniger als den Medianlohn. Der Medianlohn entspricht somit nicht dem arithmetischen Durchschnitt.

Überschuldung

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