MieterEcho

MieterEcho 306/Oktober 2004

 TITEL

Fördern, fordern oder fallen lassen?

Beschäftigungspolitik und Nonprofit-Organisationen in Berlin und Los Angeles - ein Vergleich

Volker Eick, Britta Grell, Margit Mayer und Jens Sambale

Was haben eine Selbsthilfeinitiative hispanischer Frauen in East Los Angeles, eine katholische Einrichtung für Jugendliche in South Central, eine ehemalige betriebliche Auffanggesellschaft in Berlin-Marzahn und ein aus der Hausbesetzerbewegung in Berlin-Kreuzberg hervorgegangenes Ausbildungsprojekt gemeinsam? Auf den ersten Blick wenig. Tatsächlich gehören sie jedoch zu der wachsenden Anzahl von so genannten Nonprofit-Organisationen (Nonprofits), die auf beiden Seiten des Atlantiks eine wichtige Säule der Infrastruktur zur Beschäftigungsförderung bilden.

Entstanden aus unterschiedlichen sozialpolitischen Zusammenhängen, haben sich viele gemeinnützige Einrichtungen, Stadtteilinitiativen und Vereine in Europa und den USA während der letzten beiden Jahrzehnte der schwierigen Aufgabe verschrieben, für Langzeitarbeitslose, Jugendliche ohne Schulabschluss oder "benachteiligte" Gruppen wie Migrant/innen Bildungs- oder Arbeitsmöglichkeiten zu erschließen. Dies tun sie, trotz ihrer häufig begrenzten materiellen Ressourcen und der Herausforderungen durch zunehmende soziale Ausgrenzung und Verarmung inmitten westlichen Wohlstands, mit großem Engagement und beachtlicher Professionalität.

Was passiert aber mit beschäftigungs- und sozialpolitischen Projekten, wenn sich Zielsetzungen und Anforderungen staatlicher Förderpolitik - wie in den letzten Jahren geschehen - verschieben? Wenn die Leistungen gemeinnütziger Beschäftigungsinitiativen nur noch daran gemessen werden, ob sie in der Lage sind, möglichst kostengünstig und schnell so viele Erwerbslose wie möglich in den erstbesten Job zu vermitteln und somit aus dem Leistungsbezug zu drängen? Welche Antworten finden die Nonprofits auf so genannte sozialstaatliche Aktivierungsstrategien, die (mittlerweile wieder) zwischen "würdigen" und "unwürdigen" Armen unterscheiden und den Individuen die Hauptverantwortung für die Bewältigung ihrer Erwerbslosigkeit übertragen?

Beschäftigungspolitisches Vorbild USA

Vor einigen Jahren reisten deutsche Politiker- und Expertengruppen in die USA, um sich vor Ort vom arbeitsmarktpolitischen Erfolg eines Wohlfahrtsmodells inspirieren zu lassen, das seit 1996 keinen individuellen Rechtsanspruch auf eine staatliche Mindestsicherung mehr kennt. Seitdem sich herumgesprochen hat, dass auch im Jobwunderland die rigiden Welfare-to-Work-Strategien, in deren Zentrum vor allem allein erziehende Mütter stehen, mit erheblichen gesellschaftlichen Folgekosten verbunden sind, ist es um die US-amerikanischen sozialpolitischen Vorbilder in der deutschen Debatte wieder deutlich stiller geworden. Trotzdem überrascht, mit welcher Geschwindigkeit sich bestimmte Argumentations- und Handlungsmuster in den letzten Jahren angeglichen haben, die den Umbau des Sozialstaats in Richtung eines aktivierenden Staats forcieren, in dem Arbeit wieder offener als Instrument sozialer Kontrolle zum Einsatz kommt und ein neuer Paternalismus* sich wachsender Akzeptanz erfreut. Die Orientierung am Niedriglohnsektor als Lösung des Beschäftigungsproblems, die härtere Sanktionierung von Transferleistungsbezieher/innen bei Ablehnung einer "zumutbaren Arbeit", die Abkehr von Maßnahmen des so genannten Zweiten Arbeitsmarkts, die geplante Einführung kommunaler JobCenter, die Adaption von Fallmanagement und Empowerment-Strategien, aber auch der Bedeutungsgewinn von räumlichen Ansätzen in der lokalen Sozialpolitik (Stichwort: Quartiersmanagement) sind in der Bundesrepublik die augenfälligsten Indikatoren für eine nachholende Annäherung an internationale Trends.

Konzentration von Armut

Sowohl Los Angeles als auch Berlin gehören in ihren jeweiligen Ländern zu den Orten mit der höchsten Sozialhilfequote. Beide Städte haben sich zu Einwanderungszentren und auch zu Armutsmetropolen entwickelt, in denen Nonprofits zunehmend einen wichtigen Teil der sozialen Infrastruktur stellen. Wie die Stadtforschung zeigt, haben sich die über urbane Arbeits- und Wohnungsmärkte vermittelten sozialen Spaltungen und Desintegrationsprozesse in beiden Städten in den letzten beiden Jahrzehnten rasant verstärkt. Los Angeles illustriert zudem einen in zahlreichen US-Metropolen vorherrschenden Trend: Parallel zum allgemeinen ökonomischen Aufschwung und zu erhöhten Beschäftigungsquoten seit Mitte der 1990er Jahre wächst die Einkommensarmut und hat neben den innerstädtischen "Problemquartieren" auch die ehemals mittelständischen Vororte erfasst. Während die registrierte Arbeitslosigkeit in Los Angeles zwischen 1983 und 2004 von 9,7% auf 6,1% zurückging und sich die Zahl der Sozialhilfeempfänger zwischen 1995 und 2003 nahezu halbierte, stieg der Anteil der Bevölkerung, der unter der offiziellen Armutsgrenze lebt, zwischen den beiden Volkszählungen 1990 und 2000 von 13,1% auf 22,1% an. Von Armut trotz Erwerbstätigkeit sind in der zweitgrößten Stadt der USA, gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil, überproportional stark Latinos, neue Einwanderergruppen, allein erziehende Frauen und Geringqualifizierte betroffen. Dagegen zählen in der Bundesrepublik eine überdurchschnittlich hohe Sozialhilfequote und Langzeitarbeitslosigkeit unter der Bevölkerung nach wie vor zu den zentralen Indikatoren besonders armer und "benachteiligter" Regionen und Quartiere. In Berlin, dessen gesamtstädtische Arbeitslosenquote seit der Wiedervereinigung kontinuierlich angestiegen ist und zu Beginn des Jahres 2004 bei etwa 18% lag, findet sich Armut auf Grund anhaltender Erwerbslosigkeit vor allem in den innerstädtischen Bezirken. Fast die Hälfte aller Arbeitslosen hat keine abgeschlossene Berufsausbildung. Auch in Berlin verweisen die besonders hohen Arbeitslosenquoten unter Migrant/innen und ausländischen Jugendlichen auf eine zunehmende ethnische Konzentration von Armut.

Ansprüche können nicht erfüllt werden

Während in beiden Städten also ähnliche Personengruppen unter Einkommensarmut zu leiden haben, kennzeichnen fehlende Arbeits- und Ausbildungsplätze und die unter dem Bundesdurchschnitt liegenden ökonomischen Wachstumsraten die Berliner Beschäftigungskrise. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit stehen in Berlin über 300.000 Arbeit Suchenden nur etwa 5000 gemeldete offene Stellen gegenüber. Das beeinträchtigt die Aussichten einer "aktivierenden" Sozialhilfe- und Arbeitsmarktpolitik, eine nennenswerte Gruppe von Hilfeempfänger/innen ausschließlich über intensivierte Vermittlungsbemühungen und angebotsfixierte Instrumente in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis zu bringen und stellt somit zahlreiche Nonprofits vor schier unlösbare Probleme. In den USA, in denen sich die großstädtischen Arbeitsmärkte wie in Los Angeles in den 1990er Jahren auch für Geringqualifizierte als enorm aufnahmefähig erwiesen haben, sind dagegen niedrige, nicht-existenzsichernde Löhne und prekäre Arbeitsbedingungen die entscheidenden Herausforderungen, die von Nonprofits und kommunalpolitischen Akteuren der Beschäftigungspolitik mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln nur mit erheblichem Aufwand zu beeinflussen sind.

Im Ganzen werden in der Literatur sehr weit reichende normative Maßstäbe an die Praxis von Nonprofits angelegt, die mit ihrem Alltagshandeln oft nur wenig zu tun haben. So sehr verschiedene theoretische Konzeptionen den Blick geöffnet haben für die Sphäre jenseits der "offiziellen Politik" und der etablierten Wohlfahrtsverbände, so sehr vernachlässigt ein großer Teil von ihnen die veränderten politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen, unter denen sich Nonprofits heute bewähren müssen. Dazu gehören im Kontext von Privatisierungstendenzen die härtere Konkurrenz zwischen etablierten (eher staatsnahen) Organisationen, kleineren freien Trägern und kommerziellen Dienstleistungsunternehmen, gestiegene Effizienzanforderungen und in unserem spezifischen Untersuchungsfeld die zunehmend einseitige Ausrichtung von Beschäftigungsförderung an "Arbeit um jeden Preis". Immer unübersehbarer wird die Lücke, die zwischen theoretischen Ansprüchen einer stärkeren Bürgerbeteiligung und Demokratisierung der Politik, der Pflege kleinteiliger Solidaritäten und Netzwerke auf lokaler Ebene und einer fehlenden Gesamtkonzeption sowie Utopie für neue, nachhaltige und sozial gerechte Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialbeziehungen klafft.

Weniger fördern, mehr fordern

Das Leitbild des "aktivierenden Staats" hat sich in der Auseinandersetzung um die Zukunft der bundesdeutschen Sozialhilfe- und Arbeitsmarktpolitik nicht nur ideologisch als außerordentlich anschlussfähig erwiesen, sondern beeinflusst seit Mitte der 1990er Jahre auch zahlreiche Gesetzes- und Verwaltungsreformen, die den Rahmen kommunalpolitischen Handelns bestimmen. In den USA markiert ein Gesetz von 1996 am deutlichsten die Abkehr von einem Rechtsanspruch auf staatliche Unterstützung in Notlagen und den Rückzug aus traditionellen Ansätzen bei der Armutsbekämpfung. In der Bundesrepublik werden Leistungen und Aufgaben des Sozialhilfe- und Arbeitsförderungsrechts sowie die so genannten Mitwirkungspflichten Erwerbsloser vor allem über die Umsetzung der Hartz-Gesetze und die "Agenda 2010" in ein neues Verhältnis gebracht. Während die USA beanspruchen können, ihr System der Einkommenshilfen unter den westlichen Wohlfahrtsstaaten am konsequentesten mit der Erwerbsarbeit verbunden zu haben, lässt sich auch in der Bundesrepublik eine Umorientierung sozialpolitischer Theorie und Praxis erkennen. Zu der vorherrschenden Problemdefinition gehört inzwischen auch hier zu Lande die in den USA populär gewordene These von einer individuell und gesellschaftlich schädlichen "Armuts- und Abhängigkeitskultur", die von falschen Anreizen zu großzügig ausgestatteter staatlicher Transfer- und Lohnersatzleistungen gefördert würde. Im Kern zielen alle wesentlichen Maßnahmen und Instrumente, die in beiden Ländern unter dem Dach der "Aktivierung", der "Hilfe zur Selbsthilfe" oder "der Stärkung von Eigenverantwortung" firmieren, auf eine Neugewichtung sozialer Rechte und Pflichten zulasten der Hilfeempfänger/innen. Entgegen der gängigen Vorstellung, es käme im Zuge der Neustrukturierung der sozialen Sicherungssysteme unter dem Stichwort "Fördern und Fordern" auch zu einem nennenswerten Ausbau der Sozialinvestition, weist die Empirie in unseren beiden Untersuchungsländern und -städten eher auf einen Rückgang sozialstaatlicher Aufwendungen für Weiterbildung, Qualifizierung und sozialintegrative Angebote für Erwerbslose hin. Daran haben auch die in der Bundesrepublik in den letzten Jahren neu aufgelegten Programme zur Förderung von "Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf" nichts geändert.

Bearbeitung und Zwischenüberschriften durch die Redaktion.

Nonprofit-Organisationen

Als charakteristisch für die Nonprofits bzw. Freie Träger gilt die formelle Strukturierung der Organisationen, ihre organisatorische Unabhängigkeit vom Staat, eine fehlende Gewinnorientierung und die Bedeutung freiwilliger Beiträge (Spenden, ehrenamtliche Arbeit). Zu solchen Organisationen gehören etwa die Wohlfahrtsverbände wie die Caritas oder die Arbeiterwohlfahrt, aber auch kleinere Organisationen wie einer der größten Arbeitgeber in Kreuzberg, die LowTec gGmbH; auch bei Kindertagesstätten oder Altenheimen sind freie Träger tätig. Sie arbeiten im kulturellen sowie sozialen Bereich und sind in der aktiven Beschäftigungspolitik tätig. Allein in Berlin gibt es mehr als 1000 Träger, die gemeinnützige und zusätzliche Arbeit leisten und so wesentliche Teile von Berlins Infrastruktur mit Hilfe von Erwerbslosen aufrechterhalten.

Vorabdruck aus:

Volker Eick/Britta Grell/Margit Mayer/Jens Sambale: Nonprofit-Organisationen und die Transformation der lokalen Beschäftigungspolitik,
Verlag Westfälisches Dampfboot: Münster 2004, 330 Seiten, 24 Euro.
Erscheint im November/ Dezember 2004.

Veranstaltungshinweis:

Erst nach Veröffentlichung des MieterEchos erschien das Programm einer Konferenz mit dem Titel "(Social) Housing Companies and Labor Market (Re)Integration - A Comparison between North America and Germany" - International Conference, November 19th – 21th. 2004 in Berlin. Sie können das Programm als PDF herunterladen. Weitere Informationen unter www.workfare-city.org

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