MieterEcho 308/Februar 2005: Kündigung nach 60 Jahren

MieterEcho

MieterEcho 308/Februar 2005

 TITEL

Gekündigt nach fast 60 Jahren Mietzeit

Verfolgte des Naziregimes soll ihre GAGFAH-Wohnung räumen

Peter Nowak

"Der Mieter ist unser Kunde", lautete das Motto über einer Presseerklärung der Fortress Investment Group. Das international tätige Unternehmen hatte damals gerade den Zuschlag für den Erwerb der Gemeinnützigen Aktien-Gesellschaft für Angestellten-Heimstätten (GAGFAH) bekommen.

Frau Dora Dick allerdings kann über das Motto nur bitter lachen. Anfang Januar erhielt sie von dem gleichen Unternehmen die "fristlose Kündigung wegen nachhaltiger Störung des Hausfriedens". In dem an sie und ihren in einer anderen Wohnung lebenden Sohn adressierten Schreiben wurde die Mieterin aufgefordert, ihre Wohnung bis zum 21.01.2005 zu räumen. Mittlerweile wurde von der GAGFAH noch eine fristgemäße Kündigung nachgeschoben, nach der Frau Dick bis Oktober 2005 Zeit hat, ihre Wohnung zu räumen. Nun ist Dora Dick 93 Jahre alt und lebt seit 58 Jahren in der jetzt gekündigten Wohnung in Berlin-Zehlendorf. Ihr war die Wohnung 1947 von der Britischen Militärverwaltung zugewiesen worden. Die GAGFAH-Siedlung war während der Nazizeit von SS-Funktionären bewohnt und deshalb für die damaligen Verhältnisse gut ausgestattet. Nachdem die Nazifunktionäre geflohen waren, standen die Wohnung zunächst leer. Auf Anordnung der Alliierten sollten dort Opfer des Naziregimes einziehen.

Von der Naziverfolgten...

Dazu gehörte Frau Dick. Als Jüdin und Kommunistin war sie doppelt verfolgt. Der größte Teil ihrer Verwandtschaft wurde von den Nazis ermordet. Nach einer gefahrvollen Flucht durch verschiedene europäische Länder konnte sie sich in Großbritannien niederlassen. Im britischen Exil war sie politisch und kulturell in der antifaschistischen Opposition aktiv. Gemeinsam mit dem Maler Oskar Kokoschka und dem Schriftsteller Stefan Zweig gründete sie den Free German League of Culture in Great Britain, der zum Vorläufer des Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands wurde. Wie viele Emigranten kehrte sie nach der Zerschlagung des Naziregimes mit der Hoffnung in ihre Heimat zurück, am Aufbau einer antifaschistischen Gesellschaft in Deutschland mitwirken zu können. Diesem Ziel verpflichtet war Frau Dick bis ins hohe Alter noch politisch aktiv. Frau Dick gehört also zu den wenigen noch lebenden Zeitzeug/innen, die zurzeit - 60 Jahre nach dem Ende des Naziregimes - so viel zitiert werden. Doch davon bekam die alte Frau wenig mit. Altersbedingt hat ihre Sehkraft in den letzten Jahren rapide abgenommen. Außerdem plagt sie natürlich jetzt die Angst um ihre Wohnung. Schließlich lag die Kündigung am 17.01.2005, genau zehn Tage vor dem Gedenktag für die Naziopfer in ihrem Briefkasten, wie ihr Sohn, der Theaterregisseur Antonin Dick bitter anmerkte.

...zum Opfer von Vermieterwillkür

"Für eine Frau in ihrem Alter könnte der plötzliche Verlust ihrer Wohnung und die mögliche Heimeinweisung ein Todesurteil bedeuten", befürchtet Antonin Dick. Es ist schon bezeichnend, dass der biografische Hintergrund von Frau Dick, obwohl der GAGFAH bekannt, mit keinem Wort erwähnt wird. Es ist eine Sache, Zeitzeugen in Sonntagsreden zu zitieren oder sich dafür einzusetzen, dass sie besonderen Schutz beispielsweise vor Kündigungen erhalten. Doch Antonin Dick hat den Einigungsvertrag von 1990 noch einmal genau studiert. Der stellt klar, dass die Bestimmungen über die Sicherung der rechtlichen Stellung der anerkannten Verfolgten des Naziregimes vom 05.10.1949 weiterhin ihre rechtliche Gültigkeit besitzen. Demnach wäre der Mietvertrag von Frau Dick ein Vertrag auf Lebenszeit. Es wird interessant zu beobachten sein, ob sich deutsche Gerichte dieser Rechtsauffassung anschließen.

Unverständliches Verhalten der GAGFAH

Doch über diese biografische Ebene hinaus, hat die Angelegenheit auch eine eminent sozialpolitische Dimension. Natürlich ist der GAGFAH das Alter und die Wohndauer der gekündigten Mieterin bekannt. Doch die GAGFAH verhält sich so, wie es in vielen Bereichen der neoliberalen Marktwirtschaft vorexerziert wird. Jugendlichkeit ist verkaufsfördernd, aber das Alter mit all seinen Begleiterscheinungen höchstens ein Werbethema für Kuren, Heime und Bestattungsunternehmen. Unter diesem Gesichtspunkt bekommt natürlich das Motto "der Mieter ist unser Kunde" eine erschreckend neue Dimension. Denn die Frau Dick vorgeworfene "Störung des Hausfriedens" bezog sich auf "Verunreinigung des Treppenhauses durch Kot und Urin" und "Lärmbelästigung durch lautes Schreien zur Nachtzeit". In ihrem Widerspruchsschreiben an die GAGFAH erklärt Frau Dick, dass die auf ihren altersbedingten Gebrechen basierenden Kündigungen rechtswidrig sind, weil die GAGFAH nicht "alle Umstände des Einzelfalls (...) berücksichtigt". So habe Frau Dick auf eigene Kosten den Fußboden in ihrer Wohnung erneuert, um die Geruchsbelästigung zu minimieren. Selbst auf den Weg zum Briefkasten will Frau Dick künftig verzichten, um eine Verschmutzung des Treppenhauses wegen altersbedingter Inkontinenz zu vermeiden. Außerdem macht Frau Dick in dem Schreiben darauf aufmerksam, dass sie von einem ambulanten Pflegedienst betreut wird, der auch für die Reinigung der Wohnung zuständig ist. Um das traumabedingte laute Schreien in der Nacht zu minimieren, nimmt Frau Dick ein Beruhigungsmittel zur Gewährleistung der durchgehenden Nachtruhe ein. Zudem wird ein Feuerwehreinsatz als weiterer Kündigungsgrund von der GAGFAH genannt. Doch dabei handelte es sich um einen Fehlalarm "in gutem Glauben", wie die Feuerwehr in ihrem Einsatzbericht schrieb. Eine Nachbarin hatte die Feuerwehr gerufen und behauptet, Frau Dick sei in einen Unfall verwickelt. Dabei hatte sie sich gestört gefühlt, weil Frau Dick mit ihrem Sohn telefonierte und zu laut sprach. Frau Dick versteht nicht, warum die Nachbarin sie nicht einfach selbst angesprochen hat. Noch weniger aber versteht sie das Verhalten der GAGFAH. "Es tut mir leid, dass ich überlebt habe", schrieb sie an den Verantwortlichen der Wohnungsbaugesellschaft. Antonin Dick fragt sich noch weiter: "Was wäre mit meiner Mutter geschehen, wenn sie keine Angehörigen hätte? Wie viele alte Leute landen so in Heimen, ohne sich wehren zu können?"

Waldsiedlung Krumme Lanke

Die Waldsiedlung Krumme Lanke, in der Frau Dick wohnt, wurde von der GAGFAH als "SS-Kameradschaftssiedlung Berlin-Zehlendorf an der Krummen Lanke" 1938-40 gebaut. Das damalige, von SS-Führer Heinrich Himmler erklärte Ziel war, "für die drei SS-Hauptämter in Berlin eine geschlossene Siedlungsanlage zu schaffen, in der die Angehörigen der SS ausreichenden und gesunden Wohnraum finden, der insbesondere den Aufstieg der Familien zu fördern geeignet ist." 700 Wohneinheiten befinden sich in Geschossbauten (für die Mannschaften), Reihenhäusern (für die Unteroffiziere) und Einfamilienhäusern (für die Offiziere). Alle Gebäude entsprechen dem konservativen Heimatstil, sowohl städtebaulich (z.B. zentraler Platz als Dorfanger) als auch architektonisch (steile Dächer, Fensterläden).
Nach Kriegsende ordneten die Alliierten an, dass nur Opfer des Naziregimes einziehen durften: Häftlinge der Lager und Zuchthäuser, Widerstandskämpfer, ausgebombte Nazigegner, jüdische Illegale und politische Emigranten.
Die Waldsiedlung Krumme Lanke befindet sich westlich der Waldsiedlung Zehlendorf (Onkel Toms Hütte), einer der großen Reformwohnungssiedlungen der GEHAG, die zwischen 1926 und 1932 entstand.

Die GAGFAH

1918 wurde die Gemeinnützige Aktien-Gesellschaft für Angestellten-Heimstätten gegründet. Mit 82.000 Wohnungen im eigenen Bestand ist die GAGFAH die viertgrößte Wohnungsgesellschaft der BRD. Mitte Juni 2004 übernahm der US-Beteiligungsfonds Fortress die GAGFAH von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) für 2,1 Mrd. Euro.

Zurück zum Inhalt MieterEcho Nr. 308