MieterEcho

MieterEcho 307/Dezember 2004

quadrat Titel

Soziale Wohnraumversorgung in den USA

Pflichten statt Rechte im Neoliberalismus

Volker Eick

Im Herbst 2004 lässt zum einen die Bundesregierung über den Verteiler ihres Bundespresseamts verbreiten, niemand müsse damit rechnen, als Arbeitslosengeld II-Empfänger/in die derzeitige Wohnung durch Hartz IV kurzfristig zu verlieren. Zum anderen werden jedoch die Fragen, wo und ab wann mit Hartz IV-bedingten Umzügen zu rechnen ist, auf wissenschaftlichen Fachtagungen von Wohnungsexpert/innen und Vertreter/innen von Wohnungsverwaltungen, wenn auch noch verhalten, erörtert.

Bei diesen Diskussionen wird nicht etwa ideologisch lamentiert, sondern mit dem stummen Zwang der Verhältnisse argumentiert: Wenn erst einmal detailliert die Daten über Wohnflächen und Hilfeempfänger/innen zur Verfügung stünden, sei abzusehen, wann die ersten Kommunalverwaltungen so stark unter finanziellen Druck gerieten, dass ihnen gar nichts anderes übrig bliebe. Demnach sei eine Entwicklung bereits absehbar: Insbesondere diejenigen Kommunen, die schon bisher besonders rigide gegen Sozialhilfeempfänger/innen vorgegangen sind, werden die neuen Spielräume nutzen. Und weil der Bund die finanzielle Verantwortung mit dem Ende des Sozialen Wohnungsbaus und der Einführung von Hartz IV für die Wohnungsversorgung weitgehend abgegeben hat, werden mittelfristig alle anderen Kommunen nachziehen. Arbeit und Wohnen werden wieder enger miteinander verzahnt werden. In den USA, die diesbezüglich auf eine längere Geschichte zurückblicken können, sind die Folgen einer solchen Strategie bereits anschaulich zu besichtigen.

Aufbau eines Sozialen Wohnungsbaus in den USA ...

Auch in den USA gibt es durchaus Sozialen Wohnungsbau - und dies schon seit dem Ersten Weltkrieg. Es wurden kleinere Bundesprogramme für spezifische örtliche Bedürfnisse aufgelegt und vor allem Unterkünfte für die Arbeiter in den Rüstungsfabriken gebaut. Bis 1937 ging es von staatlicher Seite nicht darum, insgesamt das Angebot an günstigem Wohnraum zu erhöhen, sondern die jeweilige Politik mit solchen Programmen zu unterstützen. Vor allem karitativ-kirchliche Organisationen waren in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg aktiv und sie verbanden ihre Wohnungsbauaktivitäten stets mit dem Anspruch, die armen Bevölkerungsschichten nicht nur mit Wohnungen, sondern auch mit Verhaltensregeln zu versorgen. Insofern waren mit Wohnraumversorgung immer strikte Verhaltensregeln hinsichtlich Sexualität, Alkohol und Arbeitsdisziplin verbunden. Wie wir sehen werden, ein Modell, das sich heute staatlicherseits großer Beliebtheit erfreut. Insgesamt hielt sich in Politik und Wohnungswirtschaft jedoch (bis heute) die Auffassung, dass Sozialer Wohnungsbau eine "sozialistische Bedrohung" und daher des Teufels sei.

Erst mit der lang andauernden Wirtschaftskrise, die auch die US-amerikanische weiße Mittelklasse verarmen ließ, wurde 1937 ein Wohnungsbaugesetz, der Housing Act, verabschiedet, das landesweit den Bau von 170.000 Sozialwohnungen ermöglichte, von denen, wie Peter Marcuse schreibt, 30% für Rüstungsarbeiter/innen vorgesehen waren. Wie stark der Widerstand gegen solcherlei Aktivitäten dennoch war, lässt sich etwa daran ablesen, dass die Wohnungsindustrie durchsetzen konnte, dass parallel schlechterer Wohnungsbestand in gleicher Größe abgerissen werden sollte, um einen unfairen Wettbewerb zwischen Privatwirtschaft und Staat zu verhindern, wie es hieß. Selbst der Abriss der Wohnungen für die Rüstungsarbeiter/innen nach Kriegsende wurde gefordert. Ein 1949 aufgelegtes Reformpaket des Housing Acts ermöglichte es der Wohnungswirtschaft nicht nur, die Zahl neu zu bauender Wohnungen zu begrenzen. Vielmehr wurden nur noch Ein-Familien-Häuser subventioniert und mussten an den Stadträndern gebaut werden; im Gegenzug mussten dafür - auch baulich und sozial intakte - Innenstadtquartiere abgerissen werden. Der Sozialwissenschaftler Arnold Hirsch bezeichnete dieses Reformpaket daher als "Negro removal" - als die Vertreibung der Schwarzen aus den Innenstädten in die später hochproblematischen Hochhaussiedlungen.

Obwohl dann infolge des 1968er Housing Acts die höchste Zahl von Sozialwohnungen in der Geschichte der USA gebaut wurde, war auch dieses Programm begrenzt. Immerhin, wenn auch im Vergleich zu Westeuropa ein kleines Programm, wurden öffentliche Gelder in erheblichem Umfang zur Reduzierung der Wohnkosten ausgegeben, damit für mehr finanzielle Ressourcen in den Geldbeuteln der ärmeren Mieter/innen gesorgt und schließlich auch die Massennachfrage und -kaufkraft in den USA gestärkt - mithin das, was gemeinhin als keynesianische Politik bezeichnet wird. Ausdruck davon war nicht zuletzt, dass das US-Bundesministerium für Wohnen und Stadtentwicklung (HUD) stark an Einfluss gewonnen und sowohl als Behörde wie auch in finanzieller Hinsicht eine gewichtige Institution geworden war.

... und seine systematische Beseitigung

Was in etwa 40 Jahren an Sozialem Wohnungsbau aufgebaut worden war, ist seit 1973 - beginnend unter Präsident Nixon und seinem Moratorium, der Soziale Wohnungsbau sei insgesamt zu teuer - wieder weitgehend zerschlagen worden. Beginnend unter Nixon wurde die öffentliche Förderung ebenso zurückgefahren wie sich die Bundesregierung in Washington aus der Verantwortung für die Wohnraumversorgung mehr und mehr zurückzog - ein Prozess, der sich die gesamten 1980er Jahre fortsetzte, seinen ersten Höhepunkt und eine ganz spezifische Neuausrichtung in den 1990er Jahren mit dem so genannten HOPE VI-Programm1 fand. Wurden bisher vor allem der Soziale Wohnungsbau nur zurückgedrängt, der Einfluss der Behörde begrenzt und ihre Mittel reduziert - also eine Roll-back-Politik eingeleitet -, wurden mit HOPE VI die verbleibenden Mittel nun parallel genutzt, um gezielt Selbstverantwortung der Mieter/innen, so genannten Unternehmergeist und private Regulierung zu stärken (also eine Roll-out-Politik betrieben). Es ist sicher nicht übertrieben, diese Politik als eine systematische Einführung neoliberaler Elemente auch in der Wohnungspolitik zu beschreiben. Zunächst werden die bestehenden Strukturen, die auf - zumindest partielle - Umverteilung von oben nach unten, auf Nachfragestärkung und Partizipation setzten, zerschlagen, um dann die Angebotsstärkung, Profitorientierung und Selbstverantwortung auszubauen. Vermeintliches und tatsächliches Staatsversagen, angebliche Marktverzerrung durch öffentliche Förderung und der angeblich "sozialistische" Charakter wurden als Argumentationen ins Feld geführt.

Das Zurückdrängen der Nachfrageorientierung und das Ausweiten der profitorientierten Angebotslogik - wenn man so die Politik des US-Neoliberalismus eines Roll-back und Roll-out übersetzen möchte - hatte dabei im Wesentlichen folgende Komponenten: Das HOPE VI-Programm nutzte den Großteil seiner Mittel, um nunmehr den Abriss von Sozialwohnungen und die Privatisierung des öffentlichen Wohnungsbestands zu subventionieren (seit 1993 wurden so ca. 77.000 Wohnungen abgerissen). In einem Unterabschnitt des Gesetzes wurde zudem privaten Hausbesitzern die Differenz zwischen aktueller Marktmiete und 30% des tatsächlichen Einkommens der Mieter/innen erstattet, also der ihm ansonsten entgangene Profit subventioniert. Offiziell geschah dies (und tatsächlich sparte der Bund Mittel ein), um die Ausgaben zu reduzieren, aber es wurde auch das Ziel verfolgt, die private Wohnungswirtschaft für das nunmehr profitträchtigere Wohnungsgeschäft zu interessieren. Weiter wurde 1986 ein Steuerprogramm aufgelegt, mit dem denjenigen zu günstigsten Konditionen Steuerersparnisse angeboten wurden, die Substandard-Wohnungen errichteten.

Wohnhaft und Arbeitspflicht

Ergänzend wurden den Mieter/innen ihre Wohnungen subventioniert zum Kauf angeboten, doch war der Zustand der Wohnungen in der Regel so schlecht, dass auch weitere Bemühungen unter den Präsidenten Reagan und Bush senior, insbesondere die ärmsten Haushalte zum Kauf zu motivieren, weitgehend scheiterten. Das Programm nämlich sah keineswegs vor, armen Mieter/innen eine Möglichkeit zu verschaffen, irgendwo günstig Wohnraum zu erwerben, sie sollten ihre derzeitigen Wohnungen kaufen. Insgesamt sind also die Parallelen zum bundesrepublikanischen (und, wie man vor allem ergänzen kann, zum britischen) Modell bei allen Unterschieden recht augenfällig.

Schließlich - und dies insbesondere mit Blick auf die Verknüpfung von Arbeitslosigkeit und Wohnraumversorgung - betreibt das US-amerikanische Modell des Sozialen Wohnungsbaus noch eine besonders rigide Form der Disziplinierung seiner Mieter/innen. Um endlich die erwerbslosen und sozialhilfeempfangenden Mieter/innen loszuwerden, so die Logik, müssen diese "um jeden Preis" an den Arbeitsmarkt herangeführt - oder eben aus den Sozialwohnungen heraus gedrängt - werden. Drei Modelle sind vor allem in den vergangenen zehn bis 15 Jahren dafür entwickelt worden: Unter Reagan wurden Mitte der 1980er Jahre im Rahmen des Projekts "Selbstversorgung" 10.000 allein erziehende Mütter finanziell bei der Aufnahme einer Beschäftigung unterstützt, um sie, wie es hieß, ökonomisch unabhängig zu machen. Unter Präsident Bush senior wurden 1989 im Programm "Operation Bootstrap"2 weitere 3000 Alleinerziehende einbezogen, die berufliche und schulische Trainingsmaßnahmen besuchen oder eine Beschäftigung aufnehmen und dafür mit leichten Vergünstigungen belohnt werden sollten. Doch vor allem fehlende Unterstützungsleistungen (Kinderversorgung, Anbindung an den öffentlichen Verkehr, familiäre Gewalt, Drogenprobleme etc.) ließen diese Programme meist ins Leere laufen. Erst mit dem Jahr 1998 wurde dann unter Clinton ein Programm aktiviert, das das Recht auf eine Sozialwohnung mit der Verpflichtung zur Arbeit verband. Dieses Quality Housing and Work Responsibility Act genannte Programm verbindet seitdem das Anrecht auf Wohnraum im Sozialen Wohnungsbau mit der Pflicht, unentgeltlich für die Kommune zu arbeiten, bietet den lokalen Wohnungsbehörden die Möglichkeit, sich die erwünschten Mieter/innen auszusuchen und gibt weiter den Behörden das Recht, mit einer ganzen Palette von Gründen Mieter/innen aus ihren Wohnungen zu vertreiben. Schließlich gibt es den öffentlichen Verwaltungen auch die Erlaubnis, solche Entscheidungen an private Firmen zu delegieren, die seitdem im Auftrag der Sozialwohnungsbehörden tätig sind.

"Ein Fehler und das war's"

Das US-Ministerium für Wohnungsbau und Stadtentwicklung hat für die Vertreibung von Mieter/innen eigens ein Programm entwickelt: das so genannte One-Strike-Law, welches besagt "one strike and you're out", was man mit "ein Fehler und das war's" übersetzen kann. Es gibt den Behörden das Recht, jede/n Mieter/in aus der Wohnung zu werfen, wenn ein/e Mitbewohner/in, ob verwandt oder nicht, eine Straftat begeht. Ob dies in der Wohnung, auf dem Gelände der Wohnungsgesellschaft oder außerhalb geschieht, spielt dabei keine Rolle. Ein Urteil des Obersten Gerichts bestätigte kürzlich diese Praxis, die fristlose Kündigungen nach diesem neuen Sozialwohnungsrecht möglich macht. So erging es beispielsweise William Lee (71) und Barbara Hill (61). Die beiden hatten eigentlich geplant, den Lebensabend in ihrer etwas außerhalb des Stadtzentrums gelegenen Sozialwohnung zu verbringen. Daraus wurde jedoch nichts, obwohl sie sich selbst keines Fehlverhaltens schuldig gemacht hatten, denn in diesem Fall war der Enkel von Lee und Hill Marihuana rauchend von der Polizei auf einem angrenzenden Spielplatz aufgegriffen worden. Ein 63-jähriger Rentner verlor ebenfalls seine Wohnung, weil seine geistig verwirrte Tochter drei Blocks von der gemeinsamen Wohnung entfernt beim Kokaingenuss erwischt wurde. Keine Einzelfälle, denn mittlerweile verlieren in den USA landesweit Mieter/innen ihre Wohnungen, ohne dass sie sich selbst strafbar gemacht hätten. Diese rigiden Maßnahmen sind Teil des neuen Sozialwohnungsverständnisses in den USA, das als Beitrag zur Modernisierung und gesteigerten Selbstverantwortung gepriesen wird, aber direkt in der Obdachlosigkeit in den gegenwärtig vom Neoliberalismus gekennzeichneten US-amerikanischen Städten enden kann, aber, wie wir in einer der nächsten Ausgaben zeigen werden, nicht muss - wenn Mieter/innen sich organisieren und Protest und Widerstand entwickeln.

1 Die USA-Regierungen sind für ihre Vorliebe für (sarkastische) Abkürzungen bekannt. Während HOPE für "Homeownership and Opportunity for People Everywhere" steht, werden bspw. die angeblich auf Terrorbekämpfung zielenden Gesetze nach dem 11.09.2001 mit PATRIOT abgekürzt.

2 Ein "Bootstrap" ist die Schlaufe an einem Schuh oder Stiefel, die das Ausziehen erleichtern soll. Die englische Redewendung, dass man "sich selbst an seiner eigenen Stiefelschlaufe hochzieht" bedeutet, dass man sich selbst aus eigener Kraft aus etwas befreit.

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